Radioaktive Glut: Tschernobyl auf dem Weg zur nächsten Katastrophe?

19.05.2021 | Jan Becker
None
Foto: Alexander Tetsch

35 Jahre nach der Havarie im ukrainischen Tschernobyl-Reaktor wurde in einer verschütteten Kammer eine sich offenbar selbstverstärkende Kettenreaktion gemessen. Details sind unklar. Möglicherweise bahnt sich Jahrzehnte nach der Katastrophe ein nächster Unfall an.

Wohl schon seit vier Jahren registrieren Sensoren in der Kammer „305/2“ unter dem zerstörten Reaktorbehälter eine Verdoppelung der Neutronenaktivität, berichten die Wissenschaftsnachrichten „LiveScience“. Tonnen von „radioaktiver Lava“, einer Mischung aus geschmolzenem Uranbrennstoff, Metallteilen und Sand, der bei den verzweifelten Löschversuchen 1986 aus Hubschraubern auf den offenen Reaktor abgeworfen wurde, waren damals in die Keller des Reaktors geflossen. Die Angst vor neuen, selbsterhaltenden Kernspaltungen ist nicht neu. Doch weder die Ursache noch Konsequenzen dieser möglicherweise selbstverstärkenden Kettenreaktionen im geschmolzenen Kernbrennstoff konnten bisher geklärt werden. Betroffen davon sind offenbar mehrere Bereiche.

Neil Hyatt, Professor für Nuklearenergie und Ingenieurwesen an der englischen Universität von Sheffield, nennt die aktuellen Daten „glaubhaft und plausibel“ und spricht in dem Science-Artikel vom 5. Mai von „Glut wie in einer Feuergrube“. Laut Hyatt könnten sich die Spaltreaktionen „exponentiell beschleunigen“. Eine Entzündung sei möglich, eine Explosion könne nicht ausgeschlossen werden. Es gäbe „einige Unklarheiten“, sagt auch Maxim Saveliev, leitender Forscher am Institut für Sicherheitsprobleme von Atomkraftwerken in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Die Möglichkeit eines Unfalls könne „nicht ausgeschlossen“ werden, warnt Saveliev. Die Situation spitze sich aber langsam zu, man habe „einige Jahre Zeit“. Die Ukraine „arbeite an einer Lösung“, heißt es. Zudem sei es auch möglich, dass die Kernspaltung von allein zum erliegen komme.

Der betroffene Bereich unter dem explodierten Reaktor ist ein gigantischer Schuttberg und unzugänglich. Die hohen Strahlungswerte lassen es nicht zu, in den Räumen darunter weitere Meßgeräte zu installieren. Diskutiert wird deshalb über die Konzeption eines speziellen Roboters.

Folgenbewältigung so unklar wie gigantisch

Mit einem enormen Aufwand wurde eine neue Schutzhülle, das „New Safe Confinement“, für den zerstörten Reaktor gebaut. Es handelt sich um das weltweit größte, fahrbare Bauwerk, 1,5 Milliarden Euro teuer, das seit 2016 eine weitere Freisetzung von Radioaktivität über 100 Jahre lang verhindern soll. Käme es aber zu einer Explosion im Keller, könnte es zu einer „unkontrollierten Freisetzung von Atomenergie“ kommen, warnen nun die Wissenschaftler. Selbst wenn das Ereignis auf den Bereich unter der Schutzhülle beschränkt bliebe, würde der Plan den Meiler darunter irgendwie, irgendwann abzubauen, erheblich erschwert werden.

Was aktuell bleibt, ist eine Überwachung der Situation. Und das Eingeständnis, dass auch 35 Jahre nach dem GAU die von der Ruine ausgehende Gefahr nicht gebannt ist. Diese Unbeherrschbarkeit schwerer AKW-Unfälle muss eine Mahnung und Warnung für die ganze Welt sein, Atomkraftwerke umgehend abzuschalten.

Tschernobyl verkommt zu einem „medialen Mythos“

Stattdessen ist der bis zur Fukushima-Katastrophe 2011 schwerste Reaktorunfall weltweit zu einem „medialen Mythos“ geworden. Eine erfolgreiche britisch-amerikanische Filmserie führte in den letzten Jahren zu einem skurrilen Tourismus in die ukrainische Sperrzone, beklagt Matthias Eickhoff von der Initiative „Sofortiger Atomausstieg Münster“. Auch wenn die nachgestellten Filmsequenzen des GAU (kurz) aufrütteln, lenken sie von den eigentlichen Herausforderungen ab.

Die Folgekosten werden sich in den nächsten Jahrzehnten auf wahnsinnige Beträge summieren. Ein technischer Abbau der verstrahlten Ruine ist unklar, eine langfristige Lagerung des Materials völlig offen. Die von der Strahlung betroffenen Menschen werden vielfach allein gelassen und Folgeerkrankungen nicht anerkannt. Regionale Waldbrände wirbeln radioaktive Partikel immer wieder auf. Neueste Studien zu den Auswirkungen der Atomkatastrophe zeigen, dass Niedrigstrahlung nach Atomunfällen nicht nur Krebserkrankungen, sondern auch schwere Nicht-Krebserkrankungen und Auswirkungen auf das Erbgut verursachen, berichtet die internationale Ärzt*innenorganisation IPPNW anlässlich des 35. Jahrestages der Katastrophe Ende April.

„Doch die Erkenntnisse der letzten 35 Jahre sprechen eine klare Sprache“, so die IPPNW-Vorsitzende Dr. med. Angelika Claußen. Die Atomlobby stellt wirtschaftliche Interessen willentlich über die der Gesundheit.

„Der Super-GAU von Tschernobyl wird auf vielen Ebenen weiter negiert und klein geredet“, beklagt auch Eickhoff.

Statt der Ukraine bei einem Umstieg auf erneuerbare Energien zu helfen, lässt die deutsche Regierung die Belieferung ukrainischer Alt-Reaktoren mit Uranbrennstoff aus Gronau und Lingen zu. Es sei heute „nötiger denn je, die Erinnerung an den Super-GAU wachzuhalten“, fordert Eickhoff. Auch Deutschland habe „noch längst nicht Lehren mit der nötigen Konsequenz“ aus der Tschernobyl-Katastrophe gezogen.

weiterlesen:

Vom Reaktor-GAU zum Welterbe?
06.01.2021 - Während sich in Fukushima die Schwierigkeiten um die Bewältigung des Super-GAU vor fast zehn Jahren zuspitzen, will die Ukraine die Region um Tschernobyl zum „Welterbe“ erklären lassen. Um Touristen in die verstrahlte Landschaft zu locken.

Tschernobyl: Eine teure Hypothek
29.04.2020 - Anlässlich des 34. Jahrestages der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) im Auftrag des Öko-Energieanbieters Greenpeace Energy die Folgekosten des GAUs allein für Deutschland berechnet.

34 Jahre nach dem GAU: Der radioaktive Wald brennt
09.04.2020 - Das Risiko nach einem Super-GAU ist nie vorbei - zumindest nach realistischer, menschlicher Zeitrechnung. Das zeigt sich jetzt in Tschernobyl, wo unkontrollierte Waldbrände herrschen. In Fukushima wurde eine „kollektive Bestrahlung“ vermutlich um ein Jahr verschoben.

Quellen (Auszug): sciencemag.org, telepolis.de, graswurzelrevolution

« Zur Blogübersicht
Jan Becker Profil-Bild

Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

blog via e-mail abonnieren
RSS-FEED
Blog als RSS-FEED abonnieren.
abonnieren »