„Atomkraft steht im Widerspruch zu Nachhaltigkeit“

05.11.2021 | Armin Simon
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Anika Leufen und Robert Balázs, Referent*innen beim Forum für Nachhaltige Geldanlagen, über die Bedeutung der EU-Taxonomie für die ökologische Transformation der Wirtschaft und den Schaden, den diese bei einer „grünen“ Einstufung von Atomkraft nehmen würde.

Frau Leufen, Herr Balázs, was sind nachhaltige Geldanlagen?
Geldanlagen, die explizit ökologische, soziale und bestimmte Aspekte der Unternehmensführung berücksichtigen, und bei denen dies auch schriftlich, etwa in den Anlageprospekten, festgelegt ist.

Gibt es bereits Regeln, was als „nachhaltig“ bezeichnet werden darf?
Eine einheitliche und allgemein anerkannte Definition gibt es noch nicht – nur Versuche verschiedener Akteure, eine solche zu etablieren. Das FNG setzt sich dafür seit Langem ein. Die Herausforderung liegt dabei in den Details.

Anika Leufen und Robert Balázs
Foto: FNG
Anika Leufen und Robert Balázs

Was ist der Hintergrund des Ganzen?
Mit dem Übereinkommen von Paris haben sich die Staaten das Ziel gesetzt, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen. Dafür muss sich auch die Wirtschaft ändern. Die EU hat für diese Transformation Sektoren mit besonderer Hebelwirkung identifiziert, die Europa bis 2050 in die Klimaneutralität führen sollen. Der „Green Deal“ der EU gibt einen ambitionierten Investitionsplan zur Erreichung dieser Ziele vor. Und die EU-Taxonomie als transparentes Klassifizierungssystem für Nachhaltigkeit soll dafür einen anerkannten Referenzrahmen schaffen. Sie ist deshalb ein zentrales Element für den nachhaltigen Übergang zu einer dekarbonisierten Wirtschaft.

 

Inwiefern betrifft das auch die Finanzbranche?
Eines der Ziele ist ja, Kapitalflüsse in nachhaltigere Bahnen zu lenken oder zu reorientieren. Die Finanzbranche ist seit Anfang des Jahres verpflichtet, Nachhaltigkeitsrisiken und ‑faktoren in ihre Anlageentscheidungen verbindlich einzubeziehen und ihre Nachhaltigkeitsstrategie, Ziele und Auswirkungen an Endanleger*innen zu berichten. Dazu müssen Investor*innen nachweisen, welchen Grad an Nachhaltigkeit die Aktivitäten, in die sie investieren, gemäß der EU-Taxonomie aufweisen.

Für wen oder was wird die Einstufung nach den Nachhaltigkeitskriterien der EU künftig wichtig sein?
Für professionelle und institutionelle Investor*innen und für Endanleger*innen – um zu wissen, wie nachhaltig ein Investment ist. Und für Unternehmen, die, wenn sie die Nachhaltigkeitskriterien erfüllen, zum Beispiel günstigere Finanzierungsmöglichkeiten erhalten.

Die entsprechende EU-Verordnung ist schon lange beschlossen. Nach welchen Grundprinzipien soll die Einstufung erfolgen?
Eine ökologisch nachhaltige Wirtschaftsaktivität gemäß der EU-Taxonomieverordnung soll einen wesentlichen Beitrag zu einem der sechs in der Taxonomie genannten Umweltziele leisten. Gleichzeitig darf eine nachhaltige Wirtschaftsaktivität aber keinen erheblichen Schaden bezüglich eines der anderen fünf Ziele anrichten – das ist das sogenannte „Do No Significant Harm“-Prinzip. Zusätzlich müssen Mindestschutzklauseln wie die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, die ILO-Kernarbeitsnormen oder der UN Global Compact eingehalten werden sowie gewisse technische Kriterien, Grenzwerte etc.

Um einige Details wird noch erbittert gerungen. Worum geht es dabei?
Um die technischen Bewertungskriterien, etwa, ab welchem Grenz- oder Schwellenwert, beispielsweise hinsichtlich der CO2-Emissionen, eine Wirtschaftsaktivität als nachhaltig angesehen werden kann oder nicht. Zudem soll eine die Taxonomie ergänzende „delegierte Verordnung“ definieren, welche Energieträger als nachhaltig angesehen werden oder nicht. Sowohl für Atom als auch für Erdgas ist diese Entscheidung noch nicht gefallen – weil da massive Interessen der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten dahinter stehen.

Frankreich und einige osteuropäische Länder drängen darauf, auch Atomkraft als „nachhaltig“ zu klassifizieren, weil AKW weniger Treibhausgas-Emissionen verursachen als fossile Kraftwerke. Teilen Sie diese Ansicht?
Nein. Um ein Zeichen der Sustainable-Finance-Branche gegen die Klassifizierung von Atomkraft als nachhaltige Wirtschaftsaktivität zu setzen, haben wir uns im August mit einem offenen Brief an die zuständigen EU-Kommissar*innen gewandt. Ein Ziel der Taxonomie etwa ist der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft – Atomenergie steht dazu klar im Widerspruch. Spätestens seit der Nuklearkatastrophe in Fukushima 2011, aber auch durch das ungelöste Problem der Atommüll-Lagerung, sollte klar sein, dass Atomkraft im Widerspruch zu Nachhaltigkeit steht.

Einer aktuellen Umfrage zufolge halten zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland ein Nachhaltigkeitslabel, das Atomkraft mit einschließt, für unglaubwürdig. Was bedeutet das für das geplante EU-Label?
Wir sehen die Gefahr, dass ein „grünes“ Label für Atomkraft die Glaubwürdigkeit und transformative Wirkung der EU-Bemühungen zu Sustainable Finance insgesamt gefährdet. Darauf haben wir auch in unserem offenen Brief hingewiesen.

Welche Folgen hätte es konkret, wenn Atomkraft und/oder Erdgas-Projekte als „grün“ klassifiziert würden?
Das würden die Förderung von neuen Technologien und den Ausbau Erneuerbarer Energien verlangsamen oder behindern. Erhebliche Summen würden weiter in Atom- und Erdgasprojekte fließen. Eine signifikante Umlenkung von Kapitalflüssen bliebe somit aus – die erwünschte Transformationswirkung könnte sich also nicht entfalten.

Wer entscheidet letztlich über die Kriterien und die Details?
Die EU-Kommission hat eine technische Expert*innengruppe (TEG) damit beauftragt, einen wissenschaftlich fundierten Vorschlag für technische Bewertungskriterien zu machen. Es folgt eine öffentliche Anhörung durch Konsultation, das Feedback wird eingearbeitet. Die EU-Kommission entscheidet dann über Annahme oder Ablehnung des finalen Berichts. Nach einer möglichen Annahme geht der Vorschlag an das EU-Parlament sowie den Rat, in dem die Vertreter*innen der Regierungen sitzen. Parlament und Rat müssen innerhalb von vier Monaten reagieren – per Annahme, Veto oder Beantragung einer zweimonatigen Verlängerung des Prüfungszeitraums („4+2-Regelung“). Aktuell liegt die von der Europäischen Kommission verabschiedete Delegierte Verordnung, welche die technischen Bewertungskriterien für die ersten beiden Umweltziele der Taxonomie vorsieht, dem Rat zur verlängerten Prüfung vor; das EU-Parlament hat ihr bereits zugestimmt. Die Verlängerung endet am 7. Dezember, dann wird diesbezüglich Klarheit herrschen – allerdings mit Ausnahme der Einstufung von Atomenergie und Erdgas. Weil diese nach wie vor strittig ist, wurde sie erst einmal ausgeklammert. Der delegierte Rechtsakt zum Umgang mit Atomenergie und Erdgas in der EU-Taxonomie wird im ersten Quartal 2022 erwartet.

Welche Einflussmöglichkeiten hat die Bundesregierung dabei?
Das Bundesumweltministerium hat sich, gemeinsam mit Österreich, Dänemark, Luxemburg und Spanien, in einem offenen Brief klar gegen die Klassifizierung von Atomenergie als nachhaltige Wirtschaftsaktivität positioniert. Vor allem aber kann die Bundesregierung natürlich im Rat Einfluss auf den politischen Aushandlungsprozess nehmen.

Interview: Armin Simon

Anika Leufen und Robert Balázs

Anika Leufen und Robert Balázs sind Referent*innen beim Forum für Nachhaltige Geldanlagen e.V. (FNG), dem Fachverband für Nachhaltige Geldanlagen in Deutschland, Österreich, Liechtenstein und der Schweiz. Das FNG repräsentiert über 220 Mitglieder, die sich für mehr Nachhaltigkeit in der Finanzwirtschaft einsetzen, und setzt sich seit 2001 für verbesserte rechtliche und politische Rahmenbedingungen für nachhaltige Investments ein. In einem offenen Brief an die EU-Kommission warnte es unlängst davor, Atomkraft als „nachhaltig“ einzustufen.

forum-ng.org

Dieses Interview erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 53 (Nov./Dez. 2021/Jan. 2022)

weiterlesen:

  • FAQ: Fragen und Antworten zum Atomkraft- und Gas-Streit im Zusammenhang mit der EU-Taxonomie findest Du unter ausgestrahlt.de/eu-taxonomie
  • EU-Taxonomie: Kampf um die Pfründe
    11.05.2021: In der sogenannten Taxonomie will die EU definieren, welche Wirtschaftstätigkeiten als nachhaltig anzusehen sind. Pro-Atom-Lobbygruppen und atomfreundliche Länder kämpfen mit aller Macht darum, dass auch Atomkraft dieses begehrte Label bekommt. Deutschland könnte das verhindern, will aber dasselbe für fossiles Gas erreichen. Es droht ein fataler Kuhhandel.
  • Die richtig schmutzigen Atom-Deals: EU-Taxonomie mit Hintertür für Atomkraft
    24.3.2021: Zusammengefasst: Es fliegen die Fetzen und die Atomlobby drängt weiter darauf, dass Atomkraft als nachhaltig eingestuft wird. Denn wenn die neuen europäischen Kriterien für grünes Investment, die EU-Taxonomie, die Hochrisikotechnik endgültig ausschließen würde, würde das für die Atomlobby nicht nur PR-Schäden bedeuten, sondern vor allem finanzielle Einbußen.
  • Europäischer Atomstreit
    4.2.2020: Atom-Fans in der EU versuchen, Atomkraft Zugang zu günstigen Krediten und Fördertöpfen zu verschaffen. Atomkritische Staaten halten dagegen. Heraus kommen bisweilen Kompromissformeln, die den Streit weiter vertagen.
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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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