Der letzte Dinosaurier

28.12.2021 | Jan Becker
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Foto: Cryonic07 / CC-BY-SA-3.0

Während in Deutschland in Kürze drei weitere Atomkraftwerke außer Betrieb genommen werden, hat nun Finnland ein „neues“ AKW gestartet. Die Bilanz des ersten europäischen Druckwasserreaktors, dessen Konzept vor mehr als einem Jahrzehnt als „hochsicher“ ein neues nukleares Zeitalter einläuten sollte, ist ein Desaster.

Es war ein „Historical moment“, bekannte die finnische Betreibergesellschaft Teollisuuden Voima Oyj (TVO) am 21. Dezember, als um 3.22 Uhr in der Nacht Reaktorblock 3 am Standort Olkiluoto gestartet wurde. Ende Januar soll die Stromlieferung ins öffentliche Netz beginnen, die volle Leistung von 1650 Megawatt werde im Juni erreicht.

„Ist Olkiluoto 3 der letzte Dinosaurier der Atomkraft oder der Beginn einer Renaissance für diese umstrittene Energieproduktion?“, fragt Bruno Kaufmann, Nordeuropa-Korrespondent des Schweizer Radio und Fernsehen (SRF).

Es handelt sich um die erste Inbetriebnahme eines neuen Reaktors in Finnland seit 40 Jahren und die erste in Europa seit dem Start des rumänischen Reaktors Cernavoda Block 2 in 2007. Grundsätzlich ist Olkiluoto-3 aber der erste „Europäische Druckwasserreaktor“ (EPR), der in Europa den Betrieb aufgenommen hat. Das Projekt, mit dem die größten Reaktorbauer Europas ihre Kompetenz demonstrieren wollten, ist mittlerweile zum Milliardengrab geworden.

Das EPR-Reaktormodell wurde damals gemeinsam von AREVA und Siemens entwickelt und sollte nach der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 der Atomenergie zu einem neuen Durchbruch verhelfen. Es galt: mehr Leistung bei mehr Sicherheit. Die große Erneuerung, die den Meiler „besonders sicher“ machen soll, sind nicht nur dickere Wände, sondern auch ein „Core Catcher“. Diese Wanne unter dem Reaktor solle das Corium nach einer Kernschmelze auffangen – und verhindern, dass sich der Brennstoffbrei durch die Bodenplatte in Richtung Grundwasser frisst...

Doch die Probleme kamen nicht erst mit dem GAU von Fukushima und damit verbundenen politisch angeordneten, zusätzlichen Sicherheitsauflagen. Ursprünglich sollte Olkiluoto-3 nämlich schon 2009 in Betrieb genommen werden. Der Bau war bereits 2002 beschlossen worden, Finnland damit das erste Land in Europa, das nach der Katastrophe von Tschernobyl wieder ein neues AKW plante. Auf der Suche nach einem geeigneten Standort für einen ersten EPR hatten Siemens/AREVA Finnland mit einem Festpreis geködert: „schlüsselfertig“ für etwa 3 Milliarden Euro. Im Jahr 2005 begann der Bau – und schon im ersten Jahr kam es zu erheblichen Verzögerungen, u.a. wegen fehlerhaften Fundamenten. „Das grundlegende Reaktordesign war zwar fertig, die Detailpläne aber nicht“, berichtete 2020 Deutschlandfunk zu den Ursachen für die Verzögerungen. Deshalb musste ständig weiter geplant werden und die Bauarbeiten benötigten viel mehr Zeit als erwartet. „Schließlich ist das hier ja das erste Atomkraftwerk in Westeuropa nach einer rund 20-jährigen Pause.“ Die Folge: Für wichtige Bauteile gab es keine ausreichend zertifizierten Zulieferer mehr.

Als 2009 – das Jahr der angekündigten Inbetriebnahme – die geschätzten Baukosten auf 5,47 Milliarden Euro angestiegen waren und eine Inbetriebnahme nicht in Sicht, entbrannte der erste große, juristische Streit. Wegen der hohen finanziellen Risiken und wegen öffentlichen Drucks aus Deutschland stieg Siemens aus dem Projekt aus, verkaufte seine Nuklearsparte direkt nach der Katastrophe von Fukushima 2011 an Frankreich – lieferte aber „konventionelle Kraftwerkstechnik“ nach Olkiluoto. 2015 betrugen die geschätzten Baukosten schon neun Milliarden Euro. In die Bilanz des französischen Atomkonzerns wurden Ende 2014 mehr als 4 Milliarden Euro Verlust verbucht. Unter anderem wegen der Misere in Finnland und einem vergleichbaren Bauprojekt in Flamanville, Frankreich, musste AREVA 2016 mit Milliardenhilfen vom Staat gerettet werden - Hoffnungen kamen auf, dass damit auch das Ende für das Prestigeprojekt Olkiluoto besiegelt wird.

Doch zuletzt konnten auch Probleme bei Tests und Ersatzteilen und die Covid-19-Pandemie den Meiler nur weiter verzögern – aber nicht stoppen: Im Frühjahr 2021 wurden deutsche Brennelemente aus Lingen in den Reaktor geladen. Das Projekt sorgte für mehrere finnische Regierungskrisen und wird noch lange Gerichte wegen Schadensersatzforderungen beschäftigen. Die Fertigstellung dauerte 13 Jahre länger als geplant und kostet etwa 10,5 Milliarden Euro. Doch möglicherweise fangen mit der Inbetriebnahmde andere Probleme erst an:

"Abnormal hohe Vibrationen" in Taishan

Die weltweit ersten in Betrieb genommenen EPR-Reaktoren stehen im chinesischen Taishan. Auch 2009 mit dem Bau begonnen, nahm Block 1 schon 2018 den Betrieb auf, Block 2 folgte im September 2019. Nach nur 2,5 Jahren Laufzeit ist Block 1 seit Ende Juli 2021 vom Netz. Nach mysteriösen und zunehmenden Gasfreisetzungen aus defekten Brennelementen seit April verdichten sich dank Informationen eines Whistleblowers Hinweise auf einen Konstruktionsfehler, der die gesamte EPR-Reihe betrifft. Es gebe neben ungewöhnlich stark korrodierten Brennstabhüllen „abnormal hohe Vibrationen“ im primären Kühlkreislauf, die auf eine „ungünstige Verteilung des Kühlwassers“ zurückzuführen seien. Folge könnte ein Rohrbruch im Primärkreislauf sein, der mit erheblichen radioaktiven Freisetzungen verbunden ist. Im August begann die Brennstäbe-Entladung. Niemand weiß, wann bzw. ob der Reaktor jemals wieder starten kann.

Einen „Historical mistake“ nennt deshalb Roger Spautz von Greenpeace Luxemburg die Inbetriebnahme von Olkiluoto-3. „Können die Ausschließen, dass sie einen Konstruktionsfehler haben?“, fragt Martin Litschauer, Abgeordneter im österreichischen Nationalrat den Olkiluoto-Betreiber.

Soll das die künftige Energieversorgung in der EU sein?

Schon 2020 skizzierte der Sprecher von Greenpeace Finnland, Juha Aromaa, einen Vergleich zu Dänemark: Die finnische Elektrizitätswirtschaft würde viel besser dastehen, wenn die Milliarden nicht in den Reaktor, sondern in erneuerbare Energien geflossen wären. Finnland und Dänemark seien ungefähr vergleichbar, beide Länder haben etwa gleich viele Einwohner*innen und Anfang der 1980er Jahre ungefähr gleich viele Kohlekraftwerke. „Die Dänen haben sich dann für Windkraft entschieden, wir für Atomkraftwerke. Und die Dänen sind die Kohle viel schneller los geworden als wir. Am Ende war ihr Weg weit effektiver“, so Aromaa im Deutschlandfunk mit Blick auf Klimaschutz.

Derzeit sind sich (fast) alle Entscheidungsträger*innen einig, dass für effektiven Klimaschutz dringend die Weichen für den Ausbau einer nachhaltigen Energieversorgung gestellt werden müssen. Die EU-Kommission ringt um eine Klassifizierung, welche Kraftwerke künftig als „grün“ gelabelt werden dürfen - und damit besonders gefördert werden sollen. Nach Meinung einiger EU-Staaten soll Atomenergie dazugehören. Das Beispiel Olkiluoto verdeutlicht: Was so lange dauert und so teuer ist, das macht für das Klima keinen Sinn. Mit dem gleichen Geld hätte man in viel kürzerer Zeit viel mehr für den Klimaschutz erreichen können, ohne künftig all die Gefahren der Atomkraft in Kauf nehmen zu müssen. Jeder Euro, der in Atomenergie investiert wird, der fehlt für einen effektiven Klimaschutz.

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09.12.2021 - Als Antwort auf Tschernobyl begann 1989 die Entwicklung eines Reaktors der dritten Generation. Der Europäische-Druckwasser-Reaktor EPR hat in Europa noch keine Kilowattstunde erzeugt. Trotz multipler Desaster zog niemand die Reißleine. Nun enthüllt ein Whistleblower einen System-Fehler, der das Ende des EPR sein müsste.

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Quellen (Auszug): faz.net, stern.de, deutschlandfunk.de, heise.de, de.wikipedia.org

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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