„Wie ein Kartenhaus“

14.02.2022 | Armin Simon
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Foto: Holger Müller

Atomindustrie-Experte Mycle Schneider über die massiven Probleme der Atomenergie in Frankreich, die Pläne für neue Reaktoren und die Realitätsverweigerung der Politik

Herr Schneider, der Atomstromanteil in Frankreich war 2020 so niedrig wie seit 35 Jahren nicht mehr, die AKW-Ausfälle häufen sich, der Betreiber EDF ist extrem verschuldet, das einzige Neubauprojekt seit 14 Jahren in Bau und immer noch ohne absehbares Ende. Die französische Regierung aber hält um jeden Preis weiter an Atomkraft fest. Wie passt das zusammen?
Mycle Schneider: Der Graben zwischen Berichterstattung, öffentlicher Wahrnehmung und Wahrnehmung der Entscheidungsträger auf der einen Seite und der Realität der Atomkraft in Frankreich und anderswo auf der anderen Seite ist atemberaubend. Ich arbeite jetzt seit 40 Jahren zu dem Thema, aber so eine Realitätsverweigerung habe ich noch nie erlebt.

Inwiefern?
Der französische Atomsektor ist wie ein Kartenhaus: Fällt auch nur eine Karte, kann das ganze System zusammenbrechen. Nur nimmt das bisher niemand wahr, weder die Entscheidungsträger noch die Öffentlichkeit. Nehmen wir die AKW selbst: Die 56 Reaktoren sind im Schnitt bereits 36 Jahre am Netz. Wir haben schon jetzt Situationen, in denen ein Drittel wegen technischer Probleme gleichzeitig stillliegen, sogar mitten im Winter, wenn der Strombedarf aufgrund der vielen Elektroheizungen drastisch ansteigt. In den vier Wochen vor Weihnachten etwa musste Frankreich jeden Tag massiv Strom importieren, netto bis zu 13 Gigawatt – die 61-Gigawatt-AKW-Flotte lieferte nie mehr als 45 Gigawatt. Und die wirklich kalten Monate kommen ja erst noch. Frankreich bibbert buchstäblich jeden Winter, dass nicht noch mehr Reaktoren ausfallen.

Wie sieht es mit dem Atommüll aus?
Die Abklingbecken an den AKW sind randvoll, im Schnitt ist da gerade noch Platz für ein Jahr. Auch in der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague ist kein Platz mehr: Aus Sicherheitsgründen steht ein ganzes Abklingbecken zur Zeit nicht zur Verfügung. Zugleich stockt der Abtransport des Plutoniums, denn auch die Produktion von MOX-Brennelementen funktioniert nicht normal, weswegen auch dem Plutoniumbunker nun Überfüllung droht – zumal noch jede Menge mangelhafte MOX-Pellets nach La Hague zur erneuten Wiederaufarbeitung zurückkommen, die frisches Plutonium enthalten. Und in der WAA selbst sind die Verdampfer kaputt, einer der sechs ist schon komplett ausgefallen, der Durchsatz der Anlage sinkt. Was wiederum heißt, dass die Lagerbecken nicht so schnell geleert werden …

Das Atom-System droht am eigenen Müll zu ersticken?
An allen Ecken und Enden gibt es Druck. Wenn die WAA nicht mehr funktioniert, müsste man sehr schnell Reaktoren abstellen, weil es keinen Platz mehr für die abgebrannten Brennelemente gibt. Liegen Reaktoren längere Zeit still, fällt umgekehrt ein Teil des Absatzes für MOX-Brennelemente und damit des Plutoniums weg, was wiederum die WAA zum Erliegen bringen könnte. Schließlich hat sich Frankreich international einmal verpflichtet, kein abgetrenntes Plutonium in industriell unnötigen Mengen auf Halde zu legen.

Laut Präsident Macron hängt die ökologische, die strategische und die wirtschaftliche Zukunft Frankreichs von der Atomkraft ab, deren zivile und militärische Nutzung untrennbar sei.
Dieser Mythos ist tief verankert in der französischen Politik und der Eliten-Technokratie, die hier die Atompolitik ausrichtet, umsetzt und kontrolliert. Dieses System ist immun gegen jede Form kritischer Analyse. Darüber hinaus gibt es auch einen klaren Willen, der Öffentlichkeit nicht die Realität darzustellen. Ein Beispiel ist das durch ein Leak öffentlich gewordene Regierungspapier von Oktober 2021, offensichtlich erstellt von einer interministeriellen Arbeitsgruppe, die sich den Stand und die Perspektiven eines „EPR2“ angeschaut hat.

EPR2? Was soll das sein?
Das Nachfolgeprojekt zum „Europäischen Druckwasserreaktor“ (EPR), der in Flamanville in Bau ist und mal ein Exportschlager werden sollte. Selbst für die französischen Atom-Technokraten ist der aber offensichtlich abgehakt …

 … weswegen nun ein neuer Reaktortyp her soll?
Ja. Und die Kostenprognosen von EDF für diesen Reaktor, für den noch nicht einmal nachgewiesen ist, dass er überhaupt baubar ist – dieser Term „constructible“ steht wirklich in dem Dokument – sind innerhalb eines Jahres bereits um 13 Prozent gestiegen – und das beim derzeitigen Entwicklungsstand, der lediglich eine grobe Auslegung („Basic Design“) umfasst. Allein für den nächsten Entwicklungsschritt, um überhaupt zu einem etwas detaillierteren Entwurf zu kommen, sind 20 Millionen Ingenieursstunden veranschlagt. 19 Millionen Stunden davon stehen noch aus. Und so weiter. Das ganze 12-Seiten-Papier ist voll von solchen Punkten.

Alle Energie-Szenarien in Frankreich gehen bisher davon aus, dass die ersten neuen AKW 2034/35 ans Netz können. Ist das auch der interne Zeithorizont?
Nein, das geleakte Papier schmeißt das alles über Bord. Ihm zufolge könnte ein erster EPR2, selbst für den Fall, dass alles gut läuft, frühestens 2039 ans Netz gehen, wenn es etwas schlechter läuft, auch erst 2043 – der erste, wohlgemerkt! Ich meine, wir reden über Klimanotstand, Gaspreise, hohe Energiepreise – und als Argument wird dann gebracht, man müsse schnell neue AKW bauen. Das hat allein vom Zeithorizont her mit der Realität nichts mehr zu tun. Davon abgesehen muss man sich ja immer die Frage stellen: Wenn ich heute einen Euro investiere, wie schnell kann der dann wie viele Emissionen reduzieren? Auch da rangiert Atomkraft auf dem letzten Platz. Diese Debatte hat ein wirkliches Wahrnehmungsproblem …

… oder schlicht ein anderes Ziel?
Es geht vor allem um die Aufrechterhaltung des Mythos. Das ist dasselbe bei den SMR, den Mini-Reaktoren, über die jetzt alle reden. Da geht es auch nicht darum, dass das einen realistischen Kontext hätte, das sind vor allem Phantomprojekte. Aber wenn es auch die nicht mehr gibt, dann stirbt die Atomindustrie definitiv viel schneller.

Nochmal zurück in die Realität: Zwei Drittel des französischen Stroms kommen immer noch aus AKW, der Ausbau der Erneuerbaren erreicht nicht mal die niedrigen selbst gesteckten Ziele der französischen Regierung. Worauf läuft das hinaus?
EDF wird vor allem versuchen, die Laufzeit der bestehenden Reaktoren erneut zu verlängern. Ökonomisch, auf dem Papier, hat der Konzern das bereits getan, damit er nötige Rücklagen über einen längeren Zeitraum bilden kann. So hat er seine Bilanz verschönt.

Und real?
Die Aufsichtsbehörde hat für eine Verlängerung zwar prinzipiell grünes Licht gegeben. Ob und unter welchen Auflagen ein Reaktor aber tatsächlich weitere zehn Jahre laufen darf, muss für jede Anlage gesondert nach einer vertieften Sicherheitsüberprüfung entschieden werden. Das entsprechende Verfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung dazu hat noch in keinem Fall stattgefunden.

Ist angesichts der Versorgungssituation nicht zu befürchten, dass die Reaktoren in jedem Fall weiterlaufen – Sicherheitszustand, Genehmigung und Auflagen hin oder her?
Die Abhängigkeit von den AKW ist in der Tat ein Problem. Fällt das Thermometer im Winter um ein Grad Celsius, steigt der Strombedarf um 2,4 Gigawatt, das entspricht zwei großen Reaktoren.

Mit welchen Kosten müsste EDF für eine Laufzeitverlängerung rechnen?
Das hängt sehr vom geforderten Sicherheitsstandard ab. Der französische Rechnungshof rechnet – auf Basis von EDF-Zahlen – allein für den Zeitraum 2014–2030 mit 100 Milliarden Euro an Nachrüstkosten. Es geht also um richtig viel Geld.

Hat Macron deshalb so mächtig Druck gemacht, Atomkraft im Rahmen der EU-Taxonomie als „nachhaltig“ zu labeln?
Nicht nur. Frankreich hat ja seit den 1950er Jahren mit Atomtechnologie Geopolitik gestaltet. Und Atomkraft ist ein wunderbares Motiv, um Allianzen mit anderen EU-Staaten zu bilden, insofern gehört das zu Macrons Europastrategie. Aber natürlich geht es auch ums Geld: EDF und Frankreich hilft jede Milliarde, die dank dieses Labels im Atomsektor landet. Nur: Die enormen finanziellen und technischen Probleme der französischen Atomindustrie wird auch ein solches „grünes“ Label nicht lösen. Ebenso wird es am Atomausstieg, in dem Europa de facto seit Ende der 1980er-Jahre begriffen ist, nichts ändern. Um den abzuwenden, müssten zahlreiche neue AKW gebaut und betrieben werden. Das ist völlig unrealistisch – schon weil es keine Betreiber gibt, die das machen würden.

Ist die französische Bevölkerung genauso atom-vernarrt wie ihre Regierung?
Das ist Teil des sorgfältig gepflegten Mythos. Im letzten umfangreichen Meinungsbarometer des nationalen Instituts für Strahlenschutz und nuklearer Sicherheit (IRSN) von 2020 landete Atomkraft auf dem vorletzten Platz, nur Öl schnitt schlechter ab. Aber über 90 Prozent hatten eine gute Meinung von Solaranlagen und über 80 Prozent sprachen sich für Windkraft aus.

Interview: Armin Simon

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Foto: Bert Bostelmann / bildfolio

Mycle Schneider ist unabhängiger Berater für Energie- und Atompolitik und lebt bei Paris. Seit 2007 beschreibt und analysiert er mit einem internationalen Team im von ihm initiierten und herausgegebenen jährlichen World Nuclear Industry Status Report den Zustand der Atomindustrie weltweit. Für „seine Warnungen vor den beispiellosen Gefahren durch Plutonium für die Menschheit“ wurde er 1997 mit dem Right Livelihood Award („Alternativer Nobelpreis“) ausgezeichnet.

worldnuclearreport.org

Dieses Interview erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 54 (Feb./März./Apr. 2022)

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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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