Mutlangen – da war doch was?

23.08.2022 | Ulrike Laubenthal
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Foto: Udo Leuschner

Wie der zivile Ungehorsam der Friedensbewegung gegen die Stationierung von Atomraketen auch die Auseinandersetzungen um Atomkraftwerke und Castor-Transporte entscheidend mit geprägt hat

41 Jahre ist es jetzt her, dass die ersten Pershing-II-Atomraketen in dem kleinen schwäbischen Dorf stationiert wurden. Kein Wunder, dass ich heute, wenn ich Bezug nehme auf Ereignisse in Mutlangen, bei Jüngeren in fragende Gesichter schaue. Und das passiert mir öfters, denn für mich sind diese Ereignisse noch immer sehr nahe, haben meinen Lebensweg und mein Lebensgefühl geprägt.

Am 12.12.1979 fasste die NATO den sogenannten Doppelbeschluss: Wenn die Sowjetunion ihre SS-20-Atomraketen nicht abrüste, dann werde die NATO in Westeuropa 108 Pershing-II-Atomraketen und 464 atomar bestückte Marschflugkörper („Cruise Missiles“) stationieren. Schon mit den vorhandenen Atomraketen hätte alles Leben auf der Erde mehrfach vernichtet werden können. Die Pershing II waren aber nicht „nur“ 108 Raketen mehr, sie waren auch besonders gefährlich – wir sprachen damals von der „brennenden Lunte am atomaren Pulverfass“. Sie bedrohten unmittelbar das Territorium der Sowjetunion. Mit einer Vorwarnzeit von nur drei bis vier Minuten erhöhten sie ganz erheblich das Risiko, dass in Folge eines Fehlalarms auf sowjetischer Seite ein atomarer Gegenschlag eingeleitet würde, ehe der Fehler erkannt werden konnte. Da sie unverbunkert waren, stand die US-Armee im Krisenfall zudem unter Druck, diese Raketen unbedingt abzuschießen, bevor der Gegner sie ausschalten konnte. All dies und mehr hatte die wachsende europäische Friedensbewegung seit 1979 offen gelegt und diskutiert, hatte gemahnt, demonstriert, eine Million Unterschriften gesammelt und trotzdem die Stationierung nicht verhindern können.

Für mich ist es erschreckend, mit welcher Gelassenheit heute von einem möglichen Atomwaffeneinsatz Russlands in der Ukraine gesprochen wird und davon, dass dem mit einer glaubwürdigen atomaren Abschreckung vorgebeugt werden solle – also mit der Ankündigung, in diesem Fall die eigenen Atomwaffen ebenfalls einzusetzen. In den 1980er Jahren gab es ein breites Wissen darüber, was Atomkrieg bedeutet. Die Leiden der Menschen von Hiroshima und Nagasaki waren uns sehr präsent, und wir wussten: Jeder Pershing-II-Sprengkopf hatte die 6-fache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Radioaktiver Fall-out, Strahlenkrankheit, atomarer Winter …, das waren schreckliche Möglichkeiten, von denen damals – wohl im Gegensatz zu heute – ein Großteil der Bevölkerung wusste, dass sie nur einen Knopfdruck entfernt waren.

Genau deshalb wurde Mutlangen nicht nur zum Atomraketen-Stationierungsort, sondern auch zu einem Symbolort für gewaltfreien Widerstand. Auftakt dafür war die „Promi-Blockade“ 1983 mit Menschen wie Helmut und Brigitte Gollwitzer, Günther Grass, Inge Aicher-Scholl, Dietmar Schönherr, Robert Jungk und Heinrich Böll. Es folgten viele kleine Blockaden, koordiniert von der „Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung“. In einem offenen Brief an die Bundesregierung kündigten 523 Personen an, bis zur Abrüstung der Pershing II mindestens einmal jährlich an einer gewaltfreien Sitzblockade vor dem Atomwaffenlager teilzunehmen; 945 Personen erklärten schriftlich ihre Solidarität. Damit war ein Werkzeug erfunden, wie eine soziale Bewegung schon im Vorfeld und über die einzelne Aktion hinaus politischen Druck erzeugen kann. Die vorherige namentliche Ankündigung wirkte auch ermutigend auf Unentschlossene. Dasselbe Prinzip machte sich später „X-tausendmal quer“ beim Widerstand gegen die Castor-Transporte zunutze.

Atomenergie und Atombomben sind nur zwei Seiten einer Medaille. Als die Pershings 1990 abgezogen wurden, nutzten viele Aktive, darunter auch Jochen Stay, die frei gewordenen Ressourcen und die gewonnene Erfahrung, um gegen Atomkraft zu kämpfen. Dabei kam noch ein weiteres Element zum Tragen. In Mutlangen, hatte es eine Dauerpräsenz von Atomwaffengegner*innen gegeben, die minutiös alle Militärbewegungen dokumentierten. Diese Wissensbasis erlaubte, Manöver-Ausfahrten der Pershing II Stunden vorher zu erkennen und sogar vorab zu wissen, welche Waldstellungen sie beziehen würden. Mit dieser Erfahrung begannen ehemalige Mutlangen-Aktive Ende der 1980er Jahre, Atomtransporte zu beobachten. Die fanden bis dahin im Geheimen statt. Auch hier aber ließ sich durch Beobachten erkennen, wann Transporte bevorstanden. Das war die Basis dafür, diese Achillesferse der Atomindustrie – das ungelöste Atommüllproblem – zum Ausgangspunkt von Aktionen zu machen.

Dieser Text erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 55 (Juni/Juli/August 2022)

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