Grenzüberschreitendes Risiko

30.06.2025 | Armin Simon
Eine Europakarte zeigt die mögliche Ausbreitung einer radioaktiven Wolke über Deutschland nach einem Atomunfall in der Schweiz
Foto: Holger M. Müller

Die Schweizer AKW gehören zu den ältesten der Welt, ein Atomunfall dort hätte massive Auswirkungen auf Deutschland. Die eidgenössische Atomaufsicht aber redet die Gefahren klein – und der Energieminister will sogar neue Reaktoren bauen.

Die Strahlenwolke würde nur ein paar Sekunden brauchen. Einmal quer über den Hochrhein, schon wäre sie da. Das Schweizer AKW Leibstadt steht direkt an der deutschen Grenze. Auch die drei anderen Reaktoren, die in der Alpenrepublik noch laufen, stehen in unmittelbarer Nähe zu Baden-Württemberg. Ganze 20 Kilometer sind es bis zum AKW Gösgen bei Olten an der Aare, zu den beiden Uralt-Meilern des AKW Beznau, ein Stückchen weiter stromabwärts, gerade mal fünf. Bei einem schweren Unfall würde der Fallout mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit auch Deutschland treffen. Noch in mehreren hundert Kilometern Entfernung, das haben aufwändige Simulationsrechnungen der Wiener Universität für Bodenkultur und des Österreichischen Ökologie-Instituts gezeigt, könnten Gebiete so stark mit radioaktivem Cäsium kontaminiert werden, dass sie langfristig unbewohnbar würden. Ganze Großstädte müssten unter Umständen binnen Stunden evakuiert werden. Die freigesetzte Radioaktivität könnte die Trinkwasserversorgung von Millionen Menschen gefährden. Das Gebiet, in dem der Fallout Ernten vernichten könnte, reicht bis hoch ins Baltikum und nach Skandinavien. Und die kollektive Strahlendosis, der die Bevölkerung ausgesetzt wäre, ließe selbst bei durchschnittlicher Wetterlage zehntausende Todesfälle und noch mehr schwere Erkrankungen allein in Deutschland erwarten (siehe FAQ Wohin weht der Super-GAU?).

Die Bundesrepublik würde im Schnitt aller Wettersituationen mehr Strahlung abbekommen als die Schweiz selbst und auch mehr als jedes andere europäische Land. Trotzdem sind die Schweizer AKW und die von ihnen ausgehenden Gefahren hierzulande bisher kaum ein Thema. Im Bewusstein der deutschen Öffentlichkeit liegen sie – anders etwa als die Reaktoren in Belgien, Frankreich und Tschechien – buchstäblich etwas hinterm Berg.

Katastrophenschutz mangelhaft

Selbst der Katastrophenschutz in Baden-Württemberg setzt seine Prioritäten anderswo. Zwar empfahl die Strahlenschutzkommission 2014 nach den Erfahrungen aus Fukushima, die Planungszonen für Katastrophenschutzmaßnahmen um AKW auszudehnen. Evakuierungsmaßnahmen müssen nun für ein viermal so großes Gebiet geplant werden, mit einem Vielfachen an Bewohner*innen. Für die grenznahen Schweizer AKW haben die Katastrophenschutzbehörden dies allerdings bis heute, mehr als zehn Jahre später, noch nicht umgesetzt.

Die Schweizer Behörden und AKW-Betreiber schaffen derweil Fakten. Das AKW Leibstadt, direkt gegenüber von Waldshut-Tiengen, ging mit seinem 40. Betriebsjubiläum Ende 2024 in den Überzeitbetrieb. Die Schweizer Atomaufsicht hatte keine Einwände. Eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), wie sie bei solchen Laufzeitverlängerungen eigentlich vorgeschrieben ist, lehnte das Umweltministerium (UVEK) ab. In deren Rahmen wären auch die Sicherheitsdefizite der Anlage – Leibstadt ist das jüngste AKW der Schweiz – öffentlich debattiert worden. Daran hatten Betreiber, Aufsichtsbehörde und Politik offensichtlich kein gesteigertes Interesse. Anwohner*innen aus der Schweiz und Deutschland zogen deshalb mit Unterstützung von Anti-Atom-Organisationen vors Bundesverwaltungsgericht, eine Entscheidung steht noch aus.

Parallel dazu nimmt in der Schweiz seit Monaten eine Atomdebatte an Fahrt auf. Anlass gab eine Volksinitiative von Atomkraft-Befürworter*innen, die das 2017 in einem Referendum beschlossene Neubauverbot für AKW wieder kippen will. Der Schweizer Umwelt- und Energieminister („Bundesrat“) Albert Rösti brachte dazu einen indirekten Gegenvorschlag ein, auch dieser sieht eine Aufhebung des AKW-Neubauverbots vor. Folgt ihm das Parlament, werden Atomkraftgegner*innen das Referendum ergreifen. Voraussichtlich 2026 wird es dann zur Volksabstimmung über die Frage kommen.

Einstieg in den Ausstieg oder Überzeitbetrieb ohne Ende?

„Die Atomdebatte jetzt wieder neu zu eröffnen, schürt nur Investitionsunsicherheit für die Erneuerbaren!“, sagt Stephanie Eger, Fachbereichsleiterin Atomenergie bei der Schweizerischen Energie-Stiftung SES (siehe Interview „Eine neue Atomdebatte schürt nur Investitionsunsicherheit“). Das Beispiel Deutschland zeigt, wie vorteilhaft eine klare Ausstiegsperspektive mit festen Abschaltdaten ist, auf die sich Energiewirtschaft und Investor*innen dann einstellen können. Feste Abschaltdaten für die Schweizer AKW würden die Energiewende in ganz Europa voranbringen, das Abschalten der AKW zudem Synergien etwa bei der Nutzung der enormen Speicherkapazitäten der Schweiz ermöglichen. In wenigen Jahren sind die großen Nord-Süd-Leitungen in Deutschland fertig ausgebaut. Deshalb ist jetzt der richtige Moment, eine deutsch-schweizerische Energiewendepartnerschaft an den Start zu bringen. Bundesregierung und Landesregierung Baden-Württemberg müssen endlich klar für einen Schweizer Atomausstieg eintreten – damit die helvetischen AKW abgeschaltet werden, bevor eine radioaktive Wolke über den Hochrhein zieht. Machen wir ihnen Druck.

Schwerpunkt Schweiz

Diese Artikel gehören zum Schwerpunkt-Thema Schweiz aus dem .ausgestrahlt-Magazin 64:

Visual mit der Aufschrift "Atomgefahr beenden - Schweizer AKW abschalten!"

Schweizer AKW abschalten!

Ein Atomunfall in der Schweiz könnte weite Teile Deutschlands radioaktiv verseuchen. Der Überzeitbetrieb der Schweizer AKW setzt die Bevölkerung insbesondere in Süddeutschland einem unverantwortlichen Risiko aus. Zugleich behindert das Festhalten an Atomkraft den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Energiewende in Deutschland und der Schweiz. Bundesregierung und Landesregierung in Baden-Württemberg müssen sich endlich für eine Laufzeitbegrenzung der Schweizer AKW und eine deutsch-schweizerische Energiewende-Partnerschaft einsetzen. Das kannst du tun:

1. Unterschriftenaktion

Fordere mit .ausgestrahlt einen straffen Ausstiegsfahrplan mit festen Abschaltdaten für alle Schweizer AKW. Hier kannst Du online unterschreiben: ausgestrahlt.de/schweiz

Mach auch Freund*innen, Bekannte, Nachbar*innen und Kolleg*innen auf die Unterschriftenaktion aufmerksam. Teile und verbreitesie in deinen Netzwerken.

2. Online-Infoveranstaltungen

Die Ergebnisse der Studie „Grenzenloses Risiko: Gefährdung Deutschlands durch schwere Unfälle in Schweizer Atomkraftwerken“ stellt .ausgestrahlt in einstündigen Online-Veranstaltungen vor. Die ersten Termine: Mi, 2. Juli und Mo, 14. Juli, jeweils 18:30 Uhr. Anmeldung unter ausgestrahlt.de/schweiz

Die Studie selbst kannst Du herunterladen oder kostenlos bestellen: ausgestrahlt.de/shop

3. WhatsApp-Kanal

Für alle, die mithelfen wollen, die Atomgefahren aus der Schweiz in (Süd‑)Deutschland zum Thema zu machen und den Betrieb der Schweizer AKW zu begrenzen, hat .ausgestrahlt den WhatsApp-Channel „Schweiz: Atom-Gefahr beenden“ eingerichtet. Dieser verbreitet Infos, Aktionsideen und Berichte über Aktivitäten vor Ort – damit Du sie nutzen, weiterspinnen, nachmachen kannst.

4. Vernetzungstreffen

Willst Du aktiv werden? Dann komm zum Online-Vernetzungstreffen. Erster Termin ist Mo, 7. Juli um 19 Uhr. Anmeldung unter ausgestrahlt.de/schweiz

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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. 

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