Hintergrund | Die Europäische Union will den Import von Uran und Brennelementen aus Russland beenden. Die geplante Erweiterung der Brennelementefabrik Lingen in Kooperation mit der russischen Atomkrake Rosatom steht dazu im eklatanten Widerspruch.
Mit Anekdoten aus fünf Jahrzehnten Atomtechnik, Applaus und knallenden Sektkorken feiert Framatome/ANF Anfang September das 50-jährige Bestehen der Brennelementefabrik Lingen. Doch hinter den Kulissen ist die Nervosität groß. Denn die EU plant, die Abhängigkeit von russischem Uran Schritt für Schritt zu beenden. Das stellt auch die Pläne der Lingener Fabrik in Frage, in Zusammenarbeit mit dem russischen Atomkonzern Rosatom WWER-Brennelemente für AKW sowjetischen Typs zu produzieren: Die geplante Erweiterung der Fabrik steht auf der Kippe. Das für die Genehmigung zuständige niedersächsische Umweltministerium hat deutliche Vorbehalte geäußert, das Bundesumweltministerium prüft aktuell erneut, welche Gefahren das Projekt wegen der Zusammenarbeit mit dem Kreml-Konzern für die innere und äußere Sicherheit birgt.1 Es geht um langfristige sicherheitspolitische Weichenstellungen, für Deutschland und für Europa.
EU will unabhängig werden
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine will die EU die Abhängigkeit von Russland im Energiesektor beenden. Öl- und Gasimporte hat sie seitdem schrittweise reduziert, die Atomindustrie aber bislang von Sanktionen ausgenommen. Einen Fahrplan, der endlich auch Uran und Brennelemente aus Russland ausdrücklich in den Blick nimmt,2 legte die Kommission erst im Mai dieses Jahres vor. Sie will keine neuen Verträge mit russischen Lieferanten mehr genehmigen, Uranimporte aus Russland wirtschaftlich unattraktiver machen und in neue europäische Produktionskapazitäten investieren. Außerdem sollen die Mitgliedsstaaten bis Ende des Jahres einen Plan ausarbeiten, wie sie ihre Abhängigkeit von russischen Importen verringern wollen.3 Doch der entsprechende Gesetzesentwurf, im Juni veröffentlicht, nennt wieder nur Ausstiegsfristen für Öl und Gas. Vergleichbare Regelungen für Uran lässt er weiter vermissen.4 In Brüssel munkelt man, ein konkreter Vorschlag für Uran und Brennstoffe solle noch in diesem Jahr folgen, doch sicher ist das nicht. Zudem soll er wohl deutlich vorsichtiger und offener formuliert werden als die Regelungen für fossile Brennstoffe.
Seit Jahren scheitern alle Bemühungen der EU, Sanktionen auf Uran durchzusetzen, am Widerstand einzelner Mitgliedsstaaten. Manche von ihnen sind nach wie vor von russischen Brennelementen abhängig, andere – wie Frankreich – wollen vor allem die wirtschaftlichen Interessen ihrer Atomindustrie schützen. Mit dem neuen Ansatz umgeht die Kommission diese Blockade: Anstelle von Sanktionen, die Einstimmigkeit erfordern, will sie ein Gesetz verabschieden, für das eine qualifizierte Mehrheit genügt.5 Länder wie Ungarn, die Slowakei, Bulgarien und Tschechien, die alle bereits Lieferabkommen mit ANF abgeschlossen haben, könnten ein Verbot nicht mehr verhindern, selbst zusammen mit Frankreich würde es nicht reichen für eine Sperrminorität – solange Deutschland dem Gesetz zustimmt.
Lingener Atomtrojaner
Wie aus der Zeit gefallen wirkt angesichts der Ausstiegspläne der EU das Vorhaben von Framatome/ANF, die Brennelementefabrik in Lingen ausgerechnet in Zusammenarbeit mit Rosatom auszubauen: Während die EU mühsam Wege sucht, die Abhängigkeit von russischen Energieimporten zu beenden, will die Tochterfirma des französischen Atomkonzerns EDF die russische Atomkrake mitten in Europa zum Premium-Partner machen – und damit quasi einen „Atomtrojaner“ auf deutschem Boden installieren. Außerdem bezieht die Brennelementefabrik weiter einen Teil des Urans aus Russland, gerade erst wurden 30 weitere Transporte genehmigt.
Mit einem Gesetz, dass Nuklearimporte aus Russland konsequent verbietet, wäre die in Lingen geplante Kooperation mit Rosatom so vermutlich nicht umsetzbar. Allerdings ist offen, wie streng das Gesetz – wenn es denn kommt – ausfallen, ob es Schlupflöcher und Ausnahmen geben wird und wie lang die Übergangsfristen sein werden; um all das wird noch gerungen.
Die Behauptung von ANF, das Kooperationsprojekt in Lingen würde die EU von Russland unabhängiger machen, weil WWER-Brennelemente für die Reaktoren in Osteuropa dann nicht mehr direkt aus Russland geliefert werden müssten, hat der Konzern jedenfalls längst selbst widerlegt: Als im November 2024 die 11.000 Einwendungen gegen das Vorhaben erörtert wurden, räumte ANF ein, dass sämtliche Rohstoffe und Komponenten für die geplante Produktion in Lingen von Rosatom geliefert würden. Die Montage in Lingen würde auf russischen Lizenzmaschinen erfolgen, ein erheblicher Teil der Gewinne nach Moskau fließen. Statt die Abhängigkeit zu verringern, würde die Kooperation die EU an Russland binden, die Ausstiegsziele untergraben und zugleich Putins Kriegskasse füllen.
Wachsende Gefahr
Das alleine wäre Grund genug, die Genehmigung zu verweigern. Doch die Erweiterungspläne haben auch eine sicherheitspolitische Dimension. Lingen und die belieferten AKW würden zum potenziellen Einfallstor für russische Spionage, Cyberangriffe und Sabotage. Es wäre etwa denkbar, dass Rosatom fertig verschweißte und befüllte Brennstäbe unerkannt mit Sprengstoff präpariert, der dann beim Einsatz im AKW explodiert. Ein abwegiges Szenario?
Laut Bundesamt für Verfassungsschutz hat Russland seine Angriffe auf europäische Staaten seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine massiv ausgeweitet. Neben Spionage und Cyberangriffen auf Politik, Wirtschaft und kritische Infrastrukturen verzeichnet der Verfassungsschutz auch Sabotageakte, Drohnenüberflüge über sensible Einrichtungen und gezielte Einflussnahme auf die öffentliche Meinung.6 Das unterstreicht, wie brisant die geplante Kooperation ist. Denn Rosatom ist nicht einfach ein Energiekonzern, sondern ein verlängerter Arm des Kremls. Das zeigt sich auch in der aktiven Rolle, die der Konzern bei der Besetzung des AKW Saporischschja in der Ukraine spielt (siehe Infokasten unten: Tatort AKW Saporischschja).
Anders als von ANF suggeriert gibt es zudem längst auch für WWER-Reaktoren eine alternative Bezugsquelle für Brennstoff: Der US-amerikanische Atomkonzern Westinghouse fertigt in Schweden Brennelemente für AKW russischen Typs. Die Ukraine und Tschechien nutzen diese Möglichkeit bereits, Bulgarien, die Slowakei und Finnland sind in der Umstellung. Nur Ungarn hält weiterhin an der Zusammenarbeit mit Rosatom fest. Während die EU die Umstellung auf Westinghouse-Brennstoffe sogar finanziell fördert,7 versucht Frankreich, diese Option politisch zu blockieren: Dahinter stehen auch wirtschaftliche Interessen: Mehrheitseigner der Brennelementefabrik Lingen ist der staatliche französische AKW-Betreiber EDF.
Zeigt die EU Rückgrat?
Es ist höchste Zeit, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten entschlossen handeln, um ihre Abhängigkeit von russischen Nuklearimporten so schnell wie möglich zu beenden. Dazu gehört auch, dass Deutschland den Einstieg Rosatoms in die Brennelementefertigung in Lingen endlich stoppt: Das Vorhaben widerspricht klar den Sicherheitsinteressen und Zielen der EU. In Lingen geht es um weit mehr als eine deutsche Standortdebatte – der Fall ist ein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit europäischer Energiepolitik. Wenn die EU den Mut findet, den Import von Uran und Brennelementen aus Russland zu verbieten, demonstriert sie damit auch, dass sie ihre Sicherheitsinteressen über kurzfristige wirtschaftliche Interessen einzelner Unternehmen und Mitgliedsstaaten stellt. Die Bundesregierung sollte sie dabei nach Kräften unterstützen.
Quellen:
1 „Deutsche Brennelemente von Putins Gnaden“, faz.net, 30.06.2025
2 „Fahrplan für den Totalausstieg der EU aus russischer Energie“, Europäische Kommission, 06.05.2025
3 „Roadmap towards ending Russian energy imports“, Europäische Kommission, 12.05.2025
4 „EU will schneller weg von russischer Energie“, tagesschau.de, 17.09.2025
5 Für eine qualifizierte Mehrheit müssen mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten (16 von 27) zustimmen, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.
6 „Gefährdungen durch russische Spionage, Sabotage und Desinformation“, Bundesamt für Verfassungsschutz, Mai 2025
7 Vgl. etwa „Accelerated Program for Implementation of secure VVER fuel Supply“, Westinghouse, 2025
Schwerpunkt-Thema Deutsche EU-Atompolitik
Diese Artikel gehören zur Serie über die deutsche EU-Atompolitik aus dem .ausgestrahlt-Magazin 65:
- Sabotage an der Energiewende (Einleitung)
- Eine Frage der Haltung (Hintergrund)
- „Das Nichtverbreitungsregime wäre kaum zu halten“(Interview)
weiterlesen:
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Atomfabrik Lingen schließen - Keine Geschäfte mit Rosatom
Anstatt den Atomausstieg zu vollenden, lässt die deutsche Politik die Atom-Fabrik in Lingen ungehindert weiter laufen. Mit Hilfe der russischen Atombehörde Rosatom, die direkt dem Kreml unterstellt ist, soll die Produktion dort sogar noch deutlich ausgeweitet werden. Damit würde Lingen zur zentralen Drehscheibe der europäischen Atomindustrie - mit Putin am Schalthebel.
TV-Doku:
Die Arte-Dokumentation „Die Nuklearfalle – Putins Deals mit dem Westen“ zeigt, wie Rosatom sich weltweit Einfluss verschafft, Staaten in Abhängigkeiten verstrickt und wirtschaftliche wie politische Risiken erzeugt.
http://ausgestrahlt.de/lingen/arte-doku/
Tatort AKW Saporischschja:
Der Bericht „Seizing Power“ von Truth Hounds im Auftrag von Greenpeace dokumentiert, wie Rosatom im besetzten AKW Saporischschja Mitarbeitende unter Druck setzt, die Kontrolle über das Werk übernimmt und die nukleare Sicherheit der gesamten Region gefährdet.
ausgestrahlt.de/lingen/gp-bericht/