Polizei-Kontrolle bei Fukushima
Foto: Alexander Tetsch

Die Atomkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011

Radioaktiv verseuchtes Wasser in den Pazifik?

Japan leitet seit dem 24. August 2023 gefiltertes, aber noch radioaktiv verseuchtes Wasser aus dem havarierten Kernkraftwerk Fukushima Daiichi ins Meer. Wie auch anderswo sollen die radioaktiven Hinterlassenschaften der Atomkraft unsichtbar gemacht werden, weil eine langfristige Lösung nicht existiert.

Auch 13 Jahre nach der Katastrophe müssen die havarierten Reaktoren weiter mit Wasser gekühlt werden. Es existieren keine geschlossenen Kühlkreisläufe, daher nimmt dessen Menge täglich zu. Inzwischen lagern mehr als 1,3 Millionen Tonnen verstrahltes Kühlwasser auf dem Gelände. Dieses Wasser leitet Japan jetzt ins Meer ab. Es wird zwar gefiltert und verdünnt, enthält aber weiterhin diverse Radionuklide – neben Tritium beispielsweise Cäsium 134/137, Strontium 90, Kobalt 60, Kohlenstoff 14 und  Jod 129.

Die Auswirkung von Tritium und der anderen Radionuklide auf das Ökosystem und die Nahrungskette ist wenig untersucht. Langzeitfolgen werden nicht berücksichtigt. Fraglich ist auch, wie sich einzelne Radionuklide im Meerwasser verhalten, in der Nahrungskette anreichern und was für Schäden sie dabei anrichten.

Deshalb: Das Kühlwasser in Fukushima muss weiterhin in Tanks streng kontrolliert aufbewahrt bleiben und darf nicht in den Pazifik geleitet werden.

→ Mehr Details im Forderungsschreiben der Yosomono-Net (Netzwerk von japanischen Anti-Atom-Gruppen im Ausland)

Am 11. März 2011 um 14.46 Uhr ereignet sich vor der Ostküste Japans, 130 Kilometer östlich von Sendai, ein schweres Seebeben (Stärke 9,0 auf der Richterskala). Die Erdstöße verursachen gravierende Schäden im AKW Fukushima Daiichi, die nachfolgende Flutwelle (Tsunami) verschärft die Situation noch. Stromversorgung und Kühlung aller sechs Reaktoren sowie der sieben Abklingbecken mit hochradioaktiven Brennelementen fallen aus. Die Blöcke 4 bis 6 sind wegen Wartungsarbeiten zufällig außer Betrieb, in den Blöcken 1 bis 3 jedoch scheitern trotz Schnellabschaltung alle Versuche, die Reaktoren ausreichend zu kühlen. In allen drei Reaktoren kommt es deshalb zur Kernschmelze und somit zum Super-GAU – in Block 1 bereits am 12. März, in den Blöcken 2 und 3 wenige Tage später. Explosionen in den Blöcken 1 bis 4 zerstören unter anderem die Gebäudehüllen.

Gebäudeschaden am Atomstandort Fukushima Daiichi
Foto: Tepco (Betreiber des AKW Fukushima Daiichi)

Wochenlang ziehen immer neue radioaktive Wolken von Fukushima aus über Japan und/oder den Pazifik. Unter anderem lässt AKW-Betreiber TEPCO mehrfach radioaktiven Dampf ab, um Explosionen im Innern der Reaktoren zu verhindern, die eine noch größere Freisetzung radioaktiver Stoffe zur Folge hätten haben können.

Neben den sechs Reaktoren in Fukushima-Daiichi kommt es aufgrund des Erdbebens auch in den vier Reaktoren des AKW Fukushima-Daini, den drei Reaktoren des AKW Onagowa, im AKW Tōkai-2 sowie in der Wiederaufarbeitungsanlage Rokkasho zu kritischen Situationen wie dem Ausfall von Stromversorgung und/oder Kühlung. Sie können jedoch noch rechtzeitig wieder unter Kontrolle gebracht werden.

Info-Material
FAQ
  • Schon das Erdbeben verursachte so große Schäden an den Reaktoren, dass eine Kernschmelze nicht mehr zu verhindern war. Sicherheitssysteme, die trotz Tsunami noch hätten helfen können, fielen aus ungeklärten Gründen aus, Notfallmaßnah-men kamen zu spät. Der Tsunami selbst verschlimmerte die Situation bloß noch.1

    1IPPNW, Fukushima: Tsunami-Legende, März 2012

  • In dem Becken lagerten 1.535 hochradioaktive, abgebrannte Brennelemente, darunter etliche aus besonders plutonium-haltigem MOX-Brennstoff. Wie in Siedewasserreaktoren üb-lich, liegt das Becken außerhalb des Sicherheitsbehälters. Am 15. März zerstörte eine Explosion die Gebäudehülle. Experten fürchteten, dass Becken und Brennstäbe beschädigt seien, dass Wasser ablaufen und dass die Brennstäbe sich erhitzen könnten; selbst AKW-Betreiber TEPCO hielt eine nukleare Kettenreaktion im Abklingbecken für möglich. In allen Fäl-len wären enorme Mengen radioaktiver Stoffe in die Umwelt gelangt. Das Becken konnte schließlich behelfsmäßig mit Wasser bespeist und stabilisiert werden. Ende 2014 wurden die letzten Brennstäbe entfernt.

  • Schätzungen gehen von 12 bis 53 Petabecquerel (PBq, =Billiarden Becquerel) Cäsium 137 und 150-160 PBq Jod 131 aus, die in Fukushima in die Luft freigesetzt wurden.1 Weil in den ersten Wochen der Atomkatastrophe von Fukushima der Wind meistens nach Osten blies, landeten vier Fünftel (79 %) dieser Emissionen über dem Pazifik, nur ein knappes Fünftel (19 %) über Japan, die restlichen 2 % verteilen sich auf andere Länder.2

    Die direkte radioaktive Kontamination des Pazifiks schätzen die Vereinten Nationen auf 9 PBq Cäsium 137 und 68 PBq Jod-131 allein im Zeitraum 12.03.–30.04.2011; bezüglich der Emissionen davor und danach gibt es keine offiziellen Angaben und keine Studien. TEPCO gab im August 2014 allerdings zu, dass bis zu diesem Zeitpunkt pro Tag 225 Gigabecquerel (Gbq, =Milliarden Becquerel) Cäsium 137 sowie etwa 140 GBq Strontium 90 ins Meer geflossen waren.3

    Bis heute tritt Tag für Tag weiter Radioaktivität in Grundwasser und Ozean aus. Die japanische Regierung plant zudem, radioak-tiv kontaminiertes Kühlwasser bald in großen Mengen ins Meer zu verklappen.4Bereits jetzt stellt die Atomkatastrophe von Fukushima die größte je gemessene singuläre radioaktive Verseuchung der Weltmeere dar.5,5,7

    1Sadiq, An overview of current knowledge concerning the health and environmental consequences of the Fukushima Daiichi Nuclear Power Plant (FDNPP) accident, 2015

    2Stohl, Xenon-133 and caesium-137 releases into the atmosphere from the Fukushima Dai-ichi nuclear power plant, 2012

    3TEPCO, The resulting (and projected) effects brought by purificatioon and drainage of pumped underground water, 25. August 2014

    4IPPNW, Aus den Augen, aus dem Sinn, 10. März 2020

    5IRSN, Synthèse actualisée des connaissances relatives à l’impact sur le milieu marin des rejets radioactifs du site nucléaire accidenté de Fukushima Dai-ichi, 26. Oktober 2011

    6Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI), Researchers Assess Radioactivity Released to the Ocean from the Fukushima Daiichi Nuclear Power Facility, 6. Dezember 2011

    7IAEA, Worldwide marine radioactivity studies, Radionuclide levels in oceans and seas, 2005

  • Das Krisenmanagement und die Information der Öffentlichkeit waren katastrophal und verschlimmerten die Auswirkungen des Unfalls in vielen Fällen, anstatt sie zu begrenzen. So ordnete die Regierung zwar Evakuierungen im nahen Umkreis des Unfall-AKW an, hielt die eigenen Berechnungen, wo der radioaktive Fallout niedergehen würde, aber zurück. Evakuierte flohen daher zum Teil in Gebiete, die kurz darauf weit stärker radioaktiv kon-taminiert wurden als die Gegend, aus der sie geflohen waren. Viele ebenfalls hoch belastete Gebiete wurden gar nicht oder zu spät evakuiert. Jodtabletten, die, rechtzeitig eingenommen, die Belastung der Schilddrüse mit radioaktivem Jod hätten ver-mindern können, wurden nur an rund 2.000 Evakuierungshel-fer*innen ausgegeben, nicht aber an die normale Bevölkerung. Tausende von Kindern haben deshalb nun ein massiv erhöhtes Risiko, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken. Und anstatt alles zu tun, um die radioaktive Belastung der Bevölkerung dauerhaft so gering wie möglich zu halten, erhöhte die Regierung am 20. April 2011, fünf Wochen nach Beginn der Katastrophe, die Dosisgrenzwerte um das 20-Fache: Statt zuvor 1 Millisievert pro Jahr sollte für Kinder wie Erwachsene eine jährliche Belas-tung von bis zu 20 Millisievert zulässig sein. De facto zwingt dies Hunderttausende, in eigentlich kontaminierten Gebieten zu leben.1 Und das Erziehungsministerium entschied, Schulen in der Provinz Fukushima auch ohne Klimaanlage wieder zu öffnen; radioaktiver Staub, der immer wieder auftritt, gelangt so durch die geöffneten Fenster bis in die Klassenzimmer.2

    TEPCO wiederum wollte am vierten Tag der Katastrophe sogar alle Versuche, die Reaktoren doch wieder zu kühlen, einstellen und die gesamte Atomanlage einfach sich selbst überlassen. Nur eine massive persönliche Intervention des Premierministers verhinderte dies.3

    „Die Regierung und die Aufsichtsbehörde haben nicht dafür gesorgt, die Gesundheit der Anwohner zu schützen und ihr Wohl wiederherzustellen“, hielt die Untersuchungskommission des japanischen Parlaments zu dem Atomunfall fest.4

    1MEXT, Notification of interim policy regarding decisions on whether to utilize school buildings and outdoor areas within Fukushima Prefecture, 19. April 2011

    2New York Times, 25. Mai 2011

    3Spiegel Online, 9. Oktober 2015

    4NAIIC, The official report of The Fukushima Nuclear Accident Independent Investigation Commission (NAIIC) of the National Diet of Japan Executive Report, 5. Juli 2012 (S. 18 19)

  • Dann wäre weit mehr radioaktiver Niederschlag über dem Festland heruntergekommen und weit größere Gebiete wären kontaminiert worden. Tatsächlich wehte der Wind während der ersten Wochen der Katastrophe die meiste Zeit aufs Meer hinaus. Nur rund 19 Prozent der in die Luft abgegebenen Radioaktivität landeten deshalb in Japan. Bei Ostwind hingegen wäre das Land vermutlich durch einen radioaktiv verseuchten Streifen in der Mitte zwei-geteilt worden. Und dass der Großraum Tokio mit seinen rund 50 Millionen Einwohner*innen nicht evakuiert werden musste, war pures Glück: Als die schlimmste Wolke über ihn zog, regnete es dort nicht. Andernfalls, so urteilte der damalige japanische Premierminister Naoto Kan im Nachhinein, „hätte das den Kollaps unseres Landes bedeutet“.1

    1Spiegel Online, 9. Oktober 2015

  • Rund 200.000 Menschen mussten nach Angaben der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) wegen der Atomkatastrophe ihre Heimat verlassen, oftmals binnen weniger Stunden und nur mit den allernötigsten Sachen.1 Sie verloren Haus, Heimat, Hab und Gut, Arbeitsplatz und sozialen Kontext, bisweilen sogar ihre Existenzgrundlage. Viele leben zehn Jahre später noch in Notunterkünften; die psychische Belastung ist groß. Wann und ob sie überhaupt je zurückkehren können, ist oftmals unklar: Selbst nach offiziellen Angaben werden manche Gebiete auf Dauer unbewohnbar bleiben.

    Erklärt die Regierung ein Gebiet hingegen für gesäubert und hebt die Evakuierungsanordnung auf, verlieren die Evakuierten ihr Anrecht auf finanzielle Unterstützung. Schon aus ökonomischen Gründen sind daher viele gezwungen, zurückzukehren, auch wenn die angebliche „Dekontamination“ ihrer Heimat nur sehr unzureichend ist und die Strahlenwerte dort nach wie vor hoch sind.

    Dies gilt erst Recht für all die Regionen, die zwar Fallout abbekommen haben, aber offiziell nicht als nennenswert kontaminiert zählen. Wer hier wohnt, hat nur die Wahl, trotz Strahlung zu bleiben oder auf eigene Faust und (finanzielles) Risiko wegzuziehen. Unzählige Familien hat der Atomunfall deshalb bereits entzweigerissen: Damit zumindest die Kinder in möglichst unverstrahlter Umgebung aufwachsen können, lebt ein Elternteil mit ihnen woanders; der andere bleibt zurück, um seinen Job nicht zu verlieren. 2 Mio. Menschen hätten evakuiert werden werden müssen, wäre die Sperrzone von 20 auf 80 Kilometer um das AKW erweitert worden. Eine solche Erweiterung fordert die US-Atomaufsicht am 17. März 2011 nach Strahlenmessungen mit Hilfe von Drohnen.

    Welche Gesundheitsschäden aufgrund der radioaktiven Belastung noch auftreten werden, lässt sich bisher allenfalls statistisch prognostizieren – die Ärzte der IPPNW gehen von mehreren Zehntausend zusätzlichen Krebserkrankungen sowie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen in vermutlich gleicher Höhe im Laufe der kommenden Jahrzehnte in Japan aus.2 Was den Betroffenen aus den kontaminierten Gebieten bleibt, ist die ständige Unsicherheit und Angst: vor Hotspots, radioaktivem Staub, verstrahlten Nahrungsmitteln und einer ungewissen Zukunft.

    1IAEA, Fukushima Nuclear Accident Update, 12. März 2011

    2IPPNW, Critical Analysis of the UNSCEAR Report „Levels and effects of radiation exposure due to the nuclear accident after the 2011 Great East-Japan Earthquake an tsunami“, 5. Juni 2014

  • Sogenannte Dekontaminierungstrupps spritzen die Dächer, Fassaden und Straßen ab, kratzen kontaminierten Staub aus Winkeln und Fugen, stutzen alle Pflanzen drastisch ein, um die kontaminierte Biomasse zu entfernen, tragen in Grünanlagen, Gärten, auf Wiesen und Äckern die obere Erdschicht ab. Bisweilen sichern sie den nackten Boden notdürftig mit Netzen gegen Erosion. Broschüren raten Hausbesitzern, hartnäckigen Fallout im Zweifel mit Backpulver und Essig anzugehen. Der Erfolg der immens aufwändigen Maßnahmen ist indes mäßig: Schon der nächste Regen, Sturm, Waldbrand, Flut, Pollenflug oder schlicht die Dekontaminationsarbeiten nebenan können erneut radioaktive Stoffe herbeitragen – und alles ist aufs Neue verseucht.

    Um den Erfolg der Arbeiten zu dokumentieren und die Bevölkerung zu beunruhigen, stellt die Regierung überall Strahlenmessstationen mit großen Leuchtanzeigen auf. Dass deren Anzeige mit der Realität wenig zu tun hat, ist inzwischen ein offenes Geheimnis: Die Messstellen stehen weit über dem Boden, der zudem zuvor großflächig abgetragen und mit einem massiven, strahlenabschirmenden Fundament aus Beton und Stahl abgedeckt wird. Bleiakkus schirmen die Messgeräte zusätzlich ab. Messungen unabhängiger Organisationen kommen an denselben Orten in der Regel auf deutlich höhere Strahlungswerte. Kein Wunder, dass kaum jemand den offiziellen Angaben noch traut.

  • Ja, denn die radioaktive Kontamination reicht weit über die evakuierten Gebiete hinaus. Mindestens 8 Prozent der Landesfläche beziehungsweise 30.000 Quadratkilometer sind nach Angaben des japanischen Wissenschaftsministeriums mit mehr als 10.000 Becquerel Cäsium 137 pro Quadratmeter verseucht; die Zone erstreckt sich vom AKW bis zu 300 Kilometer weit ins Land.1 Auch Menschen, die weit außerhalb der Evakuierungszone wohnen, werden über Jahrzehnte mit einer erhöhten Strahlenbelastung leben müssen. Die Kläranlage in Yokohama, 300 Kilometer von Fukushima entfernt, hinterlässt seit dem Super-GAU im Jahr 170.000 Tonnen Atommüll: Die Asche aus der Klärschlammverbrennung strahlt.2 Und ein Kind, das beispielsweise in Iwaki-Stadt lebt, also außerhalb der Evakuierungszone, bekommt im Jahr nach dem Super-GAU eine 52-mal so hohe Schilddrüsendosis ab wie vor dem Super-GAU.3

    1Ministry of Education, Culture, Sports, Science and Technology Japan, Extension Site of Distribution Map of Radiation Dose etc., November 2011
    Proll, Japan aktuell: Radioaktives Cäsium erreicht weite Landesteile Japans, 21. November 2011

    2Sato, Vortrag auf der NURIS-Konferenz, April 2015

    3IPPNW, Critical Analysis of the UNSCEAR Report „Levels and effects of radiation exposure due to the nuclear accident after the 2011 Great East-Japan Earthquake an tsunami“, 5. Juni 2014
    UNSCEAR, 2013 Report, Levels and effects of exposure due to the nuclear accident after the 2011 great east-Japan earthquake and tsunami, 2014 (S. 186, § C92 und S. 255, § E43)

  • Ja. In ganz Japan sind nach dem Super-GAU von Fukushima radioaktiv kontaminierte Lebensmittel aufgetaucht: Reis und Fleisch, Fisch und Meeresfrüchte, Milch und Milchpulver, grüner Tee, Gemüse, Obst und Leitungswasser. 1 Nach offiziellen Angaben sind heutzutage nur noch nicht eigens angebaute Lebensmittel wie Wild, wild gesammelte Pilze und Ähnliches über den Grenzwerten belastet.2 Es ist aber fraglich, ob die staatlichen Stichprobenkontrollen auch wirklich alle verseuchten Nahrungsmittel finden. Vor allem Selbstversorger*innen haben ein hohes Risiko, erhöhte Strahlenmengen zu sich zu nehmen.

    Die japanischen Grenzwerte sind zwar niedriger als die der EU. Insgesamt liegen sie aber immer noch um das 20- bis 30-Fache über den Empfehlungen von Foodwatch und IPPNW. Der dauerhafte und ausschließliche Konsum von Lebensmitteln, die nach japanischen Grenzwerten noch zugelassen wären, würde zu einer Strahlenbelastung weit über dem führen, was die Strahlenschutzverordnung für zumutbar hält, und jedes Jahr Zigtausende von Toten fordern.3

    1IPPNW, Critical Analysis of the UNSCEAR Report „Levels and effects of radiation exposure due to the nuclear accident after the 2011 Great East-Japan Earthquake an tsunami“, 5. Juni 2014

    2Ministry of Health Labour and Welfare Japan, Sum up of radionuclide test results reported in FY2015, 30. November 2015

    3Foodwatch/IPPNW, Grenzwerte für die Strahlenbelastung von Lebensmitteln, 20. September 2011

  • Ein besorgniserregender Anstieg der Schilddrüsenkrebsrate bei Kindern. Insgesamt mussten bis März 2020 bereits 211 Kinder wegen metastasierten oder stark wachsenden Krebsgeschwüren in ihren Schilddrüsen operiert werden. Das sind 17 Mal so viele, wie ohne Atomkatastrophe zu erwarten gewesen wären. Bei weiteren 46 besteht akuter Krebsverdacht.1

    Allerdings werden mehr als die Hälfte der ursprünglich gut 380.000 Kinder und Jugendlichen aus der Präfektur Fukushima gar nicht mehr auf mögliche gesundheitliche Auswirkungen untersucht; zudem enden die Untersuchungen mit dem 25. Geburtstag. Und mindestens elf Kinder, die Schilddrüsenkrebs entwickelt haben, wurden sogar aus der Studie ausgeschlossen. Es gibt also berechtigten Grund zur Sorge, dass die wahre Zahl der Krebsfälle nie wirklich bekannt werden wird, zumal Krebserkrankungen oft erst nach vielen Jahren auftreten.

    1IPPNW, Jeden Monat neue Schilddrüsenkrebsfälle, Dezember 2015

  • Vier der 54 Atomkraftwerke, die in Japan vor 2011 liefen, hat der Super-GAU zerstört. Alle anderen 50 wurden binnen 14 Monaten Schritt für Schritt abgeschaltet und blieben es vier Jahre lang. Die japanische Regierung aber hält weiter an Atomkraft fest. Ungeachtet massiver Proteste aus der Bevölkerung gehen seit 2015 einzelne Reaktoren wieder ans Netz. Zehn Jahre nach der Katastrophe sind es insgesamt neun.

  • Einige Länder legten Atomprojekte auf Eis oder erklärten, nun doch auf den Einstieg in die Atomkraft zu verzichten. In Deutschland kam es zu den bisher größten Anti-Atom-Protesten der Geschichte. Die schwarz-gelbe Bundesregierung nahm die erst kurz zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung wieder zurück und entzog den acht ältesten Meilern die Betriebsgenehmigung; drei weitere folgten bis 2020. In keinem anderen Land (außer Japan) sind nach Fukushima so viele AKW dauerhaft vom Netz gegangen – ein klarer Erfolg der Anti-Atom-Bewegung. Die sechs größten Reaktoren jedoch sind auch zehn Jahre nach Fukushima noch am Netz; der Brennstoffexport läuft gar unbegrenzt weiter.

Videos

Unsere Empfehlung zu frei verfügbaren Dokumentationen über den Super-GAU von Fukushima

Fukushima nach dem Super-GAU

Dokumentation Deutschland, 2014, 42 Minuten

Fukushima und die Wahrheit hinter dem Super-GAU

Dokumentation Deutschland, 2013, 53 Minuten

Der Film von Peter F. Müller, Michael Mueller und Philipp Abresch geht der Frage nach, was in den Reaktorblöcken 1 bis 4 des Atomkraftwerks in Fukushima tatsächlich passiert ist und inwieweit die Verantwortlichen in Japan den Umfang der Katastrophe vor der eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit verborgen haben - und bis heute verbergen. Die Dokumentation macht dabei deutlich, wie die japanische und internationale Atomlobby zusammenarbeiten und wie selbst internationale Aufsichtsbehörden sich durch diese Interessenvertreter instrumentalisieren lassen.

Die Fukushima-Lüge

ZDF-Dokumentation, Deutschland 2014, 29 Min.

Als die japanische Regierung am 11. März 2011 den atomaren Notstand ausrief, hielt die Welt den Atem an. Das große Erdbeben und der folgende Tsunami hatten in Japans Norden ganze Städte ausgelöscht. Japan am Boden, und jetzt auch noch der befürchtete Super-GAU - mit unabsehbaren Folgen für Japan und die Welt. Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Wie sind Japans Atombosse und die Regierung damit umgegangen? Und wo steht das Land drei Jahre nach der Katastrophe?

Fukushima - Chronik eines Desasters

arte-Dokumentation, Japan 2012, 47 Minuten

Der Film wirft ein erschreckendes Schlaglicht auf bisher selbst von Experten nicht erkannte Schwachstellen von Atomkraftwerken. Er zeigt, wie es überhaupt zu einem Totalausfall der Stromversorgung und infolgedessen zu einer mangelhaften Kühlung der Reaktorkerne und Brennstäbe kommen konnte - mit der bekannten fatalen Kettenreaktion von der Kernschmelze bis zum Freisetzen erheblicher Mengen an Radioaktivität.

Interviews mit den zum Zeitpunkt der Havarie diensthabenden Mitarbeitern ermöglichen es, die Ereignisse im Kontrollraum des Kernkraftwerks genau zu rekonstruieren. Anhand von 3D-Computergrafiken, nachgestellten Szenen und Exklusivinterviews wird deutlich, dass die tatsächlichen Verhältnisse im Reaktorblock 1 viel gefährlicher waren, als es die Arbeiter in der Kontrollzentrale ahnen konnten.

Bücher

Bücher zu Fukushima – Unsere Empfehlungen

Alexander Tetsch: „Fukushima 360 Grad - das atomgespaltene Leben"

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Im Mai 2013 reiste der Fotograf Alexander Tetsch (geb. Neureuter) 4.000 Kilometer quer durch Japan. Anhand von 44 Einzelschicksalen zeigt er, wie sich das Leben für die Menschen vor Ort unwiderruflich verändert hat. Sein Bildband, erschienen in Kooperation mit der Ärztevereinigung IPPNW (Ärzte gegen Atomkrieg), zeigt die tief in den Alltag eingedrungene Präsenz der Nuklearkatastrophe.
204 Seiten, 158 meist großformatige Farbfotografien. Neureuters 2011, ISBN 978-3-00-044733

Katsuhiro Ichikawa 2014: Zuhause in Fukushima. Das Leben danach: Portraits mit Fotos

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Kei Kondo hat seinen Bio-Bauernhof verloren. Sadako Monma musste ihren Kindergarten schließen. Der Arzt und Diplomat Ryohei Suzuki kehrte nach der Katastrophe nach Fukushima zurück, um im dortigen Krankenhaus zu arbeiten. Judith Brandner erzählt in diesem Buch in 13 sensiblen Porträts, wie sich die Katastrophe von Fukushima auf die dort lebenden Menschen auswirkt. Der japanische Fotograf Katsuhiro Ichikawa hat Judith Brandner bei ihren Recherchen begleitet und die Menschen fotografiert, mit denen sie gesprochen hat. Die Fotos zeigen auf berührende Weise, wie die Menschen heute dort leben und fühlen.
160 Seiten, Kremayr & Scheriau 2014, ISBN-10: 3218009065

Lisette Gebhardt, Steffi Richter (Hrsg.): Lesebuch Fukushima

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Kurz nach der Dreifachkatastrophe in Fukushima wurde die Textinitiative Fukushima gegründet, die japanische Texte ins Deutsche übersetzt und so auch diejenigen an der innerjapanischen Debatte um Fukushima teilhaben lässt, die kein Japanisch verstehen. Die Ergebnisse wurden nun in einem Lesebuch veröffentlicht. Das Lesebuch ist interdisziplinär ausgerichtet und enthält vier Themenkomplexe: Atompolitik in Japan, Kunst nach Fukushima, Medienmanipulation durch die Atomlobby und Anti-AKW Proteste nach Fukushima.
Eb-Verlag 2013, 442 Seiten, ISBN:978-3868931037

Susan Boos: Fukushima lässt grüßen

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Man muss sich vorstellen können, was ein Super-GAU in unmittelbarer Nähe mit der eigenen Welt anrichten würde. Nach der Fukushima-Katastrophe reiste Autorin Susan Boos nach Japan, um das Geschehen in den verstrahlten Gebieten zu dokumentieren. Boos analysiert die Ereignisse und fragt: Was wäre, wenn ein solches Unglück in der Schweiz oder in Deutschland geschähe? Wie würde evakuiert? Wohin? Wer räumt auf? Wer trägt die Kosten?
271 Seiten, kartoniert, Rotpunktverlag 2012, ISBN-10: 3858694746

Coulmas, Florian / Stalpers, Judith: Fukushima. Vom Erdbeben zur atomaren Katastrophe

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Florian Coulmas und Judith Stalpers schildern in diesem Buch den verheerenden Verlauf des großen Bebens, analysieren, wie es zur Havarie der Reaktoren kommen konnte und beschreiben, wie die japanische Gesellschaft mit der Katastrophe umgegangen ist. Dabei lassen sie persönliche Erfahrungen und Erlebnisse einfließen und hinterfragen die Klischees der westlichen Berichterstattung. So entsteht eine subtile Einführung in das heutige Japan und seine besonderen Mentalitäten, Prägungen und Strukturen. Am Ende steht die Frage nach der Zukunft und den Folgen, die die Katastrophe für das Land haben wird.
192 Seiten, 30 Abbildungen und 8 Tabellen. Paperback, C.H.BECK 2011, ISBN 978-3-406-62563-3

Manga: Daisy aus Fukushima - Ein Comic im japanischen Stil von Reiko Momochi

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Anderthalb Monate nach dem verheerenden Erdbeben vom 11. März 2011 kehrt Fumi an ihre Schule in Fukushima zurück. Es war eine unfreiwillige Schulpause, in der sich so vieles verändert hat … Die Strahlung und die damit verbundene Unsicherheit ist allgegenwärtig: Fumis kleiner Bruder darf nicht mehr draußen spielen und ein kleiner Regenschauer genügt, um die Schüler panikartig unter das Schuldach flüchten zu lassen. Fumi und ihre Freundinnen wollen sich davon aber nicht ihre Jugend kaputtmachen lassen. Doch das ist gar nicht so einfach, denn die Auswirkungen der Katastrophe ziehen immer weitere Kreise …
340 Seiten, von rechts nach links zu lesen, Egmont 2016, ISBN 978-3-770-49162-9

Situation heute

Sieben Jahre Atomkatastrophe Fukushima

„Viele wollen nicht zurück“ 

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Interview | Fukumoto Masao, Journalist, über die Dekontaminationsversuche der Regierung in der Sperrzone um Fukushima und über Evakuierte, die nicht zurückkehren wollen

Herr Fukumoto, sind in Fukushima nun alle gegen Atomkraft? 
Einige sind sehr engagiert. Andere hingegen wollen einfach alles wieder so machen wie früher. Wenn man in Fukushima-City, etwa 70 Kilometer nördöstlich der havarierten Reaktoren, vor dem Bahnhof steht, bemerkt man erst mal gar nichts von der Katastrophe. Da ist Normalität eingekehrt. Viele hier wollen auch vermeiden, dass man über die Gefahren spricht. Aber man sieht Messstellen, die es vorher nicht gab. Man muss immer noch auf Radioaktivität achten. Und frühmorgens auf dem Weg in die Stadt habe ich gesehen, dass auch hier noch dekontaminiert wird. 

Die eigentliche Sperrzone nach dem Super-GAU reichte nur 20 Kilometer um das AKW. Mehr als 150.000 Menschen mussten damals ihre Häuser verlassen. Wie viele davon sind sieben Jahre später schon zurückgekehrt? 
Schwer zu sagen. Nehmen wir Minamisōma, nördlich des AKW. Diese Stadt war dreigeteilt: Der südliche Stadtbezirk Odaka lag in der Sperrzone, da mussten alle fliehen. In dem angrenzenden Bezirk war die Evakuierung nur empfohlen. Und der nördliche war offiziell gar nicht betroffen. Die Sperrzone in Odaka wurde im Juni 2016 aufgehoben. In dem einen Jahr seither sind von den ehemals 13.000 Einwohner*innen nur circa 2.000 zurückgekehrt. 

Wo sind die übrigen 11.000? 
Keiner weiß es. Es ging hier ja nicht um eine Evakuierung von ein paar Wochen Dauer – die Menschen konnten jahrelang nicht mehr nach Hause! Die wohnten erst in Notunterkünften, dann in provisorischen Bauten. Irgendwann suchen Sie sich dann etwas anderes. Ob sie überhaupt je zurückkommen, ist unklar. 

Was ändert sich für sie, wenn die Regierung die Sperrzone in ihrem Heimatort aufhebt? 
Dann zählen sie nur noch als freiwillig Evakuierte und erhalten nach einem Jahr keine Entschädigung mehr. 

Ein ökonomischer Druck, zurückzukehren. 
Ja. Aber viele haben vielleicht inzwischen an ihrem neuen Wohnort auch eine Arbeit gefunden. In der ehemaligen Sperrzone hingegen gibt es keine Jobs. Da müsste man erst einmal wieder welche schaffen oder Firmen ansiedeln. Und vor allem die Jüngeren, vor allem die mit Kindern, wollen überhaupt nicht zurück. Zurückgekehrt sind fast ausschließlich alte Leute. 

Kann man denn einfach wieder einziehen in das Haus, das man vor dem Super-GAU bewohnt hat?  
Nein, das geht nicht. Dekontaminiert wurde ja nur außen. Aber Möbel, Vorhänge, das ganze Inventar, das ist auch alles radioaktiv verseucht. Das müssen sie alles erst einmal entsorgen! 

Das fliegt alles auf den Müll? 
Nicht nur das. Ich war in so einem sanierten Haus: Wandverkleidung, Fußbodenbeläge – da war alles neu. Nur die Stützen waren stehengeblieben. Der Besitzer war Strahlenschutzbeauftragter eines Unternehmens, der kannte sich ein bisschen aus. Wenn er das Messgerät nach oben halte, sagte er, stiegen die Strahlenwerte: weil noch immer radioaktive Stoffe in der Decke drin sind. Das ist alles nicht so einfach. Und weil jahrelang niemand darin gewohnt hat, ist in den Häusern zudem viel Ungeziefer – auch nicht so schön … 

Etliche Häuser werden auch abgerissen, … 
… meist ohne ausreichenden Strahlenschutz! Das machen einfache Bauarbeiter, die davon keine Ahnung haben. 

Gibt es Schulen, Kitas?
Ja, die haben sie alle renoviert. Aber es gibt keine Kinder. Sie hoffen nun, dass Schüler*innen aus den nicht evakuierten Gebieten kommen. Die Regierung ignoriert die Radioaktivität einfach. Sie sagt, das sei alles sicher. Aber wer kleine Kinder hat, der hat Angst. Die Strahlenwerte sind ja auch nur in der Siedlung selbst reduziert. Je näher man der Natur kommt, desto höher werden sie. 
Ich kenne ein Ehepaar in Fukushima-City, da will der Mann zurück, die Frau nicht. Um ihr ehemaliges Haus in der Sperrzone herum wurde 20 Meter weit dekontaminiert, also das Erdreich abgetragen, die Mauern abgekratzt und so weiter. So eine Dekontamination eines Hauses kostet etwa 100.000 Euro. Aber wenn der nächste Sturm kommt, ist alles wieder voll mit radioaktivem Staub. Das Haus steht am Fuß des Gebirges, welches man gar nicht dekontaminieren kann. Wenn man das Messgerät in Richtung Gebirge hält, klettert es auf 10 Mikrosievert pro Stunde. 

… das Zehn- bis Hundertfache der natürlichen Strahlenbelastung in Deutschland. 
Die müssten eigentlich Bleifolie an die Wand kleben. Und jeder Wind bläst kontaminiertes Laub und anderes von den Hügeln runter …  

Wie ist es um den sozialen Frieden bestellt? 
Schwierig. Wenn man wegziehen musste, bekam man Entschädigung. Wohnte man hundert Meter weiter, außerhalb der Sperrzone, zählte man nur als freiwillig Evakuierter und bekam kein Geld. Das schürt Neid. Das erwähnte Ehepaar etwa, wenn das jetzt in sein altes, wieder freigegebenes Haus zurückkehren will, dann sagt ihr jetziger Vermieter: Ihr habt viel Geld, also müsst ihr für die Räumung eurer zwischenzeitlich genutzten Wohnung viel Geld bezahlen.  
Ich kenne auch einen Bauern, dessen Betrieb in der Zone liegt. Der kämpft energisch darum, auch für seine Tiere Entschädigung zu bekommen. Kriegt er dann 7.500 Euro pro Kuh, werden alle anderen neidisch. In der ganzen Präfektur, sagt seine Frau, habe man jetzt gesellschaftliche Konflikte. 

Waren Sie auch in der Sperrzone selbst?
2015 bin ich mal durchgefahren, die Straße von Norden nach Süden ist freigegeben. An jeder Kreuzung steht ein Wachmann und passt auf, dass niemand ohne Genehmigung abbiegt. Sonst sieht man niemanden. Und an allen Hauseingängen sind Gitter, gegen Diebstahl. 

Fukumoto Masao
Fukumoto Masao, 60, lebt als freier Journalist in Berlin. Der frühere Einkäufer eines japanischen Unternehmens in der DDR arbeitet heute vor allem für japanische Medien. Er beschäftigt sich viel mit Atomkraft, eines seiner Bücher behandelt die radioaktive Kontamination Deutschlands durch Tschernobyl. Mehrfach hat er in den vergangenen Jahren die Gegend um Fukushima besucht, zuletzt im Sommer 2017. Über seine Erfahrungen in Fukushima berichtet er auch in der Zeitschrift „Strahlentelex“

 

Wie hoch ist die Strahlung?
Auf der Straße selbst nicht so hoch. Aber an manchen Stellen sind Radioaktivitäts-Anzeigen angebracht, die sehr hohe Werte zeigen – wenn der Messpunkt neben der Straße liegt. Drei, vier Mikrosievert pro Stunde, das ist ziemlich viel. Und das zehn Kilometer vom AKW entfernt! 
Damals war ich auch in einer gerade zur Rückkehr freigegebenen Stadt, Naraha, südlich des AKW. Es war die zweite oder dritte freigegeben Ortschaft überhaupt. Das war gruselig, weil man dort fast keine Menschen sah. Die Messstelle am Rathaus zeigte 0,4 Mikrosievert pro Stunde – nicht wenig, aber noch erlaubt. Man hat versucht, für die Rückkehrenden was zu machen, hat provisorische Restaurants und Läden gebaut. Aber die werden überwiegend bloß von Dekontaminiationsarbeiter*innen oder welchen aus dem AKW besucht. Einheimische sind so gut wie keine zurückgekommen. 

Was ist die Ziel der Regierung? 
Sie will bis 2020, spätestens 2023 die gesamte Sperrzone wieder freigeben. Zu den Olympischen Spielen 2020 sollen Wettkämpfe in Fukushima stattfinden! 

Würde man rings um Fukushima jetzt eine Umfrage machen: „Für oder gegen Atomkraft?“ Wieviel Prozent wären dagegen? 
In ganz Japan ist eine kleine, aber eindeutige Mehrheit gegen Atomenergie. In Fukushima sind es etwas mehr. 

War das vor der Katastrophe auch schon so? 
Nein. Die AKW-Standorte haben unglaublich viel Geld bekommen. Die Mehrheit dort, vor allem aber die Politiker*innen, waren daher immer für die AKW. Und selbst wenn die Mehrheit der Bevölkerung gegen Atomkraft ist, so wählt sie doch Parteien, die für Atomkraft sind – auch heute noch. 

2011 gab es auch in Japan große Anti-Atom-Demos. 
Für japanische Verhältnisse sind sie noch immer ziemlich groß. Aber das Interesse nimmt ab. 

Was hat Sie am meisten erstaunt bei Ihrem Besuch in Minamisōma im Sommer? 
Wie aktiv einige Leute dort sind. Eine Initiative, die eine Messstelle betreibt, baut mit einem Landwirt zusammen Raps an – auf Feldern, auf denen wegen der radioaktiven Kontamination kein Reisanbau mehr möglich ist. Das sind alles alte Leute, die das machen. Aber sie haben extra eine Maschine gekauft, mit der sie den Raps ernten, und lassen dann Öl, Dressing und Majo daraus herstellen; künftig wollen sie auch das selbst übernehmen. 

Sind diese Produkte nicht auch kontaminiert? 
Die Radioaktivität bleibt in den Rückständen. Das haben sie von Tschernobyl gelernt. 

Interview: Armin Simon

Dieses Interview erschien ursprünglich im .ausgestrahlt-Magazin Nr. 39, Februar 2018

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4
Von den 54 Reaktoren, die vor dem Super-GAU in Japan Strom erzeugten, sind sieben Jahre später ganze vier wieder am Netz. Ein fünfter, im August 2016 wieder gestarteter Reaktor musste nach einem Gerichtsbeschluss im Dezember 2017 wieder vom Netz. Die Richter stuften die Risikoeinschätzung der Atomaufsichtsbehörde als unzureichend ein und warfen dieser „irrationales“ Handeln vor. 

26
Die Neuerkrankungsrate von Kindern und Jugendlichen an Schilddrüsenkrebs in der Präfektur Fukushima ist etwa 26 mal so hoch wie im Landesdurchschnitt. Allein von April 2014 bis März 2016 sind 49 zuvor gesunde Kinder neu an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Statistisch zu erwarten gewesen wäre gut eine Neuerkrankung pro Jahr. Insgesamt sind bei dem in Folge des Super-GAU eingeführten Screening in der Präfektur bisher 191 Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern und Jugendlichen entdeckt worden. 

5.000
Nach Angaben des AKW-Betreibers Tepco sind jeden Werktag im Schnitt mehr als 5.000 Arbeiter*innen auf dem AKW-Gelände mit Sicherungs- und Aufräumarbeiten beschäftigt. Alle drei Reaktoren, in denen es 2011 zur Kernschmelze kam, müssen weiterhin gekühlt werden; wie es in ihrem Innern aussieht, ist nur rudimentär bekannt. In allen dreien lagern zudem auch in den nahezu ungeschützten Brennelementlagerbecken noch Brennelemente; lediglich das Becken von Block 4 konnte bisher geräumt werden. 

„Politisch nicht gewollt“

Dr. med. Alex Rosen, Kinderarzt und im Vorstand der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW, über unerwünschte Gesundheitsstudien zu Fukushima, erschreckend viele Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern und den langen Arm der japanischen Atomlobby / Interview zum 5. Jahrestag von Fukushima/2016

Alex Rosen
Alex Rosen

Fünf Jahre ist der Super-GAU von Fukushima her. Ist das Schlimmste überstanden?

Nein. Wir fangen gerade erst an, die ersten Folgen zu sehen. Viele der durch radioaktive Strahlung hervorgerufenen Krankheiten haben eine Latenzzeit von Jahren oder Jahrzehnten. Zudem tragen sie kein Herkunftssiegel. Um die Folgen des Super-GAUs zu erfassen, muss man gezielte, gut angelegte epidemiologischen Studien machen, sonst findet man diese Fälle nicht und es geht im Grundrauschen aller Erkrankungen unter. 

Gibt es solche Studien in Japan? 

Immerhin eine – allerdings nur unter Kindern bis 18 Jahren, nur in Fukushima und nur speziell mit Blick auf Schilddrüsenkrebs. 

Wie unabhängig ist dieses Screening? 

Nun ja, wir haben nichts anderes. Durchgeführt wird die Studie von der Fukushima Medical University unter Leitung von Prof. Dr. Shunichi Yamashita. Dieser hat sehr enge Beziehungen zur Atomindustrie. Aufgefallen ist er durch seine „Beratung“ der Präfektur Fukushima 2011, trotz der radioaktiven Wolken aus dem AKW keine Jodtabletten zu verteilen. Selbst 100 Millisievert im Jahr seien völlig ungefährlich, behauptete er, und dass man, wenn man lächele, keine Folgen radioaktiver Strahlung zu erwarten habe. So ein Verharmloser also führt nun diese Studie durch. Es gibt zahlreiche Beschwerden von Elternverbänden und ÄrztInnen. Im Ergebnis wird die Studie das tatsächliche Risiko sicher unterschätzen. Gleichzeitig jedoch zeigt selbst sie bereits jetzt eine deutlich erhöhte Anzahl von aggressiven Schilddrüsenkrebsfällen, die wir in diesem Maß zu einem so frühen Zeitpunkt nicht erwartet hätten. 

Inwiefern? 

115 Kinder in der Präfektur mussten bereits operiert werden, weil ihr Krebs sehr aggressiv oder metastasiert war. 

Ist das nun viel oder wenig? 

Für die Studie wurden etwa 300.000 Kinder untersucht. Da würde man einen Schilddrüsenkrebsfall im Jahr erwarten, das ist der japanische Durchschnitt bei Kindern. Die Studie läuft seit vier Jahren, also hätte man vier Fälle erwartet, und zwar welche, die nicht unbedingt so aggressiv sind, dass man sofort operieren müsste. Stattdessen haben wir nun 115 gesicherte, aggressive Fälle sowie mehr als 100.000 Kinder, deren Zweituntersuchung noch aussteht, sodass die Fallzahl sicher noch steigen wird. Und das ist erst der Anfang, befürchten wir. 

Warum? 

Wegen der Latenzzeit von Schilddrüsenkrebs. Nach vier Jahren ist erst mit einem langsamen Anstieg zu rechnen. In Tschernobyl sind die Fallzahlen über Jahrzehnte angestiegen. 

Es gibt Studien, die versuchen, die insgesamt zu erwartenden Krebserkrankungen abzuschätzen. Darin ist die Rede von bis zu 22.000–66.000 Fällen. Wie passt das zusammen? 

Was man bisher sieht, sind ja nur die Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern, also eine sehr sehr seltene Form von Krebs, und auch davon nur die allerersten Fälle. Den Großteil der Krebserkrankungen werden aber die weitaus häufigeren Formen wie Brustkrebs, Darmkrebs, Leukämien und Lymphome ausmachen. Nur gibt es keine Studien, die das spezifisch untersuchen. Also werden wir auch in 20 Jahren keine belastbaren Zahlen hierzu haben. Das ist politisch auch nicht gewollt. 

Und die zu erwartenden 22.000–66.000 Krebsfälle? 

Diese Zahl beruht auf Abschätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur radioaktiven Belastung, der die Menschen in Japan durch den Super-GAU von Fukushima während ihres Lebens ausgesetzt sein werden – multipliziert mit einem Risikofaktor, der die bisherigen Erkenntnisse zu den Folgen radioaktiver Strahlung widerspiegelt. Wobei die Dosisannahmen der WHO wahrscheinlich niedriger sind als die real aufgenommenen Dosen. Wahrscheinlich wird die Zahl der Erkrankungen also noch deutlich höher liegen. 

Dr. med. Alex Rosen ist Kinderarzt in Berlin und sitzt im Vorstand der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW, wo er u.a. für das Thema Atomausstieg und Energiewende verantwortlich ist. Mit den gesundheitlichen Folgen der nuklearen Kette befasst er sich seit seinem Studium. Nach dem Super-GAU in Fukushima hat er zahlreiche Vorträge in Japan gehalten, arbeitet eng mit Wissenschaftlern aus aller Welt und der japanischen Anti-AKW- Bewegung zusammen, gibt einen monatlichen Fukushima-Newsletter heraus (www.fukushima-disaster.de) und hat kritische Analysen der Fukushima-Berichte von WHO/IAEO und UNSCEAR verfasst. 

 

Welche weiteren gesundheitlichen Folgen, jenseits von Krebs, sind aufgrund der Strahlenbelastung zu erwarten? 

Das Risko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu erkranken, steigt bei radioaktiver Belastung – auch wenn diese nur im Millisievert-Bereich liegt, also in den Größenordnungen, welche die meisten Menschen in Fukushima abbekommen. Darüber hinaus sind genetische Folgen zu erwarten: Nach Tschernobyl hatten wir einen Anstieg des Down-Syndroms, von Fehlbildungen, Totgeburten, Frühaborten. Und es gibt auch Erkenntnisse, dass selbst Kinder von strahlenexponierten Eltern ein erhöhtes Krebsrisiko haben. Das sind alles Sachen, die wir in den nächsten Jahrzehnten erwarten. 

Hunderttausende sind in den Tagen und Wochen nach dem Super-GAU evakuiert worden, viele hausen noch immer in Notunterkünften. Wie ist es um deren – auch psychische – Gesundheit bestellt? 

Der Verlust der Heimat und vielfach auch der Existenz ist ein gewaltiges Trauma. Bäuerinnen und Bauern, Fischerinnen und Fischer etwa, die nicht mehr arbeiten können, weil alles verseucht ist. Gleichzeitig fühlen sie sich nicht ernstgenommen und im Stich gelassen. Vielen droht eine Streichung der Hilfszahlungen, wenn ihre Heimatstädte für „dekontaminiert“ erklärt werden. Die Regierung will, dass sie dann zurückkehren. Viele Familien, Freundschaften, Nachbarschaften zerbrechen daran, weil etwa die Frau mit den Kindern sagt „Ich will nicht in einer verstrahlten Umgebung leben“ und zu ihren Eltern, Freundinnen oder Freunden zieht, während der Mann seinem Beruf nachgehen muss und zurückbleibt. 

Wie effektiv ist die Dekontamination der Städte und Siedlungen? 

Die hehren Versprechungen sind längst hinfällig: Man sieht, dass das nicht funktioniert. Der radioaktive Staub muss aus jeder Ritze gefegt und gekratzt werden – schon das ist mühsamste Handarbeit. 70 Prozent der Fläche der Präfektur Fukushima jedoch sind bergiger Wald, den kann man gar nicht dekontaminieren. Das bedeutet aber, dass mit jedem Sturm, Regenschauer und Pollenflug erneut Radioaktivität in die Wohngebiete kommt, auf die Spielplätze, in die Flüsse und auf die Felder. Erst neulich hat eine Studie nachgewiesen, dass es selbst außerhalb der Evakuierungszone immer wieder neue relevante Kontaminationen durch Cäsium‑137 gibt, vermutlich durch unachtsame Arbeiten auf dem Kraftwerksgelände. 

Dass Jodtabletten 2011, obwohl vorhanden, nicht verteilt wurden, spricht nicht gerade dafür, dass der Strahlenschutz der Bevölkerung an erster Stelle stand. Wie ist das heute? 

Man muss die enorme Macht der Atomlobby in Japan sehen. Die Macht, den Premierminister zu stürzen, weil er nach der Katastrophe gesagt hat: „Wir müssen aus der Atomenergie aussteigen“ – und die Macht, die politische Diskussion soweit zu prägen, dass trotz einer Mehrheit in der Bevölkerung für einen Ausstieg jetzt eine sehr starke Pro-Atom-Regierung wieder bestätigt wurde und erste Reaktoren wieder angefahren werden. 

Welches Ziel verfolgt diese Regierung mit Blick auf Fukushima? 

Sie will die Akte so schnell wie möglich schließen. Wir haben Berichte von Baseball-Vereinen und Orchestern, die von ihren japanischen Partnern ganz bewusst in die Präfektur Fukushima eingeladen werden. Selbst Teile der olympischen Spiele sollen in Fukushima stattfinden! Das ist ein ganz bewusster Versuch der Regierung, Gras über die Sache wachsen zu lassen und zurück zur Normalität zu kommen. Nicht der Strahlenschutz der Bevölkerung steht da an erster Stelle, sondern die wirtschaftlichen Interessen der Atomlobby. 

Das Interview führte Armin Simon

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Dieser Text ist ursprünglich im .ausgestrahlt-Magazin Nr. 30 (Januar 2016) erschienen.

alle Fotos von Alexander Tetsch aus dem  Bildband: Fukushima 360°

Studien zum Thema

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