Der Umgang mit schwach radioaktivem Material aus dem Reaktorumfeld, das beim Abriss der AKW anfällt, sorgt bundesweit für wachsenden Widerstand. Die Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) sieht vor, Atommüll mit niedrigem Aktivitätsniveau aus der atomrechtlichen Überwachung zu entlassen. Die sogenannten „freigegebenen“ Abfälle gelten dann trotz messbarer Radioaktivität rechtlich nicht mehr als radioaktiv. Sie werden wie normaler Industriemüll behandelt: recycelt, verbrannt oder auf Deponien verscharrt.
Grundlage für die Freigabe-Praxis ist das „10-Mikrosievert-Konzept“ – einer Erfindung der internationalen Atomenergie-Organisation IAEA –, demzufolge radioaktives Material als normaler Abfall beseitigt werden kann, wenn die dadurch verursachte zusätzliche jährliche Strahlenbelastung für eine Person aus der Bevölkerung im Niedrigdosisbereich bei etwa 10 Mikrosievert bleibt.
Das jedoch ist keine Strahlenschutzmaßnahme, sondern eine Methode, mit der Atomindustrie und Staat Lagerungskosten für radioaktive Abfälle einsparen. Mit Vorsorgeschutz hat es nichts zu tun: Das Weniger an Atommüllkosten bedeutet eine Erhöhung des Strahlenrisikos für die Bevölkerung durch die gezielte, weitflächige Freisetzung radioaktiver Stoffe.
Der Gesetzgeber hält das Strahlenrisiko für zumutbar, obwohl die Berechnungsgrundlagen umstritten sind und seitens der Wissenschaft kein Zweifel daran besteht, dass bereits niedrige Strahlendosen schwere Erkrankungen oder Erbschäden verursachen können. Das Strahlenschutzgesetz postuliert deshalb ein Minimierungsgebot. Demnach müssen vermeidbare Strahlenbelastungen auch unterhalb von gesetzlichen Grenzwerten unterbleiben. Mit der Freigabe-Regelung missachtet der Staat diese Vorschrift und nimmt vermeidbare Erkrankungen und Todesfälle billigend in Kauf.
Modellannahmen fragwürdig
Das 10-Mikrosievert-Konzept basiert auf dem Prinzip „verteilen, verdünnen, vermischen“. Und zwar so, dass am Ende theoretisch immer eine jährliche Strahlenbelastung von ungefähr 10 Mikrosievert herauskommt. Theoretisch deshalb, weil diese nicht mit Messungen ermittelt wird, sondern durch Annahmen und Modellrechnungen. Dafür werden Entsorgungspfade – Recycling, Verbrennung, Deponie – modelliert und jeweils Verdünnungs- und Vermischungseffekte in der Umwelt sowie die Aufnahme in den Körper prognostiziert. Die Modellierer*innen leiten davon ab, welche Radioaktivitätswerte und Mengen noch der 10-Mikrosievert-Vorgabe entsprechen. Der Rest ist Logistik: Die AKW-Betreiber zerlegen und schrubben Anlagenteile, messen einzelne Radionuklide – die sie selbst auswählen – und ordnen das radioaktive Material den Entsorgungspfaden zu. So landet dann etwa das Reaktorbecken auf einer Deponie, während schwächer strahlender Schutt – ohne Herkunftshinweis – im Haus- oder Straßenbau verarbeitet wird.
Das Konzept ist komplex und gleichzeitig nicht geeignet, die Komplexität der Wirklichkeit abzubilden. Das zeigt etwa eine Untersuchung, mit der das schleswig-holsteinische Umweltministerium den TÜV beauftragt hat. Die Gutachter*innen sollten prüfen, ob die spezifischen Bedingungen an sieben ausgewählten Deponien in Schleswig-Holstein den Vorgaben des 10-Mikro-sievert-Konzepts entsprechen. Eigentlich wollte das Ministerium mit der freiwilligen Prüfung Vertrauen schaffen. Das Gutachten zeigte jedoch für alle sieben Deponien unterschiedliche Abweichungen vom Theorie-Modell auf. Das Ergebnis stellt nicht nur die Einhaltung der jährlichen Dosisbegrenzung von 10 Mikrosievert an den untersuchten Standorten infrage, sondern zeigt auch die eklatanten Schwächen des Konzepts an sich auf.
AKW in der Konservendose
AKW-Betreiber und Atombehörden schätzen, dass 97 bis 99 Prozent der Gesamtmasse einer Atomanlage für die Abfallwirtschaft freigegeben werden. Mehr als 90 Prozent davon landen ohne Beschränkungen oder Nachverfolgung im Wertstoffkreislauf. Darunter auch radioaktiv belastetes Material – wie hoch dieser Anteil ist, ist nicht bekannt. Lediglich die Strahlenschutzverordnung gibt Aufschluss darüber, dass und bis zu welchem Grad radioaktive Kontaminationen für den zur Wiederverwertung freigegebenen Atomschutt rechtlich zulässig sind. Radioaktive Stoffe landen im Haus- oder Straßenbau, ohne dass die Bauleute wissen, dass sie mit kontaminierten Werkstoffen hantieren. Radioaktive Metalle werden eingeschmolzen und kehren unter Umständen unerkannt als Gebrauchsgegenstände wieder: Heizkörper, Töpfe, Konservendosen.
Da alle deutschen Atomkraftwerke nahezu zeitgleich abgerissen werden und der Materialfluss unkontrolliert ist, sind die erwartbaren Mengen enorm. Es besteht die Gefahr, dass sich radioaktives Recyclingmaterial mancherorts verdichtet und unerkannte Hotspots entstehen.
Zur Verbrennung von freigegebenem AKW-Abrissmaterial gibt es kaum Informationen. Klar ist aber, auch hier wird radioaktives Material „entsorgt“. Ein Teil gelangt über den Schornstein in die Umwelt, ein Teil bleibt im Filter der Müllverbrennungsanlage (MVA) hängen, der wiederum auf einer Deponie landet.
Die Deponien sind mengenmäßig in erster Linie durch Betonmassen aus dem Reaktorbereich betroffen, die aufgrund zu hoher Strahlenwerte nicht recycelt werden dürfen. Dass radioaktive Stoffe im Sickerwasser der Deponie landen und auf diese Weise weiterverteilt werden, ist Teil des Konzepts. Umstritten ist, wie lange die Abdichtungsfolien im Untergrund halten und den Weg ins Grundwasser versperren. Das Material wird in der Regel in Bigbags transportiert. Diese bieten jedoch keinen ausreichenden Schutz vor Partikelflug. Es besteht die Gefahr, dass radioaktive Teilchen verweht und eingeatmet werden.
Freigabe stoppen – Minimierungsgebot einhalten
Während die Betroffenheit durch das Recycling von radioaktiven Stoffen diffus bleibt, ist die Situation an den MVA- und Deponie-Standorten konkret. Entsprechend formiert sich dort der Protest. Ob in Baden-Württemberg, Niedersachsen oder Schleswig-Holstein: Landesministerien versuchen, die umstrittene Rechtslage durchzusetzen und die Beseitigung der radioaktiven Abfälle gegen den Willen von Bürger*innen, Kommunen und auch Deponie- und MVA-Betreibern zu erzwingen. Das Bundesumweltministerium als oberste Atomaufsicht bringt das Thema jedoch nicht auf die Agenda.
Die unkontrollierte Verbreitung von Radionukliden durch AKW-Abrissmaterial muss unverzüglich gestoppt und die Freigabepraxis beendet werden. Radioaktive Abfälle müssen atomrechtlich überwacht und sicher gelagert werden. Die gezielte Freisetzung von radioaktiven Stoffen, wie sie derzeit beim AKW-Abriss praktiziert wird, verursacht irreversible Schäden und ist mit dem Schutz für Mensch und Umwelt unvereinbar. Strahlendes Material muss am AKW-Standort verbleiben, bis die Bedingungen für ein langfristig sicheres und gesellschaftlich akzeptiertes Lagerungskonzept nach dem geltenden Minimierungsgebot hergestellt sind.
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