Explosion im AKW Fukushima Daiichi
Dieser Text stammt aus dem Jahr 2020 und beschreibt eine Situation vor dem Atomausstieg am 15. April 2023.

Atomunfall – sicher ist nur das Risiko

Ob technischer Defekt oder Flugzeugabsturz, Materialermüdung oder Unwetter, Naturkatastrophe oder menschliches Versagen – in jedem Atomkraftwerk kann es jeden Tag zu einem schweren Unfall kommen. Ein Super-GAU bedroht Leben und Gesundheit von Millionen.

Die hochradioaktiven Brennelemente im Reaktorkern eines AKW erzeugen eine unvorstellbar große Hitze, die permanent abgeführt werden muss – andernfalls droht eine Kernschmelze. Wie in Tschernobyl und Fukushima würden dabei große Mengen radioaktiver Stoffe ins Freie gelangen. Die Folge wären Gesundheitsschäden ungekannten Ausmaßes und eine radioaktive Wolke, die riesige Gebiete auf Jahrzehnte unbewohnbar macht. Im dicht besiedelten Europa würden Millionen Menschen Heimat, Haus und Arbeitsplatz verlieren.

Keines der drei noch laufenden Atomkraftwerke in Deutschland ist gegen den Absturz eines großen Passagierflugzeugs oder gegen ein starkes Erdbeben geschützt. Selbst Blitz, Sturm oder Hochwasser können zum Super-GAU führen. Mit zunehmendem Alter der Reaktoren steigt zudem die Gefahr: Material ermüdet, Bauteile fallen aus. Dass es hierzulande bisher nicht zu einer Reaktorkatastrophe kam, war mehrfach nur Zufall und Glück.

Bei einem schweren Atomunfall sind alle Pläne zum Katastrophenschutz Makulatur: Viel zu viele Menschen müssten in viel zu kurzer Zeit weiträumig evakuiert werden. Mit einer echten Haftpflichtversicherung, welche die bei einem Atomunfall zu erwartenden Schäden in voller Höhe abdeckt, wäre jedes Atomkraftwerk sofort unrentabel.

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FAQ: Risiko bei uns
Fragen und Antworten zum Sicherheitsrisiko von AKW bei uns
  • Ja, denn kein Atomkraftwerk weltweit ist wirklich sicher. Selbst Atomkraftbefürworter gehen wie selbstverständlich davon aus, dass es weitere Atomkatastrophen geben wird.1 Das Technische Hilfswerk (THW) will die Zahl seiner Helfer*innen mit Strahlenschutzkenntnissen mehr als verzehnfachen.2 Bis diese wieder gebraucht werden, ist nur eine Frage der Zeit.

    13Sat, Programmhinweise zur Dokumentation „Tabu Kernforschung“ am 29. Oktober 2015

    2Focus 15/2011, Interview mit THW-Präsident Albrecht Broemme

  • Ja und nein. Die heute noch laufenden Atomkraftwerke in Deutschland haben kein Grafit im Kern, ein Grafitbrand wie in Tschernobyl ist daher nicht möglich. Zu einem Super-GAU mit Kernschmelze kann es jedoch auch in Deutschland kommen. Die halbstaatliche Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) ermittelte 1989 in der „Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke, Phase B“, dass dabei fünfmal mehr Radioaktivität als in Tschernobyl freigesetzt werden könnte.1 Wegen der siebenmal größeren Bevölkerungsdichte wären zudem noch weit mehr Menschen ganz direkt betroffen. Und es gäbe sicher keine Hunderttausenden von Liquidator*innen, die die Katastrophe bekämpfen würden.

    1Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, Phase B

  • Ja. Erdbeben und Flutwellen fallen hierzulande zwar eher schwächer aus als in Japan, die Atomkraftwerke sind darauf aber auch weniger gut vorbereitet. Alle Atomkraftwerke in Deutschland liegen an Flüssen, die über die Ufer treten können, das AKW Neckarwestheim sogar in einer Senke unterhalb des Wasserspiegels. Und bei manchen Anlagen ist nicht einmal der grundlegendste Schutz gegen Erdbeben nachgewiesen. Dass ein Naturereignis deutlich stärker ausfällt, als man das bei Planung und Bau der AKW angenommen hat, kann also auch in Deutschland passieren. Darüber hinaus sind jede Menge andere Ereignisse, bekannte wie unbekannte, möglich, die zum Stromausfall, zum Ausfall der Kühlung oder auf andere Weise zum Super-GAU führen können: Unwetter, Kurzschlüsse, unbemerkte Fehler bei Bau oder Reparatur der Reaktoren, Materialschwäche, Risse, Ausfall von Bauteilen, Fehlbedienungen und Fehlverhalten der Betriebsmannschaft, Computerviren, Cyberattacken, Flugzeugabstürze, Angriffe von innen und außen und vieles mehr.

  • Der sogenannte Stresstest war ein Fragebogen an die AKW-Betreiber, in dem diese schildern sollten, wie ihre Reaktoren ihrer Meinung nach auf Ereignisse vorbereitet sind, für die sie eigentlich nicht ausgelegt sind. Themen waren etwa Erdbeben, Hochwasser, Stromausfall und Ähnliches. Die Betreiber antworteten nach Aktenlage, oft sogar ohne Belege, tatsächliche Prüfungen fanden sowieso keine statt. Dennoch erreichte kein einziger Reaktor in allen Punkten auch nur das von der Reaktorsicherheitskommission formulierten Sicherheits-Level 2, geschweige denn Level 3. Gleich komplett außen vor blieben all jene Ereignisse, die ein AKW eigentlich beherrschen müsste – was allerdings längst nicht in allen Reaktoren der Fall ist. Die als „Test“ bezeichnete Umfrage blendete also die vielen bereits bekannten gravierenden Sicherheitsdefizite der Anlagen schlicht aus. „Im Ergebnis“, resümierte der Reaktorsicherheitsexperte und ehemalige Chef der Bundesatomaufsicht Wolfgang Renneberg, „entspricht die Methodik einer Sicherheitsüberprüfung von Passagierflugzeugen, bei der eine altersschwache Maschine mit unzuverlässigen Triebwerken deshalb gut abschneidet, weil es noch Fallschirme an Bord gibt.“1

    1Focus online, 18. Mai 2011

  • Die Katastrophenschutzplanungen für Atomunfälle gingen bisher davon aus, dass Evakuierungen nur im Umkreis von zehn Kilometern um Atomanlagen nötig seien. Das war zwar schon immer absurd. Erst nach Fukushima jedoch sah sich die Politik unter Zugzwang. Auf Empfehlung der Strahlenschutzkommission beschlossen die Innenminister*innen im Juni 2014, die Evakuierungszonen rings um die AKW auf 20 Kilometer zu erweitern. Noch bis in 100 Kilometer Entfernung vom AKW soll die Bevölkerung im Zweifel künftig per Lautsprecherdurchsagen aufgefordert werden, sich tagelang im Haus zu verkriechen. Allerdings gehen die Minister*innen immer noch davon aus, dass die Freisetzung radioaktiver Stoffe maximal 50 Stunden andauert – in Tschernobyl zog sie sich elf, in Fukushima gar 25 Tage hin. Und sowieso halten die Minister*innen Evakuierungen erst ab einer zu erwartenden Belastung von 100 Millisievert für nötig, das ist fünfmal mehr als in Japan. Tatsächlich sind also auch die neuen Evakuierungszonen in den Katastrophenschutzplänen noch deutlich zu klein.1

    1.ausgestrahlt, Hintergrund Katastrophenschutz, 30. Juli 2014

  • Das Basler Prognos-Institut berechnete 1992 für das Bundeswirtschaftsministerium die Folgen eines Super-GAU im AKW Biblis. Ergebnis: etwa fünf Millionen Krebserkrankungen, die Hälfte davon tödlich. Etwa zehn Millionen Menschen müssten umsiedeln, weil ihre Heimat durch den radioaktiven Fallout dauerhaft unbewohnbar würde. Aus demselben Grund gingen Millionen von Arbeitsplätzen verloren.

    Den finanziellen Schaden eines solchen Unfalls taxierte die Studie auf 2.500 bis 5.500 Milliarden Euro – das ist das elf- bis 25-Fache des damaligen Bundeshaushalts.1 Ein schwerer Atomunfall käme also nicht nur einem gesundheitlichen, sondern auch einem volkswirtschaftlichen Zusammenbruch gleich, von den sozialen und politischen Folgen ganz abgesehen. Und die Zeche zahlen, wie in Japan aktuell zu beobachten, natürlich nicht die Unternehmen, sondern immer die Steuerzahler*innen.

    Das Bundesamt für Strahlenschutz hat 2012 die radiologischen Auswirkungen eines Unfalls ähnlich dem in Fukushima durchgerechnet. Bei der Simulation wurden Gebiete in bis zu 170 Kilometer Entfernung nach japanischen Maßstäben dauerhaft unbewohnbar – obwohl das Amt davon ausging, dass lediglich zehn Prozent der Radioaktivität aus dem Reaktor entweichen würden. Bei anderer Witterung und/oder Freisetzung von einem größeren Anteil des radioaktiven Inventars wären die Auswirkungen also noch gravierender.2

    1Ewers, Abschätzung der Schäden durch einen sogenannten „Super-GAU“, 1992

    2BfS, Analyse der Vorkehrungen für den anlagenexternen Notfallschutz für deutsche Kernkraftwerke basierend auf den Erfahrungen aus dem Unfall in Fukushima, 2012

  • Nein. Noch immer sind drei Reaktoren am Netz. In jedem von ihnen kann es jeden Tag zu einem schweren Unfall kommen. Der Wegfall der Brennelementesteuer machte sie für die Stromkonzerne wieder zu richtigen Goldeseln. Und im Windschatten der Klimakrise wittern Atom-Fans schon wieder Morgenluft – und werben für Laufzeitverlängerungen und neue Reaktoren.

    Schon einmal – nach dem rot-grünen „Atomkonsens“ 2001 – hatten sich viele Atomkraftgegner*innen darauf verlassen, dass die Reaktoren in einigen Jahren vom Netz gehen werden. Das Ergebnis war 2010 eine Laufzeitverlängerung selbst für die marodesten Uraltmeiler. Nur der Super-GAU in Fukushima und die massiven Anti-Atom-Proteste im Frühjahr 2011 haben diese wenig später wieder gekippt und das sofortige Aus für die acht ältesten Reaktoren erzwungen. Atomausstieg heißt, alle AKW (und auch die Atomfabriken in Gronau und Lingen) abzuschalten. So weit sind wir – leider – noch immer nicht.

Hintergrund

Eintritt frei - Sicherheitslücke Innentäter

Dieser Artikel erschien im .ausgestrahlt-Magazin Nr. 37, Oktober 2017

Jahrzehntelang konnten Personen auch ohne Zuverlässigkeitsüberprüfung ins Innere von AKW gelangen. Niemand bemerkte die Sicherheitslücke. Von Armin Simon

Herzlich Willkommen: Tor zur Hauptschleuse des Reaktors
Foto: RWE
Herzlich Willkommen: Blick in die Hauptschleuse des Reaktors

Ein Fax genügte und die Türen gingen auf: Der Zutritt selbst zu sensiblen Sicherheitsbereichen in deutschen Atomanlagen war offenbar jahrzehntelang auch ohne die gesetzlich vorgeschriebene Sicherheitsüberprüfung möglich. Das räumten Atomaufsichtsbehörden Ende August öffentlich ein. Vorausgegangen war eine Zufallsenthüllung bei der Jülicher Entsorgungsgesellschaft für Nuklearanlagen (JEN). Dort hatte ein Mitarbeiter offenbar im Alleingang 21 Personen Persilscheine ausgestellt, die nie eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen hatten oder deren Überprüfung schon länger als fünf Jahre zurücklag – ohne dass dies jemand bemerkt hätte.

Offiziell sind Betreiber und Atomaufsichtsbehörden verpflichtet, alle in Atomanlagen tätigen Personen vor deren Einsatz zu überprüfen. Dies geschieht etwa mithilfe von Anfragen beim Bundeszentralregister sowie bei Kriminalämtern und dem Verfassungsschutz. Doch um die Zahl der Anfragen gering zu halten, dürfen die Betreiber von Atomanlagen das Ergebnis einer solchen Überprüfung mit einer sogenannten Quermeldung an andere Betreiber weiterreichen; die betreffende Person wird dort dann nicht erneut überprüft. Diese Quermeldungen, das enthüllte der Fall aus Jülich, unterliegen offenbar seit Jahrzehnten keinerlei Kontrolle: Einzelne Mitarbeiter*innen konnten ungeprüft Faxe verschicken, die Personen gegenüber anderen Atomanlagen als sicherheitsüberprüft auswiesen. Einem Schneeballsystem gleich konnten diese den Persilschein dann wiederum ungeprüft weiterverbreiten.

Unerkannte Sicherheitslücken

„Solche Manipulationen sind untragbar“, empörte sich das baden-wüttembergische Umweltministerium nach deren Bekanntwerden. Tatsächlich hatten die Aufsichtsbehörden, die über die Sicherheit der Atomanlagen wachen sollen, das dubiose Quermeldungs-System, das den Betrug erst ermöglichte, offenbar nie hinterfragt. Das ist umso frappierender, als die Gefährdung atomarer Anlagen durch mögliche „Innentäter*innen“ seit vielen Jahren auch in Behördenkreisen Thema ist, insbesondere seit auch Szenarien für möglich gehalten werden, bei denen Angreifer*innen ihren eigenen Tod in Kauf nehmen und also nicht mehr fliehen müssen. Diskutiert werden dabei sowohl eigenständige Angriffe auf die Anlage von innen als auch Manipulationen und Sabotageakte, die einen Angriff von außen erleichtern oder den dadurch erzielbaren Schaden vergrößern könnten. Im März 2016 ordnete die belgische Regierung eine teilweise Evakuierung der AKW Tihange und Doel an, nur für den Betrieb unverzichtbare Personen durften bleiben. Offenbar sollten mit der Eil-Maßnahme mögliche Täter*innen aus den Anlagen entfernt werden.

Bloß ein Einzelfall?

Im Fall des Jülicher Mitarbeiters bemühen sich die Behörden nun um Schadensbegrenzung. Das Bundesumweltministerium ordnete die Überprüfung aller Quermeldungen aus Jülich der letzten fünf Jahre an, spricht aber bis heute nur im Konjunktiv von der seit Jahrzehnten unentdeckten Gefahr, die das manipulationsanfällige System mit sich bringt: „(…) da es damit potentiellen Tätern möglich wäre (sic!), sich unberechtigten Zugang zu kerntechnischen Anlagen zu verschaffen.“ Tatsächlich haben allein in den vergangenen fünf Jahren nach derzeitigem Stand 21 Personen unberechtigten Zutritt zu Atomanlagen in Deutschland erhalten, und das nur aufgrund der Manipulationen eines einzigen Jülicher Mitarbeiters. Ob auch andere Mitarbeiter*innen in anderen Atomanlagen gefälschte Quermeldungen verschickt haben und welche Kreise das zog, ist weiter ungeklärt und wird offenbar auch nicht überprüft. Das Bundesumweltministerium räumte Ende September lapidar ein, ihm lägen dazu keine Erkenntnisse vor.

Bund und Länder wollen im Oktober über „eventuell notwendige langfristige Änderungen zur Verbesserung der Manipulationssicherheit“ beraten. Baden-Württemberg forderte die Betreiber selbst auf, einen Vorschlag vorzulegen, wie „Manipulationen von Quermeldungen in ihren Anlagen (…) künftig zuverlässig verhindert werden“. Seine Pressemitteilung zu den eklatanten, jahrzehntelang unentdeckten oder ignorierten Sicherheitslücken überschrieb das Stuttgarter
Ministerium übrigens so: „Beim Betrieb von kerntechnischen Anlagen steht Sicherheit an erster Stelle.“  

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Gradiverende Fehler bleiben jahrelang unentdeckt

Die Sicherheits-Lüge

Seit Beginn der Atomkraftnutzung beteuern Aufsichtsbehörden und Betreiber, AKW seien „sicher“. Sie meinen: Sie entsprechen den für sie geltenden, in der Regel Jahrzehnte alten Sicherheitsanforderungen. Doch selbst die halten die Anlagen nicht unbedingt ein. Von Armin Simon

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Gravierende Fehler bleiben unentdeckt, bekannte Defizite ohne Folgen - und die AKW am Netz

„Wir sind jahrelang davon ausgegangen, dass die Beherrschung eines Flugzeugabsturzes und eines Erdbebens gewährleistet war. Und wir mussten feststellen, dass das nicht der Fall war, und zwar seit Errichtung der Anlage.“ Es ist der Leiter der Atomaufsicht im Stuttgarter Umweltministerium, der am 23. Februar 2017 im Fernsehen so über das AKW Philippsburg‑2 spricht. Und damit einräumt: Die angeblich so sicheren AKW in Deutschland erfüllen unter Umständen selbst grundlegende, unstrittige und von Anfang an geltende Sicherheitsanforderungen nicht. Der angenommene Zustand der Anlagen stimmt nicht unbedingt mit der Realität überein. Auch schwerwiegende Sicherheitsmängel können jahrzehntelang unbemerkt bleiben.

Unbemerkte Mängel

Es ist nicht der erste derartige Fall, auch nicht in Philippsburg‑2. Trotzdem durfte der Reaktor bisher nach jeder noch so beunruhigenden Entdeckung wieder ans Netz, immer nach dem Motto: Es lief zwar was falsch, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Was, wie das oben genannte Statement beweist, noch nie stimmte.

Dabei geht es nicht um einzelne Ausfälle von Bauteilen, wie sie – schlimm genug – auch in AKW immer wieder auftreten. Es geht um Konstruktionsfehler, die niemand ahnt, die niemand bemerkt, mit denen niemand rechnet. Um Abweichungen von den Plänen, die Basis der Sicherheitsanalysen und Genehmigungen sind. Um Betriebsregeln, die systematisch missachtet werden. Um angenommenen Schutz, der real gar nicht vorhanden ist. Um Sicherheitsanforderungen, die zum Teil jahrzehntelang nicht eingehalten werden. Weil es schlicht niemandem auffällt. Oder weil es niemanden interessiert.

Das sogenannte Sumpfsiebproblem ist so ein Fall: Bei einem Leck ausströmendes Reaktorkühlwasser kann Isolier- und anderes Material mit sich reißen. Der Theorie nach soll dieses Wasser unten im Sicherheitsbehälter, im sogenannten Reaktorsumpf, aufgefangen und von dort wieder in den Reaktor gepumpt werden, um diesen weiter zu kühlen. Doch eben diese Kühlung kann versagen, wenn der mitgerissene Schmutz die Siebe vor den Ansaugöffnungen der Pumpen verstopft. Expert*innen sagen diesen Fall, der am Ende zur Kernschmelze führen kann, bereits in den 1970ern vorher. Sie unterschätzen aber die Brisanz gewaltig. Das zeigt sich, als 1992 im schwedischen AKW Barsebäck ein falsch montiertes Ventil am Kühlkreislauf abreißt – ein kleines Leck, noch innerhalb des Sicherheitsbehälters. Doch statt zehn Stunden, wie vorhergesagt, dauert es ganze 25 Minuten, bis die Sumpfpumpen stottern und kein Wasser mehr in den Reaktor befördern: die Siebe sind dicht mit Isoliermaterial. Erst zweieinhalb Stunden später gelingt es der Betriebsmannschaft, die Verstopfung durch Rückwärtspumpen zu lösen.

An diese Rückwärtsgang-Idee klammern sich auch die AKW-Betreiber in Deutschland. Die Behörden sehen keinen Grund einzuschreiten. Erst 17 (!) Jahre später hält die Reaktorsicherheitskommission (RSK) in einem vertraulichen Protokoll fest, dass die angeblichen Nachweise der Betreiber „nicht in allen Aspekten nachvollziehbar sind“, das heißt: ungültig. Es dauert ein weiteres Jahr, bis Maßnahmen gegen die Verstopfungsgefahr laut Bundesumweltministerium zumindest „weitgehend umgesetzt“ sind. Alle AKW liefen derweil munter weiter.

Veraltete Standards

Oder der angebliche Schutz der Anlagen gegen Flugzeugabstürze, der sich jetzt in Philippsburg‑2, wie die Atomaufsicht einräumt, als Schimäre entpuppt hat: Die Lüftungskanäle für alle vier Notspeisesysteme sind anders montiert, als in den Bauplänen des AKW angegeben. Bei Erschütterungen können sie abreißen, was zum Ausfall der Notkühlung führen könnte. Das AKW hätte so niemals ans Netz gehen dürfen.

Trotzdem ist gut möglich, dass der grüne Umweltminister Franz Untersteller den Reaktor bald wieder ans Netz lässt: Wenn EnBW nachgewiesen hat, dass die Lüftungskanäle mehr als 32 Jahre nach Inbetriebnahme des AKW nun endlich den Anforderungen entsprechend montiert sind.

Selbst dann wäre Philippsburg‑2 allerdings nur gegen die Flugzeuge geschützt, gegen die der Reaktor bei seinem Bau ausgelegt werden musste. Das war ein „Phantom“-Jagdbomber. Abstürze von ungleich größeren Passagierflugzeugen mit mehr Kerosin im Tank galten damals als unvorstellbar.

Seit dem 11.9.2001 ist diese Einstufung obsolet: Abstürze großer Passagiermaschinen auf AKW zählen nicht mehr zum Restrisiko. Der Staat muss seine Bürger*innen daher vor den Folgen solcher Ereignisse schützen, stellt das Bundesverwaltungsgericht 2008 nochmals klar. Ein Gutachten im Auftrag des Bundesumweltministeriums hielt schon 2002 fest, dass kein Meiler einen Absturz einer großen Passagiermaschine sicher überstehen würde. Ernsthafte Konsequenzen für die AKW hatte das allerdings bis heute nicht: Dann müsste man sie ja abschalten.

 

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„Außerhalb der Kontrolle"

Gregory Jaczko - ehemaliger Chef der US-Atomaufsicht
Gregory Jaczko

Herr Jaczko, Aufsichtsbehörden und Betreiber betonen immer wieder, die AKW seien „sicher“. Trotzdem gab es schon drei Super-GAUs. Wo liegt das Missverständnis?
Gregory Jaczko, ehemaliger Chef der US-Atomaufsicht: Wenn Atomaufsichtsbehörden „sicher“ sagen, meinen sie, dass das AKW den für es geltenden Standards entspricht. Aber die sind nie so angelegt, dass sie jeden möglichen Unfall verhindern. Sie sind nur da, um sicherzustellen, dass die Anlagen in den meisten Fällen ohne Unfall laufen.

Was versteht die Öffentlichkeit, wenn sie das Wort „sicher“ hört?
Dass es nie einen Unfall geben wird und alles immer gut ist. Es gibt also einen großen Unterschied zwischen dem, was die eine Gruppe sagt, und dem, was die andere Gruppe hört.

Atomaufsichtsbehörden können also schwere Atomunfälle nicht verhindern?
Ganz klar nein – siehe Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima.

Vielleicht haben sie bloß ihren Job nicht gut gemacht?
Das ist sicher so. Es gibt immer etwas in der Art, dass die Aufsichtsbehörden von einem Problem wussten und nichts getan haben, was den Unfall hätte vermeiden können. Aber selbst wenn sie und der Betreiber immer alles richtig machen, können Dinge passieren, die außerhalb der Kontrolle von allen sind. Das Design der Reaktoren ist so, dass es immer Szenarien geben kann, die zu einem schweren Unfall führen.

Interview (März 2016): Armin Simon

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„Die Minister nutzen ihren Spielraum nicht“

Dieser Text ist ursprünglich erschienen im .ausgestrahlt-Rundbrief 28, Mai 2015
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Ulrich Wollenteit

 

Rechtsanwalt Ulrich Wollenteit über die Möglichkeiten der Atomaufsicht und der Umweltminister, AKW aus Sicherheitsgründen stillzulegen und so den Atomausstieg zu beschleunigen. Interview: Armin Simon

Herr Wollenteit, in den vier Jahren nach der Abschaltung des AKW Grafenrheinfeld soll nach Merkels „Ausstiegs“-Plan nur ein einziger weiterer Reaktor stillgelegt werden. Ist dieses Schneckentempo das letzte Wort?

Dr. Ulrich Wollenteit: In erster Linie ist es eine politische Frage, wann AKWs abgeschaltet werden. Beim rot-grünen „Atomkonsens“ aus dem Jahr 2000 beziehungsweise nach Fukushima hätte man durchaus auch kürzere Laufzeiten ins Gesetz schreiben können. Die nächste Frage ist dann: Was ist allein auf Basis des geltenden Atomrechts möglich? Das wird häufig unterschätzt.

Inwiefern?
Die Rechtsprechung gesteht den Atomaufsichtsbehörden im Prinzip das Recht zu, sicherheitsrelevante Fragen in eigener Verantwortung zu beurteilen. Wenn sie dabei bestimmte Spielregeln beachten, halten sich die Gerichte bei der Rechtskontrolle zurück. Diese sogenannte Einschätzungsprärogative steht jedem Landesumweltminister zu – und sie kann natürlich auch im Interesse eines Ausstiegs genutzt werden.

Rechtsanwalt Dr. Ulrich Wollenteit, 59 Jahre, Partner der auf Umweltrecht spezialisierten Kanzlei Rechtsanwälte Günther, hat das Urteil erstritten, mit dem die Genehmigung des Zwischenlagers Brunsbüttel aufgehoben wurde. Aktuell vertritt er Klagen gegen die AKW Brokdorf und Grohnde, gegen das Zwischenlager Unterweser und gegen Transportgenehmigungen nach Gorleben.

 

An was denken Sie?
Meine Vermutung ist, dass die Aufsichtsbehörden durchaus sehr genaue Kenntnisse von den Schwachstellen der Reaktoren haben. Ich kenne die zwar nicht, aber aus meiner langjährigen Erfahrung bei verschiedensten Prozessen um Atomkraft kann ich sagen, dass da doch immer wieder erstaunliches Wissen vorhanden ist, wenn man mal ein bisschen tiefer bohrt.

Bis auf Bayern sind derzeit in allen Ländern, in denen noch AKW laufen, grüne Umweltminister für die Atomaufsicht zuständig. Günstige Voraussetzungen also?
Natürlich darf eine Behörde nicht willkürlich entscheiden. Sie muss alle relevanten Auffassungen, die zu einem sicherheitsbedeutsamen Problem vertreten werden, sichten, berücksichtigen und bewerten. Wenn sie auf dieser Basis dann aber zu dem Ergebnis kommt, dass ein Sicherheitsproblem vorliegt und deshalb eine Nachrüstung oder gar die Stilllegung des Reaktors erforderlich ist, dann beanstanden das die Gerichte nicht, weil sie sich nicht für kompetenter halten. Auch wenn eine Genehmigungsvoraussetzung, die man früher angenommen hat, heute nicht mehr als gegeben angesehen werden kann, reicht das möglicherweise bereits für den Widerruf der AKW-Betriebsgenehmigung. Das zu beurteilen, liegt ebenfalls im Ermessen der Behörde. Ich denke da etwa an die Gefahr durch gezielten Flugzeugabsturz, ein Szenario, das man früher schlicht für unmöglich gehalten hat.

… und das bisher nur zu so Alibi-Vorkehrungen wie ein paar Nebelwerfern geführt hat.
Unter Experten ist es ein offenes Geheimnis, warum man in diesem Punkt nicht konsequenter handelt: § 18 Atomgesetz verspricht den Betreibern eine Entschädigung, wenn ihr Reaktor wegen eines Umstands stillgelegt wird, dessen Ursache außerhalb der Anlage liegt. Bei Terrorgefahren wird dies von vielen angenommen, weil die Gefahr nur mittelbar von dem Reaktor ausgeht. Der Paragraf meint zwar keinen echten Schadensersatz, in der Summe kann das also deutlich weniger sein. Aber ein Problem ist es trotzdem.

Gilt die Entschädigungspflicht in jedem Fall?
Nein. Das Risiko, dass eine Anlage aufgrund inhärenter technischer Risiken stillgelegt wird, trägt laut Atomgesetz allein der Betreiber. Wenn eine Aufsichtsbehörde ihre Anordnung also auf einen derartigen Schwachpunkt stützt, besteht keine Entschädigungspflicht – das ist eindeutig.

Gibt es Beispiele, wo eine Aufsichtsbehörde schon einmal auf eine solche Weise agiert hat? Frühere hessische Regierungen haben zeitweise sehr drastische Auflagen für Biblis verhängt. Das AKW ist sogar zeitweise stillgelegt und erst aufgrund einer bundesaufsichtlichen Weisung wieder angefahren worden. Ein solcher Vollzug ist also möglich – erst recht unter dem heutigen Atomgesetz, das ja nicht mehr die Förderung, sondern den Ausstieg aus der Atomkraft zum Ziel hat. Da ist juristischer Spielraum vorhanden, der nicht genutzt wird.

RWE hat die von CDU-Umweltminister Weimar damals erlassenen Auflagen, etwa den Bau einer verbunkerten externen Notstandswarte, nie vollständig abgearbeitet.
Die haben das verschleppt, ja. Das muss eine Aufsichtsbehörde aber an sich nicht hinnehmen. Wenn im Übrigen die Bundesatomaufsicht das Vorgehen der Behörde nicht blockiert hätte, wäre Biblis vielleicht sehr viel früher vom Netz gegangen.

Das Problem, dass die Bundesatomaufsicht per Weisungsrecht jede scharfe Anordnung einer Landesatomaufsicht unterbinden, aufheben oder konterkarieren kann, gibt es allerdings heute auch noch. Schon. Aber es ist die Frage, ob eine Bundesregierung das nochmal so machen würde wie damals in Biblis. Da war ja das Land in der Atomfrage noch viel gespaltener. Heutzutage gibt es klare und stabile Mehrheiten in der öffentlichen Meinung – für ein Abschalten der AKW.

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AKW-Schwachstellen
Reaktorgebäude, Kühlkreislauf, Elektrik – die Unsicherheitsfaktoren der AKW
  • Soll vor äußeren Einwirkungen schützen. 35 Zentimeter (Isar I) bis 1,80 Meter (z.B. Emsland) dick. Gegen ein großes Flugzeug schützt auch das nicht. Vor allem bei älteren Anlagen unzureichender Schutz gegen Erdbeben. Weitere Gefahren drohen durch Erdeinbrüche im Untergrund, Hochwasser und Überschwemmungen. Nachrüstmöglichkeit fraglich.

  • Soll bei einem Unfall die Strahlung einschließen. In Deutschland zumeist nur aus Stahl, bei alten Modellen viel zu klein und ziemlich dünn. Droht bei Unfall zu platzen oder binnen Minuten durchzuschmelzen. In anderen Ländern manchmal auch aus Stahlbeton, das lässt bis zu zwei Tage Zeit für die Evakuierung der Region. Nachrüstung eher nicht möglich.

  • Enthält den Reaktorkern mit den Brennstäben. Extreme Belastung durch bis zu 175 bar Druck bei bis zu 350 °C. Gefahr von Rissen durch Materialermüdung. Bei älteren Modellen noch nicht einmal nahtlose Schmiederinge. Austausch nicht möglich.

  • Oft hohen Drücken und Temperaturen ausgesetzt. Gefahr von Materialermüdung, Rissen, Lecks. Schweißnähte sind Schwachstellen. Auch bei Fehlstellung oder Fehlfunktion von Armaturen und Ventilen kann die Kühlung des Reaktorkerns versagen. Nachrüstung und Austausch nur zum Teil möglich.

  • Steuert Pumpen, Ventile, Sicherheits- und Notsysteme, überwacht Zustand des Reaktors. Planungsfehler, Pfusch bei Installation und Reparaturen, falsche Verkabelung, fehlerhafte Elektronik, Funktionsausfall durch Alterung gefährden die Funktion der Systeme. Neue Digitaltechnik ist nicht unbedingt zuverlässiger. In älteren Anlagen erhöhte Gefahr von Kurzschlüssen durch brüchige Isolierungen und mangelhaften Brandschutz. Nachrüstung nur teilweise möglich.

  • Soll die Kühlung des Reaktorkerns und die Sicherheitssysteme am Laufen halten, wenn der Strom ausfällt, etwa durch Unwetter. Fehlkonstruktion führte im AKW Forsmark (Schweden) im Sommer 2006 zum Beinahe-GAU. Auch hierzulande jede Menge Fehler in Planung, Aufbau und Ausführung, teilweise jahrzehntelang unbemerkt. Dieselgeneratoren sehr störungsanfällig. Neue Leittechnik kann Defizite im Anlagenkonzept nicht ausgleichen.

  • Bei Ausfall droht Kernschmelze. Risse durch Materialermüdung. Bei Siedewasserreaktoren (Kühlmittelverlust) wie Druckwasserreaktoren (Sumpfsiebproblem) GAU-Gefahr bei Lecks. In alten Anlagen geringere Kapazität und größere Gefahr, dass mehrere Stränge gleichzeitig ausfallen, Prüfbarkeit eingeschränkt. Nachrüstung nur teilweise möglich.

  • Soll den Reaktor fehlerfrei bedienen und im Störfall mit richtigen Eingriffen den GAU verhindern. Im AKW Philippsburg missachtete die Mannschaft sicherheitsrelevante Bedienvorschriften 17 Jahre lang unbemerkt. Menschliches Versagen lässt sich nicht vermeiden.

  • Wie in jedem Bereich haben sich auch bei Atomreaktoren die Sicherheitsanforderungen und die Reaktorbautechnik weiterentwickelt. Anlagen, die Ende der 60er-Jahre konzipiert wurden, sind daher deutlich unsicherer als etwa Konstruktionen aus den 80er-Jahren. Das lässt sich anhand vieler Parameter nachweisen.

    Grundlegende Defizite konnten und können auch millionenteure Nachrüstungen nicht beheben. Uralt-Meiler der ältesten Baulinien sind die AKW Biblis A und B, Neckarwestheim I und Unterweser (DWR 2. Baulinie) sowie die AKW Brunsbüttel, Isar I, Philippsburg I und Krümmel (SWR Baulinie 69). Die neun anderen AKW sind etwas moderner. Dem Stand von Wissenschaft und Technik, den das Atomgesetz fordert, entsprechen auch sie nicht.

Sonderfall Drosselkörper

Drosselkörper – ein mangelhafter Werkstoff

Am 15. Mai 2014 meldete Eon als Betreiber im Zuge der Revision des AKW Grohnde dem niedersächsischen Umweltministerium (NMU), dass ein Fremdkörper im Reaktordruckbehälter gefunden worden sei: ein zwei Zentimeter langes Teil einer Druckfeder eines sogenannten Drosselkörpers. Die Feder war doppelt gebrochen. Bei weiteren Untersuchungen stellte sich heraus, dass nicht nur eine, sondern sogar neun Druckfedern beschädigt waren. Eon behauptet, die Drosselkörper hätten „keine sicherheitstechnisch relevante Funktion“. Richtig ist: Defekte Drosselkörper können Schäden im Reaktor verursachen und das ordnungsgemäße Einfahren der Steuerstäbe behindern.

Seit 1978 ist bekannt, dass Drosselkörper mangelhaft sind – trotzdem sind sind sie bis heute in Reaktorkernen im Einsatz. Wir haben Fragen und Antworten zu den defekten Drosselkörpern im AKW Grohnde und anderswo zusamengestellt (Stand der Informationen: 25. Juni 2014)

  • Der Reaktorkern des AKW Grohnde – wie die AKW Brokdorf, Grafenrheinfeld und Philippsburg 2 Reaktoren der sogenannten „Vorkonvoi“-Reihe – enthält 193 Brennelemente. Am Kopfende von 132 dieser Elemente sitzen sogenannte Drosselkörper. Diese Bauteile sollen für den gleichmäßigen Fluss des Kühlwassers um die Brennstäbe herum sorgen. Die Drosselkörperfedern sind ein Teil dieser Drosselkörper; sie sollen diese auf Position halten, auch wenn die Brennelemente sich beim Erhitzen ausdehnen.

  • Durch Schäden am Drosselkörper können sich zum einen die thermohydraulischen Verhältnisse im Reaktorkern, also die Wasserströme durch die Brennelemente und somit deren Kühlung ändern – ein prinzipiell sicherheitsrelevantes Problem. 

    Zum anderen stellen lose Teile im Reaktorkern immer eine Sicherheitsgefahr dar. Bruchstücke der Druckfeder könnten, wie das Bundesumweltministerium einräumt, zum Beispiel Dampferzeuger-Heizrohre oder Brennstäbe beschädigen oder gar das vollständige Einfahren von Steuerstäben verhindern; letztere sollen eigentlich bei Bedarf die Kettenreaktion unterbrechen. Sind Brennelemente beschädigt, können radioaktive Stoffe ins Kühlwasser gelangen und über die Kühlwasserreinigung so auch mehr Radioaktivität in die Umwelt.

  • Da auch Dampferzeuger-Heizrohre mit zunehmendem Alter verspröden und sich Risse bilden, könnte selbst ein kleineres Bruchstück wie das einer Druckfeder an ihnen auch größeren Schaden anrichten. Je nach Größe des Lecks wäre dann ein Druckausgleich zwischen Primär- und Sekundärkreislauf nötig – borfreies Wasser aus dem Sekundärkreislauf könnte in den Primärkreislauf und den Reaktordruckbehälter gelangen. Trotz eingefahrener Steuerelemente könnte der Reaktor auf diese Weise wieder kritisch werden. Ein solches Szenario beschäftigt derzeit die Reaktorsicherheitskommission – der ehemalige Leiter des AKW Biblis hat es in seinem Buch „Der Störfall“ in Romanform beschrieben.

  • Zunächst war nur von einer gebrochenen Druckfeder an einem einzigen Drosselkörper die Rede. Auf Betreiben des niedersächsischen Umweltministeriums veranlasste Eon dann eine endoskopische Untersuchung aller Drosselkörper im AKW Grohnde. Dabei entdeckte der AKW-Betreiber weitere acht Druckfedern, die seit unbekannter Zeit beschädigt waren. Insgesamt waren also neun von 132 Druckfedern an Dosselkörpern beschädigt, darunter sechs einfach und zwei doppelt gebrochen; keiner weiß, wie lange schon. 

  • Ja. Bereits in den letzten Jahren hat Eon bei der Revision des AKW derlei Schäden entdeckt. Der Konzern tauschte die betroffenen Drosselkörper daraufhin einfach aus, ohne die Öffentlichkeit zu informieren. Auch eine formelle Meldung der Schäden an die Atomaufsicht unterblieb.

  • Eon hat nicht hingeschaut oder nicht aufgepasst. Die Körperschallüberwachung etwa, die eigentlich Schäden im Reaktorkern während des Betriebes entdecken soll, hat in diesem Fall offensichtlich versagt. Selbst bei den für diese Teile vorgesehenen regelmäßigen wiederkehrenden Prüfungen hat Eon die Federbrüche nicht bemerkt. Entdeckt worden ist der Schaden vielmehr erst während der diesjährigen Revision des AKW nach der Neubeladung des Kerns bei einer Inspektion mit einer Unterwasserkamera – und selbst das offensichtlich nur zufällig: In den vergangenen Jahren sind – trotz bereits aufgetretener Schäden! – Untersuchungen jedenfalls nur stichprobenweise erfolgt.

  • Ja. Eon gab am 2. Juni 2014 bekannt, dass auch im AKW Grafenrheinfeld bei einer Überprüfung vier kaputte Druckfedern an Drosselkörpern gefunden worden seien. Am 17. Juni 2014 ist eine sogenannte Weiterleitungsnachricht zum Thema – die offizielle Information und Warnung aller AKW-Betreiber durch das Bundesumweltministerium bzw. die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) – erfolgt.

  • Nein. Eon hat – wie schon in den Jahren zuvor – auch die aktuell entdeckten Schäden an den Drosselkörpern zunächst nicht als „meldepflichtiges Ereignis“ eingestuft. Auch dem niedersächsischen Umweltminister, der am 13. Mai 2014 drei Stunden lang im AKW Grohnde weilte, um sich über den zuvor bekannt gewordenen Generatorschaden zu informieren, erzählte Eon nichts vom da bereits bekannten ersten Drosselkörperschaden; lediglich die Fachbeamten wurden informiert. Erst Ende Mai 2014, als der AKW-Betreiber zum atomaufsichtlichen Gespräch ins Ministerium geladen war, zeigte er den Neunfachschaden aus dem Reaktorkern offiziell als „meldepflichtiges Ereignis“ an.

  • Die Druckfedern der bisherigen Drosselkörper am AKW Grohnde sind aus dem Werkstoff „Inconel X 750“ gefertigt. An dessen Eignung für den Einsatz in Atomkraftwerken gibt es seit mehr als 35 Jahren begründete Zweifel: Schon 1978 (!) traten erste Risse an Bauteilen im Reaktorkern auf. 1990 räumte selbst die schwarz-gelbe Bundesregierung „systematische Schäden an Konstruktionselementen aus dem Werkstoff Inconel X 750“ ein, darunter auch „Schäden an Federelementen“. Unter anderem traten 1983 im AKW Grafenrheinfeld, 1987 im AKW Grohnde, 1988 im AKW Brokdorf und 1989 im AKW Philippsburg 2 Risse an Brennelement-Zentrierstiften aus Inconel X 750 auf, außerdem 1985 an aus demselben Werkstoff gefertigten Schrauben im AKW Gundremmingen B. Inconel X 750, konstatierte die Regierung 1990, sei unter anderem bei Kontakt mit Wasser aus dem Kühlkreislauf von Atomkraftwerken besonders „anfällig gegen interkristalline Spannungsrisskorrosion“. Die meisten Bauteile, bei denen derartige Risse aufgetreten waren, mussten durch solche aus einem anderen Werkstoff ersetzt werden.

    Der „Spiegel“ schrieb bereits 1988: „Immerhin musste Töpfer erstmals öffentlich eingestehen, dass der Stoff, aus dem die Stifte sind, nicht viel taugt und zum Dauerproblem für die Atomindustrie geworden ist.“ Klaus Töpfer war damals Bundesumweltminister.

  • Nein. Die von Eon selbst beauftragte Untersuchung ergab lediglich, dass bei Druckfedern aus Inconel X 750 unter den im Reaktorkern vorherrschenden Bedingungen mit Federbrüchen zu rechnen ist. Eine eigene Untersuchung der stark strahlenden Bruchstücke, wie sie das Umweltministerium zunächst anstrebte, scheiterte daran, dass kein weiteres Labor diese kurzfristig hätte durchführen können.

  • Prof. Anton Erhard von der Bundesanstalt für Materialforschung (BAM), zugleich Vorsitzender des Werkstoffe-Ausschussses der Reaktorsicherheitskommission, empfahl den kurzfristigen Austausch aller Drosselkörper aus dem Werkstoff Inconel X 750.

  • Nein. Eon hat zunächst nur die neun beschädigten Drosselkörper durch neue aus dem angeblich leicht besseren Werkstoff Inconel X 718 ersetzt. Erst unter dem Druck des Gutachtens willigte der Konzern dann ein, zumindest 61 der 132 Drosselkörper gleich auszutauschen; die übrigen 71 sollen weiterhin erst bei der nächsten Revision im April 2015 folgen. Grund dafür ist, dass offenbar nur 61 neue Drosselkörper kurzfristig verfügbar waren, der Reaktor aber schnell wieder ans Netz sollte: Wirtschaftlichkeit geht hier vor Sicherheit.

  • Keineswegs. Was genau die Schäden in Grohnde verursachte, ist weder aufgeklärt noch ist die Ursache behoben. Die Druckfedern von mehr als der Hälfte der Drosselkörper im AKW Grohnde sind nach wie vor aus dem rissanfälligen Inconel X 750; in anderen AKW sieht es nicht besser aus. Schäden, Risse und Brüche sind also weiterhin jederzeit möglich. Sie sind sogar jeden neuen Tag noch wahrscheinlicher als bisher, denn mit zunehmendem Alter wird das Material immer spröder.

  • Die Atomaufsicht muss …

    • eindeutig klären, wie es zum Bruch der Drosselkörperfedern im AKW Grohnde kommen konnte und welche Folgen das für die Sicherheit und die Emissionen des Reaktors haben kann (Änderungen der Wasserströme durch die Brennelemente, Schäden an Brennelementen und Dampferzeuger-Heizrohren durch umhertreibende Bruchstücke, mögliches Auslösen eines „Wasserpfropfen“-Störfalls usw.),
    • sicherstellen, dass keine losen Teile im Reaktorkern umhertreiben können.

    Sie darf sich, insbesondere auch bei der sicherheitstechnischen Beurteilung möglicher Schäden und deren Folgen, nicht auf die Behauptungen von AKW-Betreibern und Atomindustrie verlassen, sondern muss externe Sachverständige heranziehen.

    Sie muss sicherstellen, dass es zu keinen weiteren Schäden im Reaktorkern kommt und dass defekte oder aus einem offensichtlich ungeeigneten Werkstoff hergestellte Bauteile umgehend ausgetauscht werden. Atomkraftwerke, die dies nicht nachweisen können, dürfen nicht ans Netz.

Das Bisschen Atomkraft