„Was man singen kann, kann man sich leichter merken“

19.05.2020 | Anna Stender

Gerd Schinkel, 69, Journalist und Liedermacher, bringt Klima- und Anti-Atom-Bewegung musikalisch zusammen und den Katastropheneinsatzplan des Kernforschungszentrums Karlsruhe in die „Mundorgel“.

2018: Gerd Schinkel vor dem AKW Lingen
Foto: Hanna Poddig
2018: Gerd Schinkel vor dem AKW Lingen

Ich bin seit Ende der Siebziger unterstützend mit Liedern anti-atom-aktiv. Ich habe damals Jura studiert und Abwechslung in der Musik gesucht. Für meine Bonner Gruppe „Saitenwind“ habe ich 1976 das Lied Der besondere Katastropheneinsatzplan geschrieben. Das wurde in der Anti-Atom-Bewegung schnell recht bekannt, weil es auf der Platte „Bauer Maas – Lieder gegen Atomenergie“ im Widerstand gegen den Schnellen Brüter in Kalkar rauskam. Später tauchte es auch in diversen Liedersammlungen auf, sogar in der „Mundorgel“.

Mein Vorbild war Phil Ochs, ein amerikanischer Liedermacher, der hat topical songs geschrieben, sozusagen eine Verbindung von Journalismus mit Musik: Er hat aus Schlagzeilen und Zeitungsartikeln Lieder gemacht, um sie auf Demonstrationen zu singen und Themen am Kochen zu halten. Ich habe angefangen, Lieder von ihm zu übersetzen und teilweise ganz neu zu texten, über Ereignisse, die hier jeder kannte, wie die Berufsverbote.

Der Basler Karikaturist Jürgen von Tomëi hat mir damals ein Buch über Schweizer Liedermacher in die Hand gedrückt. Darunter war Ernst Born, der hatte eine Ballade über das in der Nähe von Basel geplante Schweizer AKW Kaiseraugst geschrieben. Zusätzlich waren Originaldokumente ergänzend zum Text abgedruckt. In einer Ecke fand ich den Katastropheneinsatzplan fürs Kernforschungszentrum Karlsruhe. Da dachte ich mir, das Ding vertonst du.

Dieser Plan war wohl durch „Zufall“ an die Öffentlichkeit gekommen und ich dachte, was man singen kann, kann man sich leichter merken, und so kann man vielleicht Überlebenshilfe leisten (lacht). Was mich daran so fasziniert hat, war dieses Bürokratendeutsch. Ich habe das dann in Reime gebracht, nur die Schlussstrophe habe ich selbst geschrieben. Dass das tatsächlich vertonbar gewesen ist, fand ich sehr witzig.

Mein erster großer Live-Auftritt im Rahmen einer Anti-Atom-Protestaktion war im Oktober 1979 bei der Anti-Atom-Demo im Bonner Hofgarten, 100.000 Leute. Da war ich einer der wenigen Künstler*innen, die auf der Hauptbühne singen durften. Das war das größte Publikum, das ich je hatte.

Zu der Zeit habe ich noch mal was Ähnliches versucht. Nach dem Kernschmelz-Unfall in Harrisburg in den USA tauchte im „Spiegel“ eine Karte auf, auf der das Gefährdungsgebiet rund um Harrisburg um das AKW Stade herumgezogen war. Da habe ich mir vorgestellt, wie das wäre, wenn die Panik wächst und die Leute abhauen wollen: Harrisburg-Syndrom oder Störfall in Stade.

Mittlerweile haben ich und andere auch Fassungen für andere AKW geschrieben. So was lebt. Dann habe ich eine Weile lang wenig gemacht, da habe ich wegen meiner Arbeit als Radiojournalist pausiert. Lieder geschrieben habe ich aber immer. Als ich 2013 in den Ruhestand ging, habe ich eine Mail bekommen von Leuten aus Grohnde, die meinen Katastropheneinsatzplan auf YouTube gefunden hatten. So kam ich wieder zu einem Auftritt. Und da gab es eine ganze Menge Leute, die das Lied noch kannten und mitgesungen haben.

So bin ich wieder in die Bewegung reingewachsen. Bei einer Demonstration in Jülich bekam ich ein Flugblatt in die Hand gedrückt, da stand mein Katastropheneinsatzplan drauf. Ich bin bei den Leuten dabei, die die Demos in Lingen organisieren, ich habe mich bei Protesten in Tihange beteiligt, habe in Neckarwestheim und Langen bei Frankfurt gespielt, in Brokdorf, bei Schacht Konrad und in den letzten beiden Jahren auch in Gorleben bei der Kulturellen Widerstandspartie. Ich versuche auch immer, wenn was Neues ansteht, die Aktualität in den Liedern einzufangen und gegebenenfalls alte umzuschreiben.

Mittlerweile bin ich auch in der Klimaszene mit drin und mache dafür Lieder. Ich versuche aber auch, die Anti-Atom-Lieder da einzubringen, weil die ihre Relevanz nicht verloren haben. Da sind viele Jüngere, die überhaupt nichts von der Anti-Atom-Bewegung mitgekriegt haben. Manche befürworten sogar Atomenergie als Ersatz für fossile Energien. Und die Atomindustrie versucht immer noch, die Atomkraft als saubere Energie zu verkaufen. Da ist es mir sehr wichtig, diese Lieder zu spielen, die auch auf die Katastrophen eingehen, die es schon gegeben hat.

Als es mit „Fridays for Future“ losging, bekam ich einen Anruf von einer Frau, die im Hintergrund koordinierte, die sagte: „Die Kids wollen dich!“ Das war, nachdem ich Hambi bleibt geschrieben hatte. Ich fand es wohltuend, auf einmal junge Leute im Publikum zu haben. Ich mache ja auch andere, nicht politische Lieder, im Folk Club oder bei Wohnzimmerkonzerten. Aber das hören dann eben Leute meiner Generation. Junge findest du da nicht, die haben andere Musik. Aber bei „Fridays for Future“ waren junge Leute und die fuhren drauf ab. Das war irre! Ich hoffe, dass das Atomthema dadurch auch bei der Klimabewegung Thema wird.

Mit den Kritischen Aktionärinnen und Aktionären haben wir vor kurzem wegen der Hauptversammlung von RWE zusammengesessen. Wenn ich dann drauf hinweise, dass RWE auch an Lingen und an Urenco beteiligt ist, ist bei manchen Jüngeren das Problembewusstsein nicht so da. Anders ist es bei manchen Anti-Atom-Gruppen, die zugleich auch stark in der Klimabewegung aktiv sind. Da müssen wir uns die Bälle manchmal zuspielen, um das Thema wachzuhalten. Spannend war der Schulterschluss zwischen Atomkraftgegner*innen und Klimaschützer*innen, als Armin Laschet anbot, Braunkohlestrom nach Belgien zu schicken, wenn Tihange abgeschaltet wird. Das war so ein Schlüsselerlebnis, wo man sehen konnte, es bringt was, wenn wir uns zusammentun, man muss Atom und Kohle zusammen bekämpfen.

Im Moment ist ja wegen Corona alles lahmgelegt. Ich füttere meinen YouTube-Kanal jetzt täglich. Und ich bin bei den Online-Protesten dabei, die es statt Demonstrationen gibt. Ich hoffe darauf, dass es irgendwann wieder anders wird. Mit 69 und als Diabetiker gehöre ich ja zur gefährdeten Generation. Ich rechne eigentlich jeden Moment damit, dass jemand an der Haustür klingelt, um zu fragen, ob ich Hilfe brauche (lacht).

Gerd Schinkel
Foto: publiXviewing / Conradt

Mit meinen Liedern stoße ich auch auf Ablehnung, vor allem bei YouTube. Da gibt’s schon Beschimpfungen und Beleidigungen, vor allem für meine Lieder gegen Rechtsradikalismus. Und beim Thema Atom heißt es: „Was willst du denn? Das ist doch alles sicher!“ Das kenne ich aber von der Arbeit beim Radio auch. Leute, die was gut finden, sind wesentlich weniger ambitioniert, das auch zu äußern. Damals beim Katastropheneinsatzplan war das ganz anders, das Internet gab’s ja noch nicht. Bei Konzerten war die Reaktion sehr positiv, aber das waren ja auch oft alles Atomkraftgegner*innen. Oder die haben sich nicht geoutet, wenn’s ihnen nicht gefiel.

Vor drei Jahren hab ich sämtliche Anti-Atom-Initiativen angeschrieben, die ich gefunden habe, und ihnen angeboten, bei Demonstrationen oder anderen Anlässen aufzutreten – das gilt übrigens immer noch. Es haben sich zwei gemeldet oder drei, das war’s dann schon. Das hat mich dann doch ein bisschen enttäuscht. Mehr als kostenfrei anbieten kann man sich ja nicht. Vielleicht haben die lokale Musiker*innen, die sie lieber einsetzen. Oft ist es dann aber keine Musik zum Thema, sondern nur ein Unterhaltungselement zwischen den Reden. Ich finde immer, dass mit einem Lied, wenn es das Thema auf den Punkt bringt, manchmal mehr rüberkommt als bei einer schlecht gehaltenen Rede.

zur Webseite: https://gerdschinkel.jimdofree.com/

Dieser Artikel erschien zuerst im .ausgestrahlt-Magazin Ausg. 47 (Mai/Juni/Juli 2020)

 

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Anna Stender

Anna Stender kommt aus Münster und hat bereits in den Neunzigerjahren gegen Castortransporte nach Ahaus und Gorleben demonstriert. Sie ist studierte Fachübersetzerin und hat sich nach Stationen in Berlin, Köln, Bangalore, Newcastle-upon-Tyne und Jülich entschieden, in Hamburg zu bleiben. Seit 2020 ist sie als Redakteurin bei .ausgestrahlt, wo sie vor allem für den Print-Bereich schreibt.

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