Was ist los in Taishan?

18.06.2021 | Jan Becker
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Foto: EDF

Die Meldung von einer „bevorstehenden radiologischen Bedrohung“ in einem chinesischen Reaktor ließ international aufhorchen. Während die USA warnte, beschwichtigte China. Gab es einen schweren Störfall in dem Europäischen Druckwasserreaktor, der erst 2018 in Betrieb genommen wurde?

Es brauchte zwei Tage, bis Chinas Atomaufsicht ein Leck im südchinesischen Atomkraftwerk Taishan zwar weiter bestreitet, aber offiziell Probleme mit Brennstäben eingeräumt hat. Es seien „schätzungsweise fünf der 60.000 Brennstäbe beschädigt“, wodurch es in Reaktor 1 einen erhöhten Wert an Radioaktivität im Kühlkreislauf gebe. Der Wert läge aber „innerhalb erlaubter Grenzen“, die „Betriebssicherheit des Atomkraftwerkes ist garantiert“, berichtet das Land, in dem weder eine kritische Berichterstattung noch Presse- oder Meinungsfreiheit existiert.

„Die Situation stellt eine unmittelbare radiologische Bedrohung für den Standort und die Öffentlichkeit dar, und Framatome bittet dringend um die Erlaubnis, technische Daten und Unterstützung zu übermitteln, die erforderlich sind, um die Anlage wieder in den Normalbetrieb zu bringen“, zitierte der US-Nachrichtensender CNN aus einem Schreiben von Framatome an die US-Regierung.

Die beiden 2018 und 2019 in Betrieb genommenen Blöcke vom Typ „Europäischer Druckwasserreaktor“ sind die ersten ihrer Art, die weltweit im Einsatz sind. Gebaut wurde das AKW vom französischen Staatskonzern Framatome (ehem. AREVA). Betreiber sind das chinesische Unternehmen CGNPC (70%) und Framatome (30%).

Schon Anfang April war ein Störfall bekannt geworden, kurzfristig sei dabei „eine geringe Menge an radioaktivem Gas“ freigesetzt worden. Nun berichtete CNN, dass der chinesische Mehrheits-Eigner Framatome über eine „Erhöhung der Edelgaskonzentration in unmittelbarer Nähe eines Reaktors“ informiert und um Hilfe gebeten habe. Frankreich habe wegen Handelsbeschränkungen mit China, die auch Informationen zu Atomtechnik umfassen, die US-Regierung involviert. Der Nationale Sicherheitsrat in Washington habe sich gleich bei mehreren Sitzungen damit befasst und sei Hinweisen in Bezug auf eine „bevorstehende radioaktive Bedrohung“ nachgegangen, so CNN. Framatome solle den chinesischen Behörden vorgeworfen haben, die Grenzwerte für die Strahlung um das Atomkraftwerk „mehr als verdoppelt“ zu haben, um es nicht schließen zu müssen.

„Anstatt Grenzwerte anzuwenden, die zur Abschaltung des Reaktors hätten führen sollen, haben sich die Chinesen dafür entschieden, die zulässigen Grenzwerte zu erhöhen, damit der Reaktor weiterbetrieben werden kann.“ (Yves Marignac, Direktor des WISE-Paris auf twitter)

Die chinesischen Behörden reagierten empört und wiesen jegliche Spekulationen über mögliche Gefahren für Gesundheit und Umwelt zurück. Die Umweltdaten seien allesamt im Bereich des „Normalen“, eine Erhöhung des Grenzwerts sei „nicht wahr“. Auch die Konzernleitung des Framatome-Mutterkonzerns Électricité de France gab Entwarnung. „Wir haben keine Dynamik eines Unfalls mit Kernschmelze“, versicherte ein Sprecher. Es handle sich um ein „Leistungsproblem“. Dass der Reaktor Edelgase in die Umwelt abgibt, sei bekannt „und auch vorgesehen“. Die erhöhten Werte im Innern des Meilers würden auf eine „mögliche Verschlechterung der Brennstoffhüllen hinweisen“ - was auch wiederum „normal“ bei der ersten Kernbeladung sei.

Mycle Schneider, Herausgeber des „World Nuclear Industry Status Report“, sprach von „sehr nebulösen“ Informationen, wundert sich aber über die konkrete Warnung der Franzosen gegenüber der USA vor unmittelbar bevorstehenden Problemen: „Dieser Satz, der Framatome da zugeschrieben wird, lässt zumindest aufhorchen. Es ist sehr ungewöhnlich für diese Firma, mit solch einem Statement nach draußen zu gehen“, so Schneider im SPIEGEL.

„Wie groß diese Gefahr tatsächlich ist, lässt sich aber nicht sagen.“ (SPIEGEL)

Das Atomkraftwerk liegt südlich von Hongkong an der Küste der Provinz Guangdong, mit 126 Millionen Einwohner*innen die bevölkerungsreichste und gleichzeitig die wirtschaftlich stärkste Provinz Chinas. Im 150 Kilometer-Umkreis des AKW Taishan leben fast 50 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Ganz Deutschland hat „nur“ 80 Millionen Einwohner*innen. Nachdem das AKW Fukushima havariert war, wurden knapp 500.000 Menschen in einem Radius von bis zu 40 Kilometern um das AKW evakuiert. Allein in der knapp 40 Kilometer vom AKW Taishan entfernten gleichnamigen Stadt leben fast 1 Millionen Menschen. Ein schwerer Unfall kann in einem Atomkraftwerk nie ausgeschlossen werden. Ein Super-Gau in dieser extrem bevölkerungsreichen Region hätte dramatische Folgen von bisher nie dagewesenen Dimensionen.

In der Region herrscht eine massive Stromknappheit, einige Fabriken mussten zeitweise die Produktion einstellen. Für eine Reparatur von Brennelement-Schäden muss der betroffene Reaktor vom Netz gehen und die defekten Elemente entladen werden. Nur so kann eine weitere Freisetzung von Radioaktivität in das Kühlwasser verhindert werden. Daran haben die Betreiber offenbar kein Interesse.

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Quellen (Auszug): derstandard.de, taz.de, heise.de, spiegel.de, wikipedia.org

 

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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