Vom Reaktor-GAU zum Welterbe?

06.01.2021 | Jan Becker
Foto: Alexander Tetsch

Während sich in Fukushima die Schwierigkeiten um die Bewältigung des Super-GAU vor fast zehn Jahren zuspitzen, will die Ukraine die Region um Tschernobyl zum „Welterbe“ erklären lassen. Um Touristen in die verstrahlte Landschaft zu locken.

Seit dem GAU von Tschernobyl sind 35 Jahre vergangen. Hastig wurden nach der Explosion von Reaktorblock 4 Ende April 1986 zehntausende Menschen evakuiert. Es gab tausende Tote und Verletzte. Das Gebiet rund um das AKW gehörte einst zum Stolz der Sowjetunion, wurde vom radioaktiven Material aus dem Reaktor verseucht, eine lebensfeindliche Atmosphäre entstand. Prypjat, einst für die Arbeiter*innen im AKW gebaut, ist seit dem GAU eine Geisterstadt. Die Natur mutiert: Heute gibt es um Tschernobyl sogar Pilze, die sich von Radioaktivität „ernähren“ sollen. Neben dem Sarkophag, einer gigantischen Metallhülle über dem Katastrophenmeiler, und fünf weiteren Reaktorblöcken im Abriss, befinden sich auf dem Gelände mehrere große Atommüll-Zwischenlager, in denen sich der hochradioaktive Abfall aus dem Betrieb der Anlage befindet. Die Sicherheitsbedingungen sind weit entfernt von deutschen Standards. Geplant wird derzeit mit einer Haltbarkeit aller Maßnahmen (Sarkophag und Zwischenlager) für etwa 100 Jahre.

Ausgerechnet diese Region will die Ukraine im März als UNESCO-Welterbe vorschlagen. Mit Stand 2019 umfasst diese Liste 1121 Stätten in 167 Ländern, darunter die Victoriafälle in Sambia und Simbabwe, die Pyramiden von Gizeh oder die Chinesische Mauer. Laut der UNESCO-Statuten müssen die Stätten von „außergewöhnlichem universellen Wert“, „Meisterwerke des menschlichen schöpferischen Genies“ oder „Zeugnisse einer untergegangenen Zivilisation“ sein. Oder sie haben eine „Verbindung zu bedeutenden Ereignissen“ - was in Tschernobyl zweifelsfrei der Fall ist.

Die Ukraine will mit dem Welterbestatus „die zerfallenden Gebäude auch für künftige Generationen erhalten“. Vor allem soll aber der Tourismus in der armen Region gefördert werden, der ohnehin boomt: 2019 kamen 124.000 Besucher – trotz des Strahlenrisikos. Urlaub in einer solchen Region müsste nach dem Minimierungsgebot des deutschen Strahlenschutzgesetz eigentlich verboten sein: radioaktive Niedrigstrahlung ist ein Jahrzehnte verharmlostes, nicht zu unterschätzendes Risiko für die Gesundheit. Gefährlich wird es zudem, wenn Touristen sich (verbotenerweise) „Souvenirs“ mitnehmen.

Der Super-GAU - eine unlösbare Herausforderung

Während die Ukraine also die Hinterlassenschaften von Tschernobyl „erhalten“ und vermarkten möchte, werden die Arbeiter*innen im japanischen Fukushima knappe zehn Jahre nach dem GAU vor neue, möglicherweise nicht lösbare Herausforderungen gestellt.

Nach neuen Messungen berichtet die japanische Atomaufsichtsbehörde NRA von „extrem hohen Radioaktivitätswerten“ an den Stahlbetondeckeln von den Blöcken 2 und 3. Die Strahlung betrage jeweils 10 Sievert/Stunde, laut NRA sei radioaktives Caesium-137 mit einer Aktivitätsmenge von 20 bis 40 Peta-Becquerel in den Zwischenraum zwischen der zweiten und dritten, jeweils 60 Zentimeter dicken Deckelschicht von Reaktor 2 eingedrungen. Ein Mensch kann 10 Sievert/Stunde maximal eine Stunde überleben. Diese Funde an den einzigen Direktzugängen zum Inneren des Reaktors würden sich „massiv“ auf den gesamten Prozess der Stilllegung auswirken, heißt es von der Behörde.

Das bisherige Konzept sah eine Flutung der Reaktorbehälter mit Wasser und einem anschließenden Abheben der Deckel vor. Von oben sollte dann der geschmolzene Brennstoff (Corium) entfernt werden. Eine in dieser Form technisch bislang nirgendwo realisierte Idee.

Caesium-137 hat eine Halbwertzeit von 30 Jahren, die Strahlung an den Deckeln nimmt also nur langsam ab. Damit muss der gesamte Prozess völlig neu geplant – oder sehr lange gewartet werden. Welche Rolle spielt es heute, dass der Betreiber des AKW schon kurz nach dem GAU versprochen hatte und bis vor kurzem betonte, dass binnen eines Jahrzehnts der geschmolzene Brennstoff geborgen werde? Expert*innen zweifelten schon damals an dem Projekt und dessen ehrgeizigem Zeitplan. Die „Bewältigung“ der Folgen einer schweren Reaktorkatastrophe dauert immer deutlich länger und ist deutlich komplizierter, als von den Verantwortlichen angekündigt. Und sie ist unendlich teuer.

Es sind Weltstätten der Warnung!

Mit den Stätten der GAUs, Tschernobyl und Fukushima, hinterlassen wir unseren nachkommenden Generationen keine Stätten von herausragender Architektur oder einmaliger Schönheit. Hier zeigt sich das wahre Gesicht der Atomenergie: das unkalkulierbare Risiko schwerer Störfälle mit unvorstellbar katastrophalen Folgen, für deren Bewältigung es derzeit nichtmal technische Möglichkeiten gibt. Es entstehen damit Weltstätten der Warnung!

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  • Atomare Geheimnisse – dramatische Folgen
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Quellen (Auszug): dpa, deutschlandfunk.de, fr.de, taz.de

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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