AKW Emsland: Risssuche mit Augen zu

17.12.2021 | Armin Simon
None
Foto: Miriam Tornieporth

Unvollständige Kontrollen im AKW Lingen: Niedersächsische Atomaufsicht ignoriert Betriebserfahrungen aus dem baugleichen AKW Neckarwestheim II. Sind längst weitere Risse unbemerkt entstanden?

Die niedersächsische Atomaufsicht nimmt mit halbherzigen Kontrollen das unbemerkte Entstehen weiterer Risse im AKW Emsland billigend in Kauf. Das zeigen die jüngsten Ergebnisse der Rissuntersuchungen am baugleichen AKW Neckarwestheim II.

Im AKW Neckarwestheim bei Stuttgart werden seit 2018 jedes Jahr neue Risse an den dünnwandigen, vom heißen Reaktorwasser durchströmten Dampferzeuger-Heizrohren nachgewiesen. Schon der Bruch nur eines einzigen der mehr als 16.000 Rohre wäre ein schwer zu beherrschender Kühlmittelverlust-Störfall. Unter ungünstigen Umständen könnte er sich bis zur Kernschmelze ausweiten. Betroffene Rohre müssen daher sofort verstopft und stabilisiert werden.
 
In der Folge der Rissfunde in Neckarwestheim wurden 2019 und 2020 auch Dampferzeuger-Heizrohre im baugleichen AKW Emsland überprüft, das von RWE betrieben wird. RWE beschränkte die Untersuchungen allerdings in zweierlei Hinsicht. Erstens ließ der Betreiber überhaupt nur 40 Prozent der Rohre im AKW Emsland durchleuchten. Zweitens untersuchte er auch an diesen jeweils nur ein kleines Teilstück an einem der beiden Rohrenden, dem sogenannten „heißen Ende“. .ausgestrahlt kritisierte dies schon 2019 als unzureichend. Die niedersächsische Atomaufsicht billigte das Vorgehen von RWE trotzdem – mit der Begründung, dass die Risse in Neckarwestheim ja stets nur am „heißen Ende“ der Rohre aufgetreten seien.

Die jüngsten Prüfergebnisse aus Neckarwestheim widerlegen diese Annahme allerdings deutlich. Denn anders als vom niedersächsischen Umweltministerium jahrelang unterstellt, wurden in Neckarwestheim jetzt auch Risse am sogenannten „kalten Ende“ der Rohre nachgewiesen. Diese Rohrenden wurden im AKW Emsland überhaupt nicht auf die gefährliche Spannungsrisskorrosion überprüft.

Gut möglich also, dass sich auch im baugleichen AKW Emsland nicht nur an den „heißen“, sondern auch an den „kalten Enden“ der Rohre Risse gebildet haben und weiterhin bilden. Risse aufgrund von Spannungsrisskorrosion, wie sie in den AKW Emsland und Neckarwestheim auftreten, können unvorhersehbar schnell wachsen. Auch tiefe und lange Risse, die die Stabilität der Rohre gefährden, sind nicht auszuschließen. Der niedersächsische Umweltminister Olaf Lies (SPD) muss deshalb eine sofortige und vollständige Überprüfung aller Dampferzeuger-Heizrohre im AKW Emsland anordnen und den Reaktor bis dahin von Netz nehmen.

Konsequenzen auch für das Eilverfahren gegen den Weiterbetrieb des AKW Neckarwestheim

Die Prüfergebnisse aus Neckarwestheim, wo drei Jahre lang nur Risse am „heißen Ende“ der Rohre entdeckt wurden und dann plötzlich auch am „kalten Ende“ auftraten, beweist zudem, dass sich Aufsichtsbehörden in sicherheitsrelevanten Fragen niemals auf angebliche „Betriebserfahrungen“ verlassen dürfen – weil diese im Zweifel von der Realität schnell überholt sind. Daraus sollte nicht zuletzt die baden-württembergische Atomaufsicht umgehend Konsequenzen ziehen. Diese hat den Antrag von Anwohner*innen, den Weiterbetrieb des AKW so lange zu unterbinden, bis die korrosiven Bedingungen in den Dampferzeugern des AKW beseitigt und damit die Gefahr weiterer Risse gebannt ist, bisher abgelehnt. Im noch anhängigen Eilverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof Mannheim stützt sich das baden-württembergische Umweltministerium zur Begründung maßgeblich auf angebliche „Betriebserfahrungen“ anderer AKW. Die fraglichen Risse hätten dort stets nur solche Formen angenommen, die nicht zum Abriss der Rohre führen könnten.
 
.ausgestrahlt, das die Klage der Anwohner*innen vor dem Verwaltungsgerichtshof unterstützt, hält diese Argumentation für nicht haltbar. Gerade weil sie stets nur vorläufig sind, können „Betriebserfahrungen“ keine Sicherheitsnachweise ersetzen. Im Fall des AKW Neckarwestheim II bedeutet das, dass wichtige Sicherheitsnachweise, die EnBW aufgrund der korrosiven Verhältnisse in den Dampferzeugern erbringen müsste, nicht vorliegen – weswegen der Reaktor bis auf Weiteres stillzulegen ist.

weiterlesen:

  • Alle AKW abschalten
    27.07.2021: Die noch laufenden Atomkraftwerke müssen sofort abgeschaltet werden, nicht erst Ende 2022. Einen Sicherheitsrabatt zum Ende der Laufzeit darf es nicht geben.
  • AKW Neckarwestheim‑2: Der unerkannte Störfall
    07.05.2021: Der ehemalige Chef-Atomaufseher im Bundesumweltministerium Dieter Majer fordert, das AKW Neckarwestheim‑2 sofort vom Netz zu nehmen: Nach allen vorliegenden Unterlagen bestehe die akute Gefahr eines schweren Atomunfalls. Die 2018 erstmals entdeckten Risse seien aufgrund der besonderen sicherheitstechnischen Bedeutung sogar als INES-2-Ereignis einzustufen, offiziell: „Störfall“.
  • Im roten Bereich
    05.02.2021: Eine Berechnung der Materialprüfungsanstalt Stuttgart zeigt: Mindestens vier der Riss-Rohre im AKW Neckarwestheim waren schon so stark geschädigt, dass ihr Versagen unter Störfallbedingungen nicht auszuschließen war – und das völlig unbemerkt.
  • Mehr zum Thema: Gefahr in Neckarwestheim
« Zur Blogübersicht
Armin Simon Profil-Bild

Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

blog via e-mail abonnieren
RSS-FEED
Blog als RSS-FEED abonnieren.
abonnieren »