Versorgungssicherheit? Nicht mit AKW

28.06.2022 | Jan Becker
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Foto: publiXviewing

Gleich zwei aktuelle Untersuchungen raten dringend davon ab, sich auf die Atomkraftwerke zu verlassen, wenn es künftig um eine „sichere“ Stromversorgung geht. Laufzeitverlängerungen als „Rundum-Sorglos-Paket“ für die Energiekrise zu verkaufen, ist „gezielte Augenwischerei“.

Die beiden Analysen wurden einerseits im Auftrag der Schweizerischen Energiestiftung (SES) vom Forschungsinstitut DIW und der Technischen Universität Berlin, andererseits im Auftrag der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy von Energy Brainpool angefertigt. Betrachtet werden unter vergleichbarer Fragestellung unsere Nachbarländer Schweiz und Frankreich. Im Fazit sind sich die Autor:innen einig: Atomkraftwerke fallen deutlich häufiger für die Stromproduktion aus, sie sind „weit weniger zuverlässig, als bisher angenommen“. Die Empfehlung: Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, wäre ein vollständiger Umstieg auf regenerative Energien „eine geeignete Möglichkeit“.

AKWs gefährden Versorgungssicherheit in der Schweiz

Der Bundesrat der Schweiz plant ein Energieszenario, bei dem sowohl das AKW Leibstadt als auch das AKW Gösgen bis ins Jahr 2035 weiterlaufen sollen. Für die Schweiz wurden nun vom DIW und FU Berlin zwei Szenarien für das Jahr 2035 aufgestellt: Das erste folgt den aktuellen politischen Plänen, das andere nimmt an, dass stattdessen 16 Gigawatt-Foltovoltaik-Anlagen gebaut werden.

„Die Sicherheit der Stromversorgung ist höher, wenn die Schweiz den Ausbau der Fotovoltaik vorantreibt und auf den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken verzichtet“, so Studienautor Mario Kendziorski. „Schweizer Atomkraftwerke sind ein erhebliches Risiko für die Versorgungssicherheit.“

Der Grund: Ausfälle in Atomkraftwerken nehmen mit dem Alter zu. Zwischen 2011 und 2020 gab es sieben ungeplante Schnellabschaltungen der Reaktoren in Leibstadt und drei Abschaltungen in Gösgen. In den Jahren zuvor und seit 1995 war es insgesamt lediglich sechsmal zu solchen Zwischenfällen gekommen. Das AKW Beznau 1 war zwischen 2015 und 2018 ganze 1100 Tage heruntergefahren. Das AKW Leibstadt musste 2016, 2018 und 2021 in längeren Phasen gewartet werden.

Besonders zwischen März und April, wenn die Speicherwasserkraftwerke aufgrund niedriger Wasserstände die geringste Leistung liefern können, würde ein Ausfall von Atommeilern „besonders starke Konsequenzen mit sich ziehen“, heißt es in der DIW-Studie. Es gäbe bei der Fotovoltaik natürlich gewisse Unsicherheiten bei der Prognose der Stromerzeugung, diese seien aber „viel besser kalkulierbar als bei der Atomkraft und können bei der Planung von vornherein berücksichtigt werden“. Hinzu komme, dass unmöglich alle Solarpanels gleichzeitig ausfallen.

„Die Schweizer Atomkraftwerke unterliegen großen Unsicherheiten, etwa durch ungeplante sicherheitsbedingte Ausfälle oder verlängerte Revisions- und Reparaturzeiten“, warnt deshalb Fabian Lüscher, Leiter Atomenergie bei der SES.

Schlechte Zahlen aus Frankreich auf Deutschland übertragbar

Am Beispiel Frankreich wird die Brisanz deutlich: Seit dem Jahr 2018 sind im Schnitt nur 66 Prozent der installierten AKW-Leistung abrufbar gewesen. Die Verfügbarkeit der Meiler für die Versorgung lag damit rund ein Drittel unter der von Gas- und Wasserkraftwerken, heißt es in einer Kurzanalyse von Energy Brainpool im Auftrag der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy. Laut der Analyse habe sich die Verfügbarkeit der dortigen Reaktoren langfristig im Schnitt um vier Prozentpunkte pro Jahr verschlechtert. Im April und Mai 2022 wurden historische Tiefstwerte erreicht, als mehr als die Hälfte der installierten Kraftwerksleistung stillstand.

Ursache dafür sind geplante Instandhaltungsmaßnahmen, Inspektionen aber auch strategische Drosselungen zur Einsparung von Brennstoff. Hinzu kommen Abschaltungen wegen Korrosion, die viele Meiler betreffen und ein bislang unkalkulierbares Ausmaß angenommen haben. In der Folge sind die Strompreise explodiert. Für das kommende Jahr prognostiziert der staatliche Betreiberkonzern EDF, dass sich die Versorgung mit Atomstrom weiter verschlechtert. 300 bis 330 Terawattstunden sollen produziert werden, was dem niedrigsten Wert seit 30 Jahren entsprechen würde.

„Die jahrzehntealten Atomkraftwerke sind kein Baustein einer sicheren Energieversorgung“, unterstreicht Sönke Tangermann, Vorstand bei Green Planet Energy. „Was bringt uns eine Erzeugungstechnologie, auf die wir uns nicht verlassen können, wenn es darauf ankommt?“

Im Fazit nimmt der Analyst Michael Claußner von Energy Brainpool Bezug auf die deutsche Situation. Bekanntlich wird die Verlängerung der Laufzeiten für die letzten drei Meiler – alle mehr als 30 Jahre alt – diskutiert: Für die Sicherheit der Energieversorgung wäre das „tatsächlich als weniger effektiv einzuordnen als nachhaltige Investitionen in andere Kraftwerkstechnologien“. Unklar ist der technische Nachrüstbedarf und auch, ob die AKWs dafür längere Zeit vom Netz genommen werden müssten. Bisher zurückgestellte sicherheitsrelevante Prüfungen und Instandhaltungsarbeiten müssten jedenfalls nachgeholt werden. Es fehlt Personal, Ersatzteile und vor allem Uran-Brennstoff. Wer behauptet, die drei letzten deutschen AKWs würden quasi als „Rundum-Sorglos-Paket“ russisches Gas und Öl ersetzen können, der betreibe „gezielte Augenwischerei“, so Tangermann.

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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