EU-Taxonomie: Kampf um die Pfründe

11.05.2021 | Julian Bothe
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In der sogenannten Taxonomie will die EU definieren, welche Wirtschaftstätigkeiten als nachhaltig anzusehen sind. Pro-Atom-Lobbygruppen und atomfreundliche Länder kämpfen mit aller Macht darum, dass auch Atomkraft dieses begehrte Label bekommt. Deutschland könnte das verhindern, will aber dasselbe für fossiles Gas erreichen. Es droht ein fataler Kuhhandel.

Die EU-Taxonomie ist das zentrale Vorhaben, mit der die EU die Finanzwirtschaft in Richtung eines „Green New Deal“ lenken will. Zukünftig dürfen nur noch solche Investitionen als „nachhaltig“ bezeichnet werden, die in einem ausführlichen Regelwerk – eben der Taxonomie – aufgeführt sind. Grundgedanke ist, dass Investitionen der Umwelt dienen sollen, ohne anderen Umweltzielen oder den Menschen zu schaden. Die EU-Verordnung selbst ist bereits verabschiedet, die Auseinandersetzung um die Umsetzung und konkreten Kriterien hingegen noch in vollem Gange. Die Regeln im Bereich Klimaschutz und Klimawandel-Anpassung sollen von 2022 an Anwendung finden, ab 2023 dann die anderen Bereiche.

Eine Klassifizierung im Rahmen der Taxonomie hat nicht nur hohe symbolische, sondern auch große praktische Relevanz. Das Label „von der EU als nachhaltig eingestuft“ wird den Zugang zu Finanzmitteln, staatlichen wie privaten, erleichtern. Es wird zur Begründung von Aktivitäten dienen und direkt wie indirekt Kosten und Umsetzbarkeit von Projekten positiv beeinflussen. Dementsprechend sind die Kriterien politisch stark umkämpft und Ziel zahlreicher Lobby-Aktivitäten. Insbesondere um die Einordnung von Atomkraft und fossilem Gas wird erbittert gerungen – beides Bestrebungen, die letztlich die ganze Taxonomie verwässern und untauglich machen würden.

In Bezug auf fossiles Gas wurden die im ursprünglichen Entwurf noch hohen Hürden im weiteren Prozess bereits durch zahlreiche Schlupflöcher aufgeweicht. Diverse süd- und osteuropäische Länder drängen darauf, fossiles Gas als „nachhaltig“ zu kategorisieren. Auch die Bundesregierung bezeichnet den Neubau von Gaskraftwerken als notwendige Übergangstechnologie für die Energiewende und will Erdgas daher entsprechend labeln.

Die Auseinandersetzungen um fossiles Gas und Atomkraft führten zuletzt zu überraschenden Entwicklungen: Laut eines Ende April veröffentlichten Vorschlags werden beide Technologien aus dem Regelwerk vorläufig ausgeklammert; eine Entscheidung zu beiden soll erst im Herbst 2021 fallen. Der Streit wird damit absehbar verlängert.

Atomkraft in der Taxonomie

Die Atomindustrie und atomfreundliche Staaten sehen in der Taxonomie die einmalige Chance, der Hochrisikotechnik ungeachtet der durch sie verursachten schweren Umwelt- und Gesundheitsschäden ein grünes Mäntelchen umzuhängen. Entsprechende Bestrebungen, Atomkraft als „kohlenstoffarm“ zu branden und damit argumentativ auf eine Stufe mit den Erneuerbaren Energien zu stellen, gibt es seit vielen Jahren auf unterschiedlichsten Ebenen. Ein „Nachhaltigkeitslabel“ würde der seit Jahren im Niedergang befindlichen und unter Marktbedingungen nicht wirtschaftlich zu betreibenden Atomkraft neue Chancen eröffnen. Instandhaltungsmaßnahmen, Laufzeitverlängerungen, AKW-Neubauten oder auch die Erzeugung von Wasserstoff mit Atomstrom (siehe Seite 20) wären bei einer Aufnahme von Atomkraft in die EU-Taxonomie deutlich einfacher zu realisieren, wohingegen eine klarer Ausschluss sie stark einschränken würde.

Im Auftrag der EU-Kommission hat eine sogenannte Technische Expert*innen-Gruppe (TEG) bereits 2019 wissenschaftliche Grundlagen für die Kriterien der Taxonomie ausgearbeitet. In ihrem Bericht kam sie zu dem Ergebnis, Atomkraft nicht als nachhaltiges Investment zu bewerten. Insbesondere das sogenannte „Do no significant harm“-Kriterium sei nicht erfüllt: Aktivitäten, die einzelnen Umweltzielen dienen, dürfen den anderen Zielen nicht zugleich schaden. Als Beispiel nannte die Gruppe unter anderem die vielen ungelösten Fragen bei der Entsorgung des strahlenden Atommülls.

Begutachtung durch ein Atominstitut

Wie eine Auswertung der NGO „Reclaim Finance“ belegt, intensivierten Lobby-Gruppen wie das europäische Atomforum in der Folge ihre Bemühungen: Während sich bereits seit 2018 Atomlobbyist*innen im Schnitt einmal im Monat mit EU-Offiziellen trafen, verdoppelte sich die Frequenz der Treffen in den Monaten nach der Veröffentlichung des TEG-Berichts.

Auf politischer Ebene konnten sich die Europäische Kommission und das Europäische Parlament in mehreren Anläufen nicht darauf einigen, Atomkraft aus der Taxonomie auszuschließen. Frankreich, das Vereinigte Königreich (damals noch EU-Mitglied) und mehrere osteuropäische Länder drängten zwar auf eine Aufnahme, andere Länder lehnten dies jedoch explizit ab. Heraus kam ein Kompromiss: Atomkraft sollte, anders als die übrigen Technologien, noch einmal in einem zweiten Bericht begutachtet werden. Dieser sollte ursprünglich geheim bleiben und – im Gegensatz zum üblichen Vorgehen – nur durch zwei interne Gremien geprüft werden.

Beauftragt mit dem zusätzlichen Bericht wurde allerdings ausgerechnet das Atomforschungsinstitut der EU in Karlsruhe. Das macht den Bock zum Gärtner: Die heute als Zweigstelle des „Joint Research Center“ (JRC) der EU firmierende Einrichtung, einst als „Plutonium-Institut“ gegründet und bis 2016 Institut für Transurane (ITU) genannt, wird seit den 1950er Jahren von der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) mitfinanziert, deren explizite Aufgabe die Förderung der Atomenergie ist. Zugleich ist es seit Jahren mit Forschungen für neuartige Atomreaktoren der „Generation IV“ befasst.

Der eigentlich geheime Bericht gelangte Ende März doch an die Öffentlichkeit. Wenig überraschend kommt das Institut darin zu dem Ergebnis, dass Atomenergie weder Mensch noch Umwelt schade. Zahlreiche Umweltorganisationen europaweit kritisierten, dass das Papier die zahlreichen Probleme der Atomkraft hinter wohlklingenden Formulierungen und rhetorischen Tricks verstecke. Beispielsweise heißt es in dem Bericht, dass neue Reaktoren der sogenannten 3. Generation zu einer Erhöhung der Sicherheit führen würden – obwohl kein einziger Reaktor diesen Typs in Europa am Netz ist und sich die in Bau befindlichen Reaktoren in Flamanville, Hinkley Point und Olkiluoto durch massive technische Probleme auszeichnen. Der Bericht sieht auch das Atommüll-Problem als gelöst an, weil der Strahlenmüll ja in tiefengeologischen Lagern deponiert werden könnte – auch hier, ohne darauf einzugehen, dass dieses Versprechen bereits Jahrzehnte alt ist, und ohne dass weltweit auch nur ein einziges funktionierendes tiefengeologisches Atommüll-Lager in Betrieb wäre.

Insgesamt nimmt der Bericht Probleme der Praxis gar nicht erst in den Blick, da er nur auf Theorien, Gesetze und Modelle schaut. Probleme, die auch durch diesen Trick nicht auszublenden sind, entschärft er unter Verweis auf zukünftige oder hypothetische technische Entwicklungen. Beides sind Muster, mit denen Atomkraftbefürworter*innen seit vielen Jahren argumentieren.

De facto ist die Einordnung der Atomkraft im Rahmen der Taxonomie ein politischer Prozess, bei dem wissenschaftliche Fakten gerne auch mal übergangen werden. Dies zeigen schon die weiteren Aktivitäten: Kurz vor Bekanntwerden des JRC-Berichts wandte sich der französische Präsident gemeinsam mit den Regierungschefs sechs weiterer Länder an die EU-Kommission und forderte erneut eine „aktive“ EU-Unterstützung für Atomenergie.

Zuletzt gab es Gerüchte, dass Frankreich hinter den Kulissen darauf hinwirke, den allgemeinen politischen Prozess der Taxonomie so lange aufzuschieben, bis der „geheime“ JRC-Bericht intern geprüft sei – um zu vermeiden, dass die Taxonomie ohne Entscheidung über die Atomkraft-Frage verabschiedet wird. Dieser Vorstoß scheiterte. Stattdessen soll nun zusätzlich auch die Entscheidung zu fossilem Gas ausgegliedert werden.

Showdown im Herbst

Die Auseinandersetzung um die Einstufung der Atomkraft geht damit weiter. Spätestens ab Juni, nach mehrmonatiger geheimer Begutachtung des JRC-Berichts, wird sie erneut in der EU-Kommission und im Europäischen Parlament diskutiert werden. Der Haltung der Bundesregierung wird dabei eine Schlüsselstellung zukommen. Gegen den erklärten Willen Deutschlands wird Atomkraft nur schwer in die EU-Taxonomie aufgenommen werden können. Allerdings droht nun erneut eine Art Kuhhandel: Deutschland hat nämlich großes Interesse, dass auch Erdgas-Projekte in der Taxonomie als „nachhaltig“ eingestuft werden. Deshalb ist es wichtig, öffentlich Druck gegen die Aufnahme von sowohl fossilem Gas als auch Atomkraft in die Taxonomie zu machen.

Umwelt-Staatssekretär Jochen Flasbarth zufolge will das Umweltministerium einer „Einstufung von Atomkraft als ‚nachhaltig‘ niemals zustimmen, weil es schlicht falsch wäre.“ Als Entwarnung darf man das jedoch nicht werten – auf die Meinung des Umweltministeriums kommt es im Zweifelsfall am Ende nicht an. Die Begründung aber ist richtig – und daran gilt es die Bundesregierung zu erinnern, insbesondere die Bundeskanzlerin, den Bundesfinanzminister und den Wirtschaftsminister. Länder wie Österreich, Dänemark oder Luxemburg vertreten die Forderung nach dem Ausschluss von Atomkraft in Brüssel bisher jedenfalls deutlich klarer.

weiterlesen:

  • FAQ: Fragen und Antworten zum Atomkraft- und Gas-Streit im Zusammenhang mit der EU-Taxonomie findest Du unter ausgestrahlt.de/eu-taxonomie
  • Die richtig schmutzigen Atom-Deals: EU-Taxonomie mit Hintertür für Atomkraft
    24.3.2021: Zusammengefasst: Es fliegen die Fetzen und die Atomlobby drängt weiter darauf, dass Atomkraft als nachhaltig eingestuft wird. Denn wenn die neuen europäischen Kriterien für grünes Investment, die EU-Taxonomie, die Hochrisikotechnik endgültig ausschließen würde, würde das für die Atomlobby nicht nur PR-Schäden bedeuten, sondern vor allem finanzielle Einbußen.
  • Europäischer Atomstreit
    4.2.2020: Atom-Fans in der EU versuchen, Atomkraft Zugang zu günstigen Krediten und Fördertöpfen zu verschaffen. Atomkritische Staaten halten dagegen. Heraus kommen bisweilen Kompromissformeln, die den Streit weiter vertagen.
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Julian Bothe

Julian Bothe arbeitet bei .ausgestrahlt zum Thema Klimakrise und Atomkraft. Er ist ausgebildeter Geograph und beschäftigt sich seit langem mit Energiefragen. Seit seiner Jugend ist er aktiv in sozialen Bewegungen – für Bewegungsfreiheit, Energiedemokratie und Klimagerechtigkeit.

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