„Die Stilllegung ist auf den Protest zurückzuführen“

02.11.2021 | Anna Stender
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Foto: privat

Karsten Hinrichsen, 78, Meteorologe, lebt in Sichtweite des AKW Brokdorf, gegen das er seit Jahrzehnten kämpft. Am 31. Dezember geht der 35 Jahre alte Reaktor für immer vom Netz. Ein Porträt.

Ich war 1976 an der Uni Hamburg beschäftigt, und die evangelische Studierendengemeinde hatte eingeladen zu einer Diskussion über Atom. Ein Film, der dort gezeigt wurde, der die gesundheitlichen Probleme eines Arbeiters in der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague darstellte, hat mich so sehr beeindruckt, dass ich gleich in die Anti-AKW-Bewegung eingestiegen bin. Damals klagten mehrere Gemeinden und Privatpersonen gegen die Standortgenehmigung für das AKW Brokdorf. Als Meteorologe, der sich mit der  Ausbreitung von Schadstoffen auskannte, hat mich die wissenschaftliche Begleitgruppe mit offenen Armen aufgenommen.

Der Prozess konnte den Bau des AKW vier Jahre aufhalten, weil die Gerichte der Meinung waren, dass die Endlagerung des Atommülls nicht geregelt war. Dann haben sich Bund und Länder darauf verständigt, dass eine Endlagerung als geregelt angesehen werden kann, wenn ein Nasslager vorhanden ist, in dem die abgebrannten Brennelemente sechs Jahre lang bleiben können, und zugleich ein Endlager gesucht wird. Damit konnte der Bau dann weitergehen.

Einige Ereignisse aus der Zeit der großen Demonstrationen gegen das AKW Brokdorf werde ich nie vergessen, die haben sich auch in das kollektive Gedächtnis eingegraben: die Hubschrauber bei der großen Demo im Februar 1981 etwa, die direkt über unseren Köpfen flogen und regelrecht Jagd auf Demonstrierende gemacht haben. Oder die Polizeisperre in Kleve am Rande der Wilstermarsch, wo die Polizei im Juni 1986 Autos von Demonstrierenden zerschlagen hat. Die Leute wurden extrem hart behandelt und die zertrümmerten Autos standen noch monatelang herum. Kurz darauf mussten im berühmten Hamburger Kessel mehr als 800 Menschen, die sich als Reaktion auf diesen Vorfall spontan versammelt hatten, einen ganzen Tag lang von Polizist*innen umringt ausharren.

„Unsere Hoffnung war, dass wir einen Unfall als Erste mitbekommen, wenn was passiert, und dann fliehen können. Irgendwann haben wir uns auch nicht mehr jeden Tag Gedanken darüber gemacht.“

Diese Demonstrationen waren sehr wichtig – nicht nur, weil sie den großen Protest gegen das AKW deutlich machten, sondern auch, weil sie die Rolle des Staates in der Auseinandersetzung um die Atomkraft offenlegten. Behörden und Polizei haben sich damals aus meiner Sicht wirklich als Büttel der Atomlobby geriert. Und die höchsten Gerichte haben in mehreren Urteilen im Nachhinein festgestellt, dass sie sich dabei auch unrechtmäßig verhalten haben. Diese wegweisenden Urteile haben die Demonstrationsfreiheit maßgeblich gestärkt – davon profitieren wir auch bei heutigen Auseinandersetzungen noch.

Im Oktober 1986, einige Monate nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl, ging das AKW ungeachtet aller Proteste schließlich ans Netz. Wir wohnen ganz nah dran und sind trotzdem geblieben. Unsere Hoffnung war, dass wir einen Unfall als Erste mitbekommen, wenn was passiert, und dann fliehen können. Irgendwann haben wir uns auch nicht mehr jeden Tag Gedanken darüber gemacht.

Der Widerstand gegen den AKW-Bau war zuerst auch hier in den Dörfern sehr lebendig. Aber als der Brokdorfer Bürgermeister umgeschwenkt war, waren die meisten Brokdorfer*innen schließlich dafür. Wenn jemand kommt wie ich und es ernst meint mit der Verhinderung, kam das nicht immer gut an. Uns wurde auch vorgeworfen, wir seien Anfang der 1980er Jahre extra hierher gezogen, um klagen zu können. Mir war aber immer das ganze Lebensumfeld wichtig, nicht nur das AKW: Du kriegst die Butter vom Nachbarn, hier ist wenig Verkehr, ein Naherholungsgebiet direkt vor der Tür … Diese Umgebung ist mir sehr ans Herz gewachsen – obwohl ich die Gefahr gesehen habe.

Mit Unterstützung von Anti-AKW-Initiativen habe ich 1986 gegen die zweite Teilbetriebsgenehmigung des AKW geklagt. Der Prozess beruhte im Wesentlichen auf meinem Wissen über die Ausbreitung und Ablagerung von Schadstoffen, in diesem Fall den radioaktiven Nukliden aus dem Schornstein. Ich habe argumentiert, dass die Radioaktivität schließlich in meiner Milch landet und meine Gesundheit schädigt – ich habe damals viele regionale Milchprodukte konsumiert. Auf so einen Rechtsstreit ist aber nur anrechenbar, was ein durchschnittlicher Deutscher konsumiert. Wenn es mehr ist, hat man halt Pech.

Der Prozess ist zwei Mal durch die Instanzen gegangen. Ich weiß noch – mir ist das ganz tief ins Herz eingedrungen – dass es damals hieß, dass man wegen der geplanten Lagerung der abgebrannten Brennelemente in Gorleben, also in einer so großen Entfernung, mit Fug und Recht sagen könne, die Lagerung abgebrannter Brennelemente habe überhaupt nichts mit dem Betrieb des AKWs zu tun. Das hat mich ziemlich schockiert. Vor dem Oberverwaltungsgericht Schleswig habe ich 1999, nach 13 Jahren, schließlich sang- und klanglos verloren. Die Kosten waren für mich nicht so hoch, weil es viele Spenden gab, aber es hat mich doch sehr frustriert und mürbe gemacht. Es ist uns auch nie geglückt, das Wiederanfahren des AKW nach größeren Störfällen juristisch zu stoppen.

„Wichtig ist, dass man Mitstreiter*innen findet. Wenn man über diesen Kampf nicht Freund*innen gewinnt, kann man ihn nicht lange führen.“

Warum ich trotzdem immer weitergemacht habe, obwohl viele irgendwann aufgegeben haben? Es war schon ein Auf und Ab der Gefühle. Aber es war eben auch berufsbedingt: Ich war der festen Überzeugung, dass dieses Kraftwerk aufgrund der Gesetzeslage nicht gebaut werden darf. Ich habe es ganz stark auch als persönliche und berufliche Niederlage empfunden, dass man als Wissenschaftler mit sehr guten Argumenten in diesem Staat nicht Recht bekommen muss.

Wichtig ist, dass man Mitstreiter*innen findet. Wenn man über diesen Kampf nicht Freund*innen gewinnt, kann man ihn nicht lange führen, weil die Thematik sehr kopflastig ist. Nur wenn man eng zusammensteht, hat man eine Chance, sich vielleicht sogar erfolgreich zu wehren. Es ist schön, am Ende dieses Jahres die Stilllegung des AKW Brokdorf zu erleben. Das ist aus meiner Sicht auf den Protest der Anti-AKW-Bewegung zurückzuführen. Ich hoffe, dass auch viele andere in ihrem Kampf für die Umwelt und das Klima erfolgreich sind.

Manche sagen, wir hätten doch jetzt unseren Ausstieg. Aber es steht zu befürchten, dass der Rückbau des AKW mit einer unnötig hohen Strahlenbelastung verbunden sein wird, weil radioaktives Material „freigemessen“ und in Schleswig-Holstein verteilt werden soll. Außerdem stehen die Zwischenlager mit dem strahlenden Müll wohl noch viele Jahrzehnte da rum, und das Endlager wird in diesem Jahrhundert nicht betriebsbereit sein.

Die aktuelle Situation ist für die Anti-AKW-Bewegung sehr unerfreulich. Wir hatten mit „Brokdorf-Akut“ nach Fukushima ja endlich wieder eine Anti-AKW-Gruppe in Brokdorf gegründet. Ziel war es, mit den Behörden möglichst auf Augenhöhe darüber zu diskutieren, was geplant ist und ob das vernünftig ist oder nicht. Aber das wird von der Gegenseite nicht mehr so ernst genommen und zunehmend torpediert. Wenn wir Anfragen an die Behörden stellen, zahlen wir oft unangemessen hohe Gebühren. Diesen Sommer wurden darüber hinaus durch die 17. Atomgesetz-Novelle die Klagerechte eingeschränkt. Dabei ist die Ausklammerung der Öffentlichkeit bei diesen wichtigen gesellschaftlichen Fragen schon viel länger im Gange. Auch die Lobbyist*innen machen sich wieder breit und fordern neue Reaktoren.

Dabei hat von der „friedlichen“ Nutzung der Atomenergie ungefähr eine Generation profitiert, aber der Müll wird viele, viele Generationen belasten. Für so einen kurzen Zeitraum haben wir uns einen Riesenberg von Problemen eingehandelt! Angesichts des Hin und Her um die Endlagersuche muss man wohl erkennen, dass auch hier die Politik ohne die Öffentlichkeit einfach durchmarschiert. Die Auseinandersetzung ist also noch lange nicht zu Ende!

Protokoll: Anna Stender

Dieser Text erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 53 (Nov./Dez. 2021/Jan. 2022)

 

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  • Kalte und warme Hintern
    21.10.2021: Sitzen Atomkraft-Fans bald im Dunkeln? Und warum sorgen sich ausgerechnet die größten Kohlefans und Energiewende-Blockierer plötzlich angeblich ums Klima? Eine Orientierung.
  • Merkels Atom-Wendung
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Anna Stender

Anna Stender kommt aus Münster und hat bereits in den Neunzigerjahren gegen Castortransporte nach Ahaus und Gorleben demonstriert. Sie ist studierte Fachübersetzerin und hat sich nach Stationen in Berlin, Köln, Bangalore, Newcastle-upon-Tyne und Jülich entschieden, in Hamburg zu bleiben. Seit 2020 ist sie als Redakteurin bei .ausgestrahlt, wo sie vor allem für den Print-Bereich schreibt.

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