„Die Gefahr hängt vom Beschuss ab“

01.03.2022 | Jan Becker
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Foto: Maxim Gavrilyuk / wikimedia

Krieg allein ist schon Wahnsinn. In der Ukraine sind offenbar Atomanlagen direkt davon betroffen. Dazu kommt eine Drohkulisse mit in Alarmbereitschaft versetzten russischen Atombomben. Das ist unfassbarer Wahnsinn, mitten in Europa.

„Früher in der Geschichte gab es keine Kriege in Gebieten, die stark von Atomenergie abhängig oder stark verstrahlt waren. Dies ist mit schwer vorhersehbaren Folgen verbunden – in einem Krieg kann alles passieren“, warnt Vladimir Slivyak, russischer Anti-Atom-Aktivist und Träger des Alternativen Friedensnobelpreises.

Die Informationen aus der Ukraine sind erschreckend. Am 24. Februar bestätigten die ukrainischen Behörden, dass das Atomkraftwerk Tschernobyl und das umliegende Gebiet unter der Kontrolle der russischen Armee stehen. Strahlenwerte stiegen an. Deutsche Behörden bestätigen dann den Beschuss einer Entsorgungsanlage für leicht radioaktive Abfälle nahe Kiew und eines Lagers für radioaktive Abfälle in Charkow. Dann erreichten Kämpfe die Region um Saporischschja. Dort befindet sich Europas größter AKW-Komplex mit sechs alten Reaktoren russischer Bauart. Zwar wurden über das Wochenende bereits drei Blöcke heruntergefahren, einer sei in Wartung, zwei seien in Reserve, heißt es. Doch Kämpfe in dem Gebiet, in dem Atomkraftwerke stehen, bergen ein enormes Risiko. Auf dem Gelände des AKW Saporischschja stehen Atommüllbehälter mit hochaktiven Abfällen unter freiem Himmel. Ein „versehentlicher Treffer“ mit einer Granate kann eine Katastrophe auslösen. Um Millionen Menschen zu verletzen oder gar zu töten und um ganze Regionen unbewohnbar zu machen, ist keine Atombombe nötig.

„Ein Cyber-Angriff, ein dummer Fehler, (…) ein Beschuss oder ein Terroranschlag auf die laufenden AKW in der Ukraine könnte das Inferno des Krieges ins Unermessliche steigern“, warnt Axel Mayer vom BUND Freiburg.

Wie groß die Gefahr wird, hängt vom Beschuss ab, sagt Nuklear-Experte Michael Sailer. Wenn Brennelemente in den Lagern massiv zerstört werden würden, werde es eine massive Freisetzung radioaktiver Strahlung geben.

In der Ukraine sind fünfzehn Reaktoren verteilt auf vier Standorte in Betrieb. Die ältesten in Rovno haben 40 Jahre Betriebszeit überschritten, befinden sich aber im Westen des Landes. Das Durchschnittsalter aller Blöcke beträgt schon 33 Jahre. Es handelt sich um Reaktortypen russischer Bauart, denen teilweise eine dicke Schutzhülle fehlt, die gegen Abstürze von kleinen Flugzeugen schützen soll. Für einen direkten Beschuss ist kein AKW der Welt ausgelegt.

Die  Reaktorkatastrophe von Tschernobyl – die Explosion des Reaktorblock 4 im April 1986 – machte die ukrainische Atomkraft und die Folgen einer Atomkatastrophe weltbekannt. Bis heute ist die radioaktive Verseuchung nicht beseitigt; wo strahlende Partikel niederregneten, weisen Tiere und Pflanzen auch 36 Jahre später noch bedenkliche Strahlenwerte auf. Das AKW ist großräumig abgesperrt, Menschen leben dort nur noch sehr wenige, die nahe Stadt Pripjat ist bis heute verlassen. Über dem kaputten Reaktor wurde das weltweit größte bewegliche Bauwerk geschoben, um erneute Verseuchungen zu verhindern. Heute ist Tschernobyl eine gigantische Atommüll-Kippe.

Eine solche Katastrophe darf sich unter keinen Umständen wiederholen. Nirgendwo auf der Welt.

weitere Informationen:

Bombenrisiko Atomkraft
Zivile und militärische Nutzung der Atomenergie lassen sich nicht eindeutig trennen. Atomkraftwerke, Forschungsreaktoren, Anreicherungs- und Wiederaufarbeitungsanlagen sind immer auch ein Weg, an die zum Bau einer Atombombe nötigen Materialien zu gelangen und militärische Atomprogramme zu kaschieren.

Proliferationsrisiken „neuer“ Reaktoren
6.5.2021: „Neue“ Reaktorkonzepte, etwa der „Generation IV“, oder kleine modulare Reaktoren vergrößern die Gefahr der Weiterverbreitung von radioaktivem Material.

Atomstrom fürs Schlachtfeld
5.5.2021: Kleine, modulare Reaktoren sind vor allem fürs Militär interessant. Das nutzt sie seit Jahrzehnten als U-Boot-Antrieb – und träumt zum wiederholten Mal von mobilen Mini-AKW. Diese sollen nicht nur Stützpunkte und Militärlager versorgen, sondern auch Strom für neuartige Waffen liefern.

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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