Versorgungssicherheit in Kriegszeiten: Besser ohne Atomkraft

02.03.2022 | Julian Bothe
Foto: flightlog / Flickr

Die üblichen Verdächtigen fordern im Schatten des Ukrainekrieges mal wieder Laufzeitverlängerungen für Kohle- und Atomkraftwerke. Doch das sind Scheindebatten: Für Energieversorgung und Versorgungssicherheit helfen solche Verlängerungen nichts, selbst wenn sie möglich wären. Die Debatten verhindern aber erneut die nötigen Schritte für eine schnelle Energiewende.

Verschiedene konservative und liberale Politiker*innen und Wirtschaftswissenschaftler*innen haben in den letzten Tagen die Ansicht geäußert, dass die drei noch laufenden deutschen Atomkraftwerke auch über das Jahresende hinaus in Betrieb bleiben sollten. Dies solle die Abhängigkeit von Rohstoffimporten aus Russland verringern und dadurch die Versorgungssicherheit in Deutschland sicherstellen. Doch bei einem genaueren Blick entpuppen sich diese Debatten als Scheindebatten – genauso wie Forderungen nach einem längeren Betrieb von Kohlekraftwerken. Der Versorgungssicherheit in Deutschland helfen sie nicht.

Die Wissenschaftlerin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung wies auf diese „Falle“ hin, die Laufzeitverlängerungen von Atom- und Kohlekraftwerken bilden.  Diese erhalten das fossil-nukleare Energiesystem und bestehende geopolitische Abhängigkeiten weiter aufrecht: „Genau das liegt im Interesse Russlands. Die beste Antwort auf fossile Energiekriege ist eine beschleunigte Energiewende. Sie stiftet Frieden.“ Sie ist die billigste und effizienteste Option für Energiesicherheit – und noch dazu angesichts der Klimakrise dringend notwendig.

Atomkraft ohne Effekt auf Gasbedarf

Verschiedene Studien halten die Gasversorgung in Deutschland und Europa aktuell für gesichert. Für die Zukunft empfehlen sie eine Diversifizierung der Rohstoffquellen – und vor allem eine Verringerung des Gasverbrauchs.

Atomkraftwerke helfen hier nicht weiter: 85% des deutschen Gasverbrauchs geht in Heizung und Industrie. Gaskraftwerke für die Stromproduktion erzeugen entweder zugleich Fernwärme oder Prozesswärme. Oder sie erfüllen – weil sie schnell regelbar sind – spezifische Funktionen im Stromnetz. Atomkraftwerke können daher Gaskraftwerke gar nicht ohne Weiteres ersetzen. Und mit einer Jahresproduktion von maximal 35 TWh Atomstrom könnten sie auch mengenmäßig nicht viel ausrichten: Der jährliche Gasverbrauch Deutschlands ist mit 990 TWh etwa dreißig Mal so hoch.

Weiterbetrieb der AKW nicht möglich

Die verbleibenden drei Atomkraftwerke einfach über Silvester 2022 hinaus laufen zu lassen, ist darüber hinaus auch technisch nicht möglich: Es fehlen schlicht die Brennstoffe. Die derzeit verwendeten Brennstäbe sind Ende des Jahres abgebrannt, neue nicht so schnell zu bekommen.

Auch können zeitaufwändige Nachrüstungen und Instandsetzungen, die bisher mit Blick auf das baldige Ende der Betriebszeit nicht angegangen wurden, nicht einfach weiter aufgeschoben werden. Ein Beispiel ist ein Austausch der Dampferzeuger im AKW Neckarwestheim, in denen sich seit Jahren immer neue Risse bilden. In Frankreich schätzt der französische Rechnungshof, dass der AKW-Betreiber EDF alleine bis 2030 für Laufzeitverlängerungen 100 Milliarden Euro investieren muss; wegen technischer Probleme fällt schon jetzt jeden Winter ein erheblicher Teil des französischen Reaktorparks aus. Auch Nachrüstungen können zudem nicht verhindern, dass das Unfallrisiko alternder Reaktoren weiter steigt.

Nichts anderes hat Wirtschaftsminister Robert Habeck am Wochenende im „Bericht aus Berlin“ erläutert. Demnach gehöre die Bewertung von Laufzeitverlängerungen zwar mit zur „Prüfungsaufgabe“ seines Ministeriums. Schon die Vorprüfungen hätten aber ergeben, dass AKW-Laufzeitverlängerungen „für den Winter 22/23 nicht helfen“ würden – „weil die Vorbereitungen der Abschaltung schon so weit fortgeschritten sind, dass die Atomkraftwerke nur unter höchsten Sicherheitsbedenken und möglicherweise mit noch nicht gesicherten Brennstoffzulieferungen weiter betrieben werden könnten“.

Auch die Personalplanung der AKW-Betreiber ist im Übrigen längst auf den Rückbau ausgerichtet. Selbst sie haben deshalb kein Interesse an einer Laufzeitverlängerung und finden die Forderungen danach eher „befremdlich“.

Bessere, schnellere und effektivere Möglichkeiten

Um die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen zu verringern, gibt es durchaus Möglichkeiten: An erster Stelle der Ausbau erneuerbarer Energien sowie Energieeffizienzmaßnahmen wie beispielsweise die Dämmung von Häusern. Diese setzen direkt dort an, wo es nötig ist: Bei der Energie, die für Heizung und Wärme nötig ist und bisher den größten Anteil am deutschen Gasverbrauch hat.

Solche Maßnahmen indes sind in den Kommentaren derjenigen, die jetzt schon wieder Laufzeitverlängerungen fordern, nirgendwo Thema. Ihnen geht es eben nicht um eine Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen oder um eine Verringerung des Atom-Risikos, das in unsicheren Zeiten noch erheblich höher ist als sonst. Ihnen geht es, ungeachtet aller Fakten, um einen energiepolitischen Rollback. Der aber wäre in jeder Hinsicht extrem risikoreich, teuer, uneffektiv und klimaschädlich – also in höchstem Maße unvernünftig.

Nachtrag (09.03.2022)

Die offizielle Prüfung durch das Bundesumwelt- und Bundeswirtschaftsministerium kommt zu dem Ergebnis:

  • „Ein Wiederanfahren der drei zum 31.12.2021 stillgelegten Kernkraftwerke kommt schon aufgrund der genehmigungsrechtlichen Situation (erloschene Betriebserlaubnis), die auch gesetzlich nicht rechtssicher geändert werden kann, nicht in Betracht.
  • Eine Verlängerung der Laufzeiten der noch in Betrieb befindlichen drei Atomkraftwerke würde im Winter 2022/2023 keine zusätzlichen Strommengen bringen (Streckbetrieb), sondern frühestens ab Herbst 2023 nach erneuter Befüllung mit neu hergestellten Brennstäben.
  • Eine Laufzeitverlängerung müsste unmittelbar mit einer erneuten Durchführung der zuletzt 2009 stattgefundenen umfangreichen Sicherheitsprüfung für jedes der drei Atomkraftwerke einhergehen. Aktuell kann nicht belastbar abgeschätzt werden, in welchem Umfang aufgrund dieser Sicherheitsüberprüfung Nachrüstanforderungen entstehen und in welchem Zeitraum (und zu welchen Kosten) diese durchgeführt werden können. Bei einem längerfristigen Weiterbetrieb dürfte der Stand von Wissenschaft und Technik ähnlich wie bei Neuanlagen (EPR-Standard) anwendbar sein.“

Hinzu kommt, dass auch beim Uran Abhängigkeiten von Russland bestehen. Eine Sprecherin von PreussenElektra, Tochterfirma von e.on und verantwortlich für das AKW Isar 1, gab neulich gegenüber der Tagesschau an, dass neue Brennelemente erst in gut 1,5 Jahren zur Verfügung stehen könnten. Aber: Hauptherkunft des Urans sei in den letzten Jahren neben Kasachstan vor allem Russland gewesen. Atomkraft ist also auch unter dem Gesichtspunkt der geopolitischen Abhängigkeiten keine Alternative.

weiterlesen:

  • Es wird abgeschaltet
    15.12.2021: Nix mit "Renaissance": In Deutschland, Belgien, Frankreich und England werden Atomkraftwerke abgeschaltet.
  • „Jedes abgeschaltete AKW schafft Anreize für Erneuerbare“
    27.10.2021 - Strommarkt-Experte Philipp Litz über Versorgungssicherheit beim Umstieg auf 100 Prozent Erneuerbare Energien, die Kosten einer verhinderten Energiewende und die Bedeutung des CO2-Preises für den künftigen Strommarkt.
  • Kalte und warme Hintern
    21.10.2021: Sitzen Atomkraft-Fans bald im Dunkeln? Und warum sorgen sich ausgerechnet die größten Kohlefans und Energiewende-Blockierer plötzlich angeblich ums Klima? Eine Orientierung.
  • Merkels Atom-Wendung
    21.10.2021: Von der schwarz-gelben Laufzeitverlängerung im Pakt mit den Atom-konzernen zum Atomausstieg Ende 2022: Der Super-GAU von Fukushima stellte Merkels Atompolitik auf den Kopf. Die Energiewende aber torpedierte die Union.
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    26.08.2021: In den Medien mehren sich die Stimmen, die angesichts der Klimakrise eine Renaissance der Atomkraft fordern. Mit Klimaschutz hat die neu aufgekeimte Atom-Debatte jedoch wenig zu tun.
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Julian Bothe

Julian Bothe arbeitet bei .ausgestrahlt zum Thema Klimakrise und Atomkraft. Er ist ausgebildeter Geograph und beschäftigt sich seit langem mit Energiefragen. Seit seiner Jugend ist er aktiv in sozialen Bewegungen – für Bewegungsfreiheit, Energiedemokratie und Klimagerechtigkeit.

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