Unbegrenzte Laufzeiten

19.10.2022 | Nathalie Martin
Die Radtour geht baden: Schwimmende Anti-Atom-Demo im Rhein am 31. August in Basel
Die Radtour geht baden: Schwimmende Anti-Atom-Demo im Rhein am 31. August in Basel
Foto: Michael Tanner

Mit ihrem Schlenker durch die Schweiz hat die Anti-Atom-Radtour auch die dortigen Atom-Probleme ins Blickfeld gerückt – und daran erinnert, dass die Anti-Atom-Bewegung ihre großen Erfolge hier grenzüberschreitend erstritten hat

Alte und uralte Reaktoren, Zwischenlager, geplante Endlagerstandorte, Atomforschungszentrum, Atomaufsichtsbehörde und das durch Proteste verhinderte AKW Kaiseraugst – eine knappe Woche lang sorgen Anti-Atom-Proteste diesen Sommer in der Schweiz für Schlagzeilen.

Zwölf Anti-Atom-Organisationen haben die Schweizer Teilstrecke der Anti-Atom-Velotour, wie sie hier heißt, zusammen mit .ausgestrahlt ins Rollen gebracht. Es ist auch ein Versuch, wieder Bewegung in die festgefahrene Ausstiegs-Diskussion im Alpenstaat zu bringen. 2016 forderte eine Atomausstiegs-Initiative die Abschaltung aller AKW bis 2029, bekam aber keine Mehrheit. Damit hat die Schweiz die Möglichkeit vertan, einen verbindlichen Abschalttermin für die AKW festzulegen. Stattdessen dürfen diese nun so lange laufen, wie das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) sie für sicher deklariert. Weil der Bundesrat, die Schweizer Regierung, 2018 aber alle griffigen Ausführungsbestimmungen im Gesetz gestrichen hat („Lex Beznau“), stockt der Atomausstieg, bevor er überhaupt richtig angefangen hat.

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Lebendversuche nahe der Grenze

Der Schweizer Atomstrom könnte durch Photovoltaik und Effizienz-Maßnahmen ersetzt werden, erste Beschlüsse in diese Richtung hat der Ständerat, die Vertretung der Kantone, im September 2022 gefällt. Vorerst aber führt die Schweiz weiter einen Lebendversuch mit den ältesten Atomkraftwerken der Welt durch, und das in sehr dicht besiedeltem Gebiet. Der hochriskante Müll, den diese weiter produzieren, soll in einem der wasserreichsten Gebiete der Schweiz angeblich „sicher“ deponiert werden. Das dafür geplante tiefengeologische Atommüll-Lager wird der nächste Lebendversuch sein. Die Bevölkerung dies- und jenseits der Grenze könnte ihn unter Umständen teuer mit verstrahltem Trinkwasser bezahlen.
 
Die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) wurde von den Verursachern der radioaktiven Abfälle beauftragt, „Lösungen“ für deren langfristige Lagerung zu erarbeiten und umzusetzen. Für die Endlagerung favorisiert sie den nahe der deutschen Grenze vorkommenden Opalinuston als Wirtsgestein. Atomgegner*innen kritisieren dies als nicht nachvollziehbar, weil die Tonschicht in der Schweiz im Vergleich zu ausländischen Standorten sehr dünn sei und weil die Auswirkungen der Wärmeentwicklung auf das Gestein nicht ausreichend untersucht seien.

500 Menschen versammeln sich Ende August auf einer Wiese in Benken/Marthalen, dem ersten Halt der Velotour in der Schweiz, und einem der potenziellen Endlagerstandorte hier. Seit 1996 untersuchen Seismolog*innen, Hydrogeolog*innen und Gesteinschemiker*innen in der Region zwischen Schaffhausen und Zürich die Erdschichten.

Mitte September dann präsentiert die Nagra ihren definitiven Standort-Vorschlag. Nicht Benken/Marthalen soll es sein, sondern das Gebiet Nördlich Lägern, ein paar Kilometer weiter – und nur einen Steinwurf von der deutschen Gemeinde Hohentengen entfernt. Es ist ein Entscheid mit noch vielen offenen sicherheitsrelevanten Fragen. Insbesondere fehlt ein Abschaltdatum der noch laufenden Atomkraftwerke, um das Volumen des strahlenden Mülls endlich zu begrenzen.

Unkritische Atomaufsicht, erfolgreiche Bauplatzbesetzung

Nur wenige Kilometer weiter, in Brugg, hat das ENSI seinen Sitz. Seit Fukushima halten Atomkraft-Gegner*innen hier viermal die Woche eine Mahnwache ab, am Tag, an dem die Radtour eintrifft, zum 2293. Mal. Bei der anschließenden Kundgebung auf dem Campusplatz sorgt ein Alphornbläser-Trio für musikalische Umrahmung.

Das ENSI sollte die Sicherheit der Bevölkerung vor Atomgefahren gewährleisten. Aber wird das eingehalten, wenn Grenzwerte nicht konsequent verteidigt, sondern einfach nach den Wünschen der AKW-Betreiber angepasst werden, wie 2018 geschehen? Wenn die weltweit ältesten Atomkraftwerke – Beznau 1 und 2 – ohne Abschaltdatum einfach weiterlaufen dürfen? Und wenn die gesundheitlichen Folgen von Niedrigstrahlung entgegen neueren Forschungsergebnissen systematisch unterbewertet werden, anstatt die Grenzwerte nach unten zu korrigieren?

Nur eines der fünf Schweizer AKW ging 2019 vom Netz, das AKW Mühleberg, das selbst den Betreibern zu unwirtschaftlich wurde. Die Velo-Zubringertour von hier fängt deshalb vor ihrem Start „Abschaltluft“ in Gläsern ein. Tags darauf werden diese an den noch laufenden AKW Gösgen, Beznau 1 und 2 und Leibstadt wieder geöffnet. Man hoffe, dass die Luft „extrem ansteckend“ wirke, heißt es.

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Foto: Simon Boschi

Erneuerbare Energien statt Atomkraft

Doch die Anti-Atom-Bewegung hat auch in der Schweiz große Erfolge zu verzeichnen. Etwa in Kaiseraugst, östlich von Basel. Das hier in den 1970er Jahren geplante Atomkraftwerk scheiterte am erbitterten Widerstand der regionalen Bevölkerung, die sich um Landesgrenzen nicht scherte. Atomkraftgegner*innen aus der Schweiz, aus Deutschland und aus dem Elsass besetzten damals den Bauplatz. Der Reaktor wurde nie gebaut. Zum Mittagshalt der Radtour auf dem einst besetzten Gelände kommen zahlreiche Besetzer*innen von einst vorbei, erklimmen zusammen den Kieshügel, der heute dort liegt. „Gemeinsam gewonnen“ steht auf ihrem Transparent. Dieser Erfolg – der größte der Schweizer Anti-Atom-Bewegung – hat sich ausgewirkt auch auf den Widerstand gegen die geplanten Atomkraftwerke in Graben (Kanton Bern) und Wyhl (Baden-Württemberg).

Die Kantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt haben bis heute „Atomschutzgesetze“, nach denen sie sich dafür einsetzen müssen, dass auf ihren Gebieten und in der Nachbarschaft keine Atomkraftwerke oder Lagerstätten für mittel- und hochradioaktive Rückstände errichtet werden. Das Risiko eines Atomunfalls in den benachbarten AKW und die Last des Atommülls, der für Jahrtausende sicher gelagert werden muss, trifft die Stadt trotzdem: Ausbaden müssen die Folgen der Atomkraftnutzung am Ende alle. Die Demo der Anti-Atom-Velotour in Basel ist deshalb keine auf der Straße, sondern eine schwimmende im Rhein.

Und während die Atom-Fans über drohende Strommangellagen reden und nicht müde werden zu betonen, dass diese nur mit – notabene nicht verlässlichen – Atomkraftwerken zu vermeiden seien, gibt es zugleich auch spannende Entwicklungen in Sachen erneuerbare Energien. So sind in den Kantonen Glarus und Graubünden bereits erste hochalpine Solarstromanlagen in Betrieb und zeigen, dass mit Photovoltaik im Winter viel Strom produziert werden kann, wenn nebelarme Gebiete oberhalb von 1.000 Metern genutzt werden. Selbst der Ständerat will unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs und der massiven AKW-Ausfälle in Frankreich die Bewilligungshürden nun abbauen und den Bau von PV-Großanlagen mit 2.000 Megawatt Leistung per Notrecht genehmigen. Seit 2019 verzeichnet die Photovoltaik in der Schweiz sehr hohe Zuwachsraten; auch eine Solarpflicht für Neubauten ist landesweit geplant. Rechtsverbindliche Beschlüsse sind noch vor Ende des Jahres zu erwarten.

Nathalie Martin, Geschäftsführerin Nie wieder Atomkraftwerke Schweiz

Nie Wieder Atomkraftwerke

Der Verein Nie Wieder Atomkraftwerke (NWA) Schweiz mit Sitz in Basel soll den Bau und Betrieb von Atomkraftwerken verhindern und dafür alle zweckdienlich erscheinenden Maßnahmen und Mittel auf informativer, politischer und rechtlicher Ebene ergreifen. Er setzt sich auch ein für Energie-Einsparungen, Energie-Effizienz und für erneuerbare Energien.

nwa-schweiz.ch

weiterlesen:

  • Ris(s)kanter Plan
    10.10.2022: Zahlreiche AKW in Frankreich liegen still, weil sie gefährliche Risse aufweisen. AKW in Deutschland sollen deshalb länger laufen – trotz Rissen derselben Art. Der VGH Mannheim könnte diese Pläne stoppen: Am 14. Dezember verhandelt er die Klage gegen die Betriebserlaubnis für den Riss-Reaktor Neckarwestheim‑2
  • Ohne Not und ohne Grund
    6.10.2022: Strom sei auch ohne AKW genügend da, räumt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ein. Dennoch will er den Weiterbetrieb der AKW Neckarwestheim‑2 und Isar‑2 ermöglichen – mit einer hanebüchenen Begründung. Kommt er damit durch?
  • Falscher Stress
    5.10.2022: Der sogenannte Stresstest der Stromnetzbetreiber soll als Begründung für „Einsatzreserve“ und Weiterbetrieb der AKW herhalten. Tatsächlich zeigt er: Die Stromversorgung in Deutschland ist sicher, auch ohne jedes AKW. Gegen unwahrscheinliche, kurzzeitige Engpässe könnten viele Maßnahmen besser helfen. Und für mehr Stromexport braucht es mehr Leitungen, nicht mehr Kraftwerke.

  • 27.10.2021 - Strommarkt-Experte Philipp Litz über Versorgungssicherheit beim Umstieg auf 100 Prozent Erneuerbare Energien, die Kosten einer verhinderten Energiewende und die Bedeutung des CO2-Preises für den künftigen Strommarkt.

  • 21.10.2021: Sitzen Atomkraft-Fans bald im Dunkeln? Und warum sorgen sich ausgerechnet die größten Kohlefans und Energiewende-Blockierer plötzlich angeblich ums Klima? Eine Orientierung.
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