Ein Jahr AKW im Krieg

09.03.2023 | Anna Stender
AKW Saporischschja
Foto: wikipedia

Bereits seit einem Jahr ist das Atomkraftwerk Saporischschja in der Ostukraine unter russischer Kontrolle. Die Gefahr eines Unfalls ist noch immer hoch. Andere Atomanlagen in der Ukraine sind ebenfalls in Gefahr.

Das Entsetzen war groß, als Medien am 4. März 2022 melden, das größte Atomkraftwerk Europas in Saporischschja werde von Russland beschossen. Auf dem Gelände bricht ein Brand aus, zunächst ist unklar, ob ein Reaktor getroffen wurde. Zwei Wochen nach Kriegsbeginn besetzt Russland das AKW Saporischschja. Seitdem ist es immer wieder Ziel von Kampfhandlungen. Besonders im Sommer wurde die Anlage wiederholt beschossen und beschädigt, Moskau und Kiew machen sich gegenseitig verantwortlich. Kritisch sind auch die massiven Angriffe auf die ukrainische Energie-Infrastruktur seit dem Herbst. Denn AKW brauchen viel Strom, um die Reaktoren zu kühlen und weitere unverzichtbare Sicherheitsfunktionen aufrechtzuerhalten – sogar wenn die Reaktoren bereits abgeschaltet sind. Erst letzte Nacht ist es wieder einmal zum Notstromfall in dem besetzten AKW gekommen. Es ist bereits das sechste Mal seit Beginn des Krieges.

Aktuell sind die sechs Reaktoren in Saporischschja abgeschaltet oder heruntergefahren. Die Reaktorblöcke 1 bis 4 sind „kalt und entladen“. Die Reaktorblöcke 5 und 6 befinden sich im Zustand „heiß unterkritisch“. Auch dort findet also keine nukleare Kettenreaktion mehr statt. Die weiter laufenden Pumpen sollen aber das Kraftwerk und die nahegelegene Stadt Enerhodar mit (Ab-)Wärme versorgen. Wie die aktuelle Situation zeigt, stellen die Kampfhandlungen, die Stromversorgung und die Arbeitsbedingungen für das Personal weiter große Probleme dar. Auch der sinkende Wasserstand am Kachowkaer Stausee, aus dem die Reaktoren ihr Kühlwasser beziehen, kann sich zum Sicherheitsrisiko entwickeln.

Nach den Scheinreferenden in den besetzten Gebieten erklärte Russland das AKW Saporischschja Anfang Oktober zu russischem Staatseigentum. Aus russischer Sicht ist es seitdem Teil des russischen Staatskonzerns Rosatom. Doch die Annektion der besetzten Gebiete ist weder von ukrainischer noch von internationaler Seite anerkannt. Das AKW gehört weiterhin dem ukrainischem Eigentümer Energoatom. Die ukrainische Aufsichtsbehörde SNRIU hat in Februar allen sechs Blöcken die Betriebsgenehmigung entzogen. Ob dieses Betriebsverbot allerdings umgesetzt wird, ist unklar, denn die ukrainische Leitung des AKW ist nicht vor Ort.

Weitere Nuklearanlagen in Gefahr

Wegen der russischem Besetzung steht das AKW Saporischschja besonders im Fokus. Doch auch andere Atomanlagen in der Ukraine sind direkt oder indirekt Ziel militärischer Aktivitäten. Nach einem aktuellen Bericht der IAEO waren sie seit Kriegsbeginn von mehr als 40 Zwischenfällen betroffen. Durch Angriffe beeinträchtigt, beschädigt oder zerstört wurden einige Lager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle, ein Forschungsreaktor in Kiew sowie eine Versuchsanlage in Charkiw. Auch die drei aktuell laufenden Atomkraftwerke der Ukraine – Riwne, Südukraine und Chmelnyzkyj – sind wegen der Raketenangriffe auf die Infrastruktur der Ukraine gefährdet. Das Stromnetz war in den letzten Monaten immer wieder teilweise oder vollständig abgeschaltet, weil Umspannwerke und große Stromleitungen getroffen wurden. Reaktoren wurden daraufhin mehrfach schnellabgeschaltet. Im November waren sogar alle vier ukrainischen AKW zwei Tage lang von der externen Stromversorgung abgeschnitten. Bisher haben Notstromaggregate das Schlimmste verhindern können.

Gewöhnungseffekt

Die Angst vor einem gravierenden Zwischenfall in einem Atomkraftwerk durch kriegerische Handlungen sei neu, sagte kürzlich Inge Paulini, Präsidentin des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS). Trotzdem sei sie wieder in den Hintergrund des öffentlichen Bewusstseins geraten. Doch das stark erhöhte Risiko eines nuklearen Unfalls mit erheblichen Folgen bestehe fort, solange der Krieg dauert. Nuklearexperte Mycle Schneider äußerte sich zuletzt erstaunt darüber, wie stark der Gewöhnungseffekt ist: Obwohl es immer wieder der Notstromfall eintritt, bekommt die Situation an den ukrainischen AKW bereits seit Monaten wenig Aufmerksamkeit. Aus seiner Sicht „normalisiert“ das Vorgehen des IAEO den Betrieb von AKW im Krieg. Dabei könne der übliche Sicherheitsstandard nur eingehalten werden, wenn der Krieg beendet sei.

Rolle der IAEO

Die Rolle der IAEO ist ambivalent. Zwar hat sie Experten zu allen AKW-Standorten in die Ukraine entsandt und bemüht sich dort, den Betrieb unter teils verheerenden Bedingungen so sicher wie möglich zu gestalten. Möglicherweise trägt schon ihre reine Präsenz zu mehr Sicherheit bei. Auch hat die IAEO Kampfhandlungen rund um AKW scharf verurteilt und betont, das AKW Saporischschja sei weiterhin ein ukrainisches AKW.

Ansonsten agiert sie aber als Beobachter und Vermittler, was zuletzt von ukrainischen Journalisten bemängelt wurde. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Aufgaben der IAEO sich nicht auf die Ukraine beschränken: Sie überwacht auch in Russland die Umsetzung der „Safeguards“, die eine Weiterverbreitung von Nuklearwaffen verhindern sollen. Dafür benötigt sie Zugang zu den russischen Atomanlagen. Russland ist innerhalb der IAEO einflussreich – beispielsweise ist der stellvertretende Generaldirektor Mikhail Chudakov Russe und ehemaliger Manager der Rosatom-Tochter Rosenergoatom.

Da die IAEO weiterhin mit Russland und der Ukraine über eine Sicherheitszone rund um das AKW verhandelt, kann sie sich wahrscheinlich nicht deutlicher positionieren. Allerdings sind die Ergebnisse bisher enttäuschend, der Einfluss der IAEO offensichtlich begrenzt: Seit einem halben Jahr gibt es keine erkennbaren Fortschritte.

Mycle Schneider kritisiert vor allem, dass die IAEO Rosatom dabei unterstützt, AKW in andere Länder zu verkaufen, während das Unternehmen gleichzeitig aktiv an der Besetzung des AKW Saporischschja beteiligt ist: „Diese Firmen sind an Staatsterrorismus beteiligt – wie die ukrainische Regierung es ausdrückt – und die IAEO unterstützt sie weiter in anderen Ländern.

Keine Sanktionen gegen russische Atomwirtschaft

Der russische Atomsektor bleibt bisher von EU-Sanktionen ausgespart, auch im letzten, inzwischen zehnten Sanktionspaket. Grund sind zweifellos die engen Handelsbeziehungen mit mehreren europäischen Ländern wie Frankreich und Ungarn. Die Brennelementefabrik Lingen, welche zum französischen Atomkonzern Framatome gehört, bezieht beispielsweise ihr Uran weiterhin aus Russland. Und viele Länder – darunter Finnland, Tschechien, Ungarn, Slowakei und Bulgarien – kaufen ihre Brennelemente russischen Typs weiterhin in Russland ein. Obwohl der US-Konzern Westinghouse in Schweden kompatible Brennelemente herstellt, unter anderem für einige ukrainische Reaktoren, kann er den Bedarf bei weitem nicht decken. Russland verfolgt mit seiner „Energiediplomatie“ eine Strategie, die Länder gezielt in jahrzehntelange Abhängigkeiten führt. Ende 2021 stand fast eines von fünf AKW weltweit in Russland oder war von Russland gebaut. Solche wirtschaftlichen Verflechtungen wird dann häufig Vorrang vor moralischen Überlegungen eingeräumt. Experten zufolge würde es Jahre dauern, neue Lieferanten zu finden, um Rosatom in der globalen Atomindustrie zu ersetzen. 2022 konnte Rosatom seine Auslandseinnahmen gegenüber dem Vorjahr sogar um etwa 15 Prozent steigern.

Die Zukunft ist erneuerbar

In der Ukraine stehen AKW erstmals direkt in der Schusslinie. Das letzte Jahr hat allen vor Augen geführt: Die Gefahren, die im Krieg von Atomkraftwerken ausgehen, sind vielfältig und unkontrollierbar. Und selbst in friedlichen Zeiten kann niemand für ihre Sicherheit garantieren. Angriffe auf Atomanlagen können nirgendwo ausgeschlossen werden, gerade bei Laufzeiten von bis zu 60 Jahren und mehr.

Die Technik ist risikoreich und unbeherrschbar und in der Klimakrise aus vielerlei Gründen ein gefährlicher Irrweg. Auch angesichts weiterer sich überlagernder politischer Krisen ist sie für die Energieversorgung der Zukunft keine Option. Leider sehen das nicht alle so. Frankreichs Vorstoß für eine neue europäische Nuklearallianz zeigt: Das Land ist fest entschlossen, seine alternde Atomindustrie und seinen zivil-militärischen Nuklearkomplex zu verteidigen. Auch andere Staaten werden weiter versuchen, EU-Mittel in ihre unrentablen Atomprojekte umzuleiten. Das hat Folgen fürs Klima, denn diese Gelder fehlen dann bei der Energiewende. Auch der Wiederaufbau des ukrainischen Energiesystems muss, anders als bisher geplant, auf Grundlage erneuerbarer Energien stattfinden. Für die Anti-Atom-Bewegung ist daher auch nach dem Abschalten der deutschen AKW noch nicht die Zeit gekommen, sich zur Ruhe zu setzen.

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Anna Stender

Anna Stender kommt aus Münster und hat bereits in den Neunzigerjahren gegen Castortransporte nach Ahaus und Gorleben demonstriert. Sie ist studierte Fachübersetzerin und hat sich nach Stationen in Berlin, Köln, Bangalore, Newcastle-upon-Tyne und Jülich entschieden, in Hamburg zu bleiben. Seit 2020 ist sie als Redakteurin bei .ausgestrahlt, wo sie vor allem für den Print-Bereich schreibt.

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