Zehn Jahre danach

29.01.2021 | Armin Simon
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Foto: Guillaume Bression - Carlos Ayesta / fukushima-nogozone.com

Der Super-GAU von Fukushima brachte das japanische Atomprogramm zu Fall, die Atomkraft weltweit in Misskredit und – dank des Engangements Hunderttausender – der Energiewende in Deutschland einen Schub. Aber die Atom-Fans haben noch nicht aufgegeben. Und selbst grüne Landesregierungen nehmen die Lehre aus Fukushima nicht ernst.

So schnell kann es gehen mit dem Abschalten: 54 Reaktoren „in Betrieb“ zählt die Internationale Atomenergie-Organisation in Japan noch Anfang 2011, sie produzieren rund 30 Prozent des japanischen Stroms. Dann löst ein Erdbeben im Pazifik einen Tsunami aus, es kommt zur Kernschmelze in drei Reaktoren und Schäden in etlichen anderen. Binnen 14 Monaten gehen alle japanischen AKW vom Netz. Der Inselstaat, nach den USA und Frankreich damals auf Rang drei der Welt-Atomstromproduktion, kommt zwei ganze Jahre lang komplett ohne Atomstrom aus. Und auch, wenn die japanische Regierung bis heute auf Atomkraft setzt, ist eine Rückkehr zum Vor-Fukushima-Status kaum vorstellbar: Zehn Jahre nach dem Super-GAU sind in Japan gerade einmal neun Reaktoren tatsächlich wieder am Netz, der Atomstromanteil lag 2019 nur ein Viertel so hoch wie noch 2010, und 2020 wird er wegen etlicher Reaktor-Reparaturen voraussichtlich sogar wieder darunter liegen. 27 japanische Reaktoren stuft der World Nuclear Industry Status Report bereits als endgültig stillgelegt ein, 24 weitere befinden sich im „Langzeit-Stillstand“ – ob und wann sie wieder ans Netz gehen, ist offen. (So viel zur Versorgungssicherheit durch Atomkraft.) Die japanische Bevölkerung, längst weiter als ihre Regierung, lehnt Atomkraft und die Wiederinbetriebnahme der Reaktoren mit stabiler Mehrheit ab. Die Erneuerbaren hingegen sind auch in Japan seit dem Super-GAU im Höhenflug: Photovoltaik alleine erzeugte hier 2019 schon mehr Strom als alle AKW zusammen.

Weltweit lässt sich ein ähnliches Bild zeichnen. Um mehr als 200 Gigawatt etwa stieg allein 2019 die installierte Kraftwerksleistung Erneuerbarer Energien. Der AKW-Zubau hingegen belief sich auf ganze 2,4 Gigawatt. Und zur weltweiten Stromerzeugung tragen Erneuerbare schon lange deutlich mehr bei als Atomkraft. Die Anzahl der tatsächlich laufenden Reaktoren ist seit Fukushima global um fast 6 Prozent gesunken, die installierte Kraftwerksleistung liegt trotz des enormen chinesischen Atomprogramms in den letzten Jahren noch immer unter Vor-Fukushima-Niveau.

Nur Protest bringt AKW vom Netz
In Deutschland gehen in den Wochen und Monaten nach Fukushima so viele Menschen wie noch nie gegen Atomkraft auf die Straße. Die schwarz-gelbe Bundesregierung nimmt unter diesem Druck die noch kurz zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung für die AKW größtenteils zurück. Und nicht nur das: Acht der damals noch 17 Reaktoren müssen sofort und für immer vom Netz, drei weitere folgten bis heute. Ohne die massiven Proteste damals, ohne das Engagement Hunderttausender, das ist sicher, wäre das alles nie passiert – das zeigt schon der Blick in andere Länder.

Verglichen mit dem Vor-Fukushima-Jahr 2010 hat sich die Atomstromproduktion in Deutschland bis heute mehr als halbiert. Die fossile Stromerzeugung ging im selben Zeitraum um ein Drittel zurück, die Ökostromproduktion hingegen verzweieinhalbfachte sich. Immer noch ist Deutschland ein Stromexportland, verglichen mit 2010 nahm der Exportüberschuss sogar leicht zu.

Immer noch sind aber auch in Deutschland sechs Atomkraftwerke am Netz. Und für sie gilt dasselbe wie für alle anderen Reaktoren weltweit: In jedem kann es jeden Tag zu einem schweren Unfall kommen. Auch wenn Politiker*innen, Sachverständige, Aufsichtsbehörden und Betreiber stets betonen, dass die Meiler „sicher“ seien.

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Foto: Guillaume Bression - Carlos Ayesta / fukushima-nogozone.com

Denn eine wichtige Erkenntnis aus Fukushima lautet ja: Selbst ein Hochtechnologieland wie Japan, das seit Jahrzehnten massiv auf Atomkraft setzt und alles andere als unerfahren im Umgang mit der Technik ist, kann einen Super-GAU in seinen Reaktoren nicht verhindern.

Am Ende ging es nicht mal darum, ob die eine Schraube hier zu locker war oder dort zu fest (auch wenn solche Kleinigkeiten in einem AKW fatale Auswirkungen haben können). Nein, es war vielmehr die Hybris der Betreiber und Aufsichtsbehörden, die von Erdbebenstärken und Tsunamiwellen-Höhen ausgegangen sind, an die sich die Natur dann eben nicht gehalten hat.

Genau deswegen kann sich ein „Fukushima“ auch in jedem anderen AKW auf der Welt wiederholen – und das hat nichts damit zu tun, ob dort konkret ein Tsunami droht oder nicht. Bei jeder Atomanlage gibt es Annahmen darüber, welche äußeren oder inneren Ereignisse auftreten könnten und wie sich bestimmte Systeme unter bestimmten Bedingungen verhalten. Ob sich die Realität aber am Ende daran hält, ist völlig offen. Sie hat oft genug gezeigt, dass sie es nicht tut.

Manchmal zumindest gibt es vorher Warnhinweise. So wie in Neckarwestheim‑2, dem jüngsten deutschen AKW, unweit von Stuttgart gelegen. Mehr als 300 Risse wurden dort in den vergangenen drei Jahren entdeckt, gefährliche Spannungsrisskorrosion an den dünnen Rohren in den Dampferzeugern, in einem weltweit bis dato ungekannten Ausmaß. Es waren auch große und tiefe Risse dabei und es sind „Schnellläufer“ möglich, Risse, die urplötzlich entstehen und sich in Windeseile durchs Metall fressen. Der Schadensmechanismus ist bis heute nicht gestoppt. Trotzdem hat die von einem Grünen-Ministerpräsident geführte Landesregierung, die 2011 auch wegen der Anti-Atom-Proteste an die Macht kam, den Reaktor bisher nicht vom Netz genommen. Sie unterstellt vielmehr, dass neue Risse kein kritisches Ausmaß erreichen könnten – obwohl die bisherige Betriebserfahrung das Gegenteil beweist. Das ist unverantwortlich.

Atomkraft bleibt Thema
Keine der Gefahren der Atomkraft, vom dreckigen Uranabbau über den gefährlichen Reaktorbetrieb bis hin zum Umgang mit dem jahrtausendelang strahlenden Atommüll, ist auch nur ansatzweise beseitigt. Der Bau neuer AKW ist zudem die teuerste Art, Strom zu erzeugen, rentabel nur bei massiven Subventionen oder anderen Wettbewerbsverzerrungen. Trotzdem gibt es auch zehn Jahre nach Fukushima noch immer Länder, die neu in die Atomkraftnutzung einsteigen, so wie 2020 die Vereinigten Arabischen Emirate oder auch die Türkei, die vergangenes Jahr ihren ersten Reaktorbau – im Erdbebengebiet! – begonnen hat. Es gibt Start-ups, die in bunten Werbefilmchen neue Sorglos-Reaktoren versprechen und dafür gerade mächtig Geld einsammeln. Und Atom-Fans, die auf dem Klimakrisen-Trittbrett fahren und der sündhaft teuren Hochrisikotechnik gesellschaftliche und finanzielle Bonuspunkte verschaffen wollen. Und es wird weiterhin Staaten geben, die von Atomkraft partout nicht lassen wollen – weil sie weiterhin auf Atomwaffen setzen und dafür aus technischen und Finanzierungs-Gründen eine parallele „zivile“ Atomkraft-Infrastruktur brauchen.

Es ist an uns allen, diesen Bestrebungen beständig und immer wieder aufs Neue mit guten Argumenten entgegenzutreten und öffentlich wie im kleinen Kreis Druck für ein Abschalten aller AKW zu machen: bei uns, in den Nachbarländern und weltweit. Nur ein abgeschaltetes AKW ist „sicher“. Das ist die Lehre aus Fukushima.

Armin Simon

Retracing Our Steps

Die Fotos im Artikel zeigen ehemalige Bewohner*innen der Sperrzone um Fukushima bei einer Rückkehr an ihre alten Wirkungsstätten – ein Fotoprojekt von Guillaume Bression & Carlos Ayesta, das demnächst als Wanderausstellung auf Tournee geht (siehe Seite 11 im Magazin). Mehr Bilder findest Du unter fukushima-nogozone.com

Dieser Text erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 50 (Feb / März / April 2021)
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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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