Ris(s)kanter Plan

10.10.2022 | Armin Simon
Protest vor dem AKW Neckarwestheim am 20. August
Protest vor dem AKW Neckarwestheim am 20. August
Foto: Julian Rettig

Zahlreiche AKW in Frankreich liegen still, weil sie gefährliche Risse aufweisen. AKW in Deutschland sollen deshalb länger laufen – trotz Rissen derselben Art. Der VGH Mannheim könnte diese Pläne stoppen: Am 14. Dezember verhandelt er die Klage gegen die Betriebserlaubnis für den Riss-Reaktor Neckarwestheim‑2

Darf ein AKW-Betreiber ein selbst erfundenes, in keinem Regelwerk beschriebenes und physikalische Gesetze missachtendes Rechenverfahren nutzen, um die Stabilität von Riss-Rohren zu bewerten? Über welche Versäumnisse von Sachverständigen darf die Atomaufsicht hinwegsehen? Dürfen aufgrund eines systematischen Schadens entstehende Risse wie „zufällige Einzelfehler“ eingestuft werden? Muss die Behörde monieren, wenn Messfehler einfach ignoriert werden? Und wie lange darf ein AKW an der Gefahrengrenze betrieben werden, wenn geforderte
Sicherheitsnachweise nicht vorliegen?

Es sind Fragen wie diese, mit denen sich demnächst der Verwaltungsgerichtshof Mannheim beschäftigen muss. Zwei Anwohner*innen des AKW Neckarwestheim‑2 haben, unterstützt von .ausgestrahlt und dem Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar, vor zwei Jahren Klage gegen die Betriebsgenehmigung des Reaktors eingereicht. Denn Risse, die sich dort an der neuralgischsten Stelle des Reaktorkreislaufs bilden, könnten unbemerkt so groß werden, dass die Tragfähigkeit der Rohre nicht mehr nachgewiesen werden kann. Schon bei einer einfachen Betriebsstörung könnten Rohre unter Umständen abreißen und platzen. Die Folge wäre ein nur schwer zu beherrschender Kühlmittelverluststörfall, der sich bis zum Super-GAU entwickeln kann.

Störfallbeherrschung nicht nachgewiesen

Die gesetzlich vorgeschriebene Störfallbeherrschung des AKW Neckarwestheim‑2 ist damit nicht mehr nachgewiesen, argumentieren die Kläger*innen. Diese aber ist Voraussetzung für die Betriebserlaubnis eines Reaktors in Deutschland. Kann sie nicht oder nicht mehr nachgewiesen werden, ist die Anlage stillzulegen. Eben dies verlangen die Kläger*innen. Das grün geführte Umweltministerium in Stuttgart aber lässt den Reaktor trotz immer neuer Risse – insgesamt mehr als 350 inzwischen – seit 2018 immer wieder aufs Neue ans Netz.

Gemäß dem aktuellen Atomgesetz erlischt die Genehmigung zum Leistungsbetrieb des AKW am 31.12.2022. Nach dem Willen von Bundeswirtschaftsminister Habeck (Grüne) aber soll Neckarwestheim‑2 sogar noch bis Mitte April 2023 laufen; Habecks Koalitionspartner FDP verlangt bereits einen mehrjährigen Weiterbetrieb. Habeck begründet die geplante Laufzeitverlängerung bis ins Frühjahr unter anderem mit den aktuell zahlreichen Ausfällen von französischen AKW. Das allerdings ist einigermaßen verwunderlich. Denn ein Dutzend der Reaktoren in Frankreich, die gerade keinen Strom produzieren können, ist behördlich stillgelegt, weil bei Zehn-Jahres-Kontrollen gefährliche Risse entdeckt wurden. Es handelt sich um die gefürchtete Spannungsrisskorrosion, die sich dadurch auszeichnet, dass Umfang, Richtung und Geschwindigkeit des Risswachstums nicht sicher vorhersehbar sind.

Auch bei den Rissen in Neckarwestheim handelt es sich um Spannungsrisskorrosion. Doch während die Risse in Frankreich an sehr dickwandigen, großen Rohren eines nur im Notfall benötigten Systems auftreten, sind in Neckarwestheim extrem dünnwandige Rohre des Reaktorkreislaufs selbst betroffen. Die Gefahr eines Abrisses ist hier ungleich höher.

Irritierend ist nicht nur der Umgang von EnBW mit den Schädigungen. Von Anfang an versuchte der Konzern, die Schädigungen herunterzuspielen. Als dies nicht mehr ging, rechnete er gefährlich tiefe Risse in harmlose flache um. Und die Atomaufsicht in Stuttgart ging ihm immer wieder auf den Leim. Erst nach einer Intervention von .ausgestrahlt bestellte sie EnBW zum Rapport; der Konzern gelobte, kritische Schadenshypothesen künftig nicht mehr in der Schublade verschwinden zu lassen. Folgen für den Reaktor hatte das nicht.

Sogar als zwei von der Behörde selbst beauftragte Gutachter bestätigten, dass mit den vorliegenden angeblichen Nachweisen ein Bruch von Rohren aufgrund der Risse eben „nicht auszuschließen“ sei, zog diese nicht die Reißleine. Sie definierte stattdessen die vielen hundert Risse, die alle dieselbe Ursache haben, in „zufällige Einzelfehler“ um – und ließ den Reaktor wieder ans Netz.

Betrieb an der Gefahrengrenze

Seit 2018 treten in Neckarwestheim‑2 jedes Jahr neue Risse zu Tage. Doch statt die Ursache der Altersschädigungen zu beheben, begnügt sich die Atomaufsicht damit, die Rohre jedes Jahr zu kontrollieren und zu hoffen (!) – einen Nachweis dafür gibt es nicht –, dass sich in der Zeit dazwischen kein gefährlich großer Riss bildet.

Und während die Behörde behauptet, es handele sich um ein abklingendes Phänomen, hat sich die Zahl der jeweils neu entstehenden Risse in den letzten beiden Jahren vermutlich verzehnfacht. Genaueres ist nicht bekannt, denn EnBW sparte bei der letzten Revision im Juni an den Kontrollen. Offenbar das Abschaltdatum 31.12.2022 vor Augen, ließ der Konzern die Rohre nur mit einem groben Messverfahren untersuchen, das der Erfahrung nach die Hälfte der tatsächlich vorhandenen Risse übersieht, wie .ausgestrahlt aufgedeckt hat. Die Behörde ließ den Reaktor demnach im Juni mit einer unbekannten Anzahl aktiver Risse wieder ans Netz – ein klarer Verstoß gegen mehrfache Vorgaben der Reaktorsicherheitskommission.

Für den 14. Dezember hat der Verwaltungsgerichtshof, offenbar mit Blick auf die Laufzeitverlängerungspläne der Bundesregierung, nun eine Hauptverhandlung in der Sache angesetzt, an der auch zahlreiche Sachverständige teilnehmen werden. Damit ist offen, ob der Reaktor, den Habeck aus Gründen der Netzstabilität über den 31.12.2022 hinaus laufen lassen will (siehe Artikel „Ohne Not und ohne Grund“ sowie „Falscher Stress“), Ende des Jahres überhaupt noch eine Betriebserlaubnis hat. Stünde wirklich die Versorgungssicherheit in Frage, sollte sich Habeck schon aus diesem Grund besser nicht auf Neckarwestheim‑2 verlassen.

Isar-2-Karte.jpg

Risse auch im AKW Isar-2?

Alle drei noch laufenden AKW in Deutschland sind Anlagen von Typ „Konvoi“ im etwa selben Alter. Ihre Dampferzeuger-Heizrohre sind aus demselben Material gefertigt, das als extrem korrosionsfest galt. Die bisher mehr als 350 Risse in Neckarwestheim-2 beweisen, dass diese Annahme falsch war. Auch im AKW Lingen/Emsland wurden mehrfach dieselben Risse wie in Neckarwestheim-2 nachgewiesen. Es besteht somit der begründete Verdacht, dass sich auch im AKW Isar-2 solche Risse gebildet haben. .ausgestrahlt fordert deshalb eine umgehende Untersuchung aller Dampferzeugerheizrohre in Isar-2.

 

 

Dieser Text erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 56 (Okt./Nov./Dez. 2022)

weiterlesen:

  • Ohne Not und ohne Grund
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    6.10.2022: Der 2011 nach Fukushima vereinbarte Atomausstieg ist in ernster Gefahr. Akzeptiere die AKW, und alles wird gut, suggerieren die Atom-Fans. Was für ein Unsinn!

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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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