„Wir wären alle gefangen gewesen“

20.02.2024 | Armin Simon
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Foto: privat

Susumu Kitano hat das AKW Suzu mit verhindert und streitet mit einer Klägergemeinschaft für den Rückbau des AKW Shika. An Neujahr hätte es in beiden zum Super-GAU kommen können.

In Japan sind wir es ja gewohnt, immer wieder kleinere oder größere Erdbeben zu erleben. Am Neujahrstag war ich mit meiner Familie nicht zuhause in Suzu, sondern in einem Shopping-Center 100 Kilometer entfernt. Plötzlich bebte es, dann fiel der Strom aus, alle sind nach draußen gelaufen. Dann kam die Tsunami-Warnung. Wir sind auf das Dach des Centers geflohen. Schließlich sickerte die Nachricht durch, dass das Epizentrum des Bebens an der Spitze der Noto-Halbinsel lag, nahe bei Suzu, und dass die Stadt ziemlich zerstört sei. Auch mein Haus wurde beschädigt, es steht aber noch. Viele andere in der Straße haben den Erdstößen nicht standgehalten. Derzeit sind wir bei Verwandten in Kanasawa untergekommen.

Bei einem so großen Beben geht es erst einmal darum, sich in Sicherheit zu bringen. Doch ich dachte gleich auch an das AKW Shika, 60 Kilometer südwestlich von Suzu, ebenfalls an der Küste. Es durfte zwar seit Fukushima nicht mehr in Betrieb gehen, aber im Abklingbecken lagern sehr viele hochradioaktive Brennstäbe, und ich habe mich gefragt, ob da wohl alles in Ordnung ist.

„Das Epizentrum war ziemlich genau dort, wo dieses AKW gebaut werden sollte.“

Auch in Suzu selbst war jahrzehntelang ein AKW geplant. Von 1989 an war ich Vorsitzender einer Bürgerinitiative dagegen. Erst vor 20 Jahren hat der Betreiber die Pläne endgültig aufgegeben. Das Epizentrum des Erdbebens an Neujahr war ziemlich genau dort, wo dieses AKW gebaut werden sollte. Das hätte eine ganz große Katastrophe gegeben.

Unsere Bürgerinitiative wurde damals von sehr vielen Menschen unterstützt, nicht nur aus der Region. Gleich am 2. Januar, dem Tag nach dem Beben, habe ich Nachrichten von überall aus Japan bekommen: Wie gut es sei, dass wir dieses AKW verhindert haben! Auch ich bin unendlich dankbar, dass ich daran mitwirken konnte.

Für unseren Erfolg damals waren zwei Dinge entscheidend: Erstens war die Mehrheit der Bürger*innen vor Ort gegen das AKW. Um unser Nein deutlich zu machen, haben wir dafür geworben, etwa bei den Stadtratswahlen nur Kandidat*innen zu wählen, die gegen das Kraftwerk waren. Zweitens haben viele Bürger*innen am geplanten Standort des AKW Grundstücke erworben, so dass die Betreiber das Gelände nicht kaufen konnten.

Das AKW Shika allerdings konnten wir damals nicht verhindern. 1993 ging der erste Reaktor ans Netz, 2006 sogar noch ein zweiter, fast dreimal so großer. Seit Fukushima sind sie beide abgeschaltet. Der Betreiber will mindestens den jüngeren wieder in Betrieb nehmen. Das wollen wir verhindern. Deshalb haben wir die Klägergruppe „Wir fordern die Stilllegung des AKW Shika“ gebildet und führen einen Prozess. Zu unserer Gruppe gehören nicht nur Bürger*innen aus der Region, sondern auch Gewerkschaftsaktivist*innen, atomkritische Politiker*innen und Menschen, die nach dem Super-GAU aus Fukushima geflohen sind. Wir beraten uns mit Rechtsanwälten, wie wir juristisch vorgehen. Vor allem aber veranstalten wir Gesprächsrunden. Möglichst viele sollen wissen, was in dem AKW passieren könnte und was wir dagegen tun.

Bei dem Beben am 1. Januar wurde das AKW beschädigt. Der Asphalt auf der Straße riss auf, Teile der Fassade lösten sich. Aus dem Abklingbecken mit den Brennelementen schwappte Wasser. Vor allem aber setzte ein simples Leck an einem kleinen Rohr den Haupttransformator außer Funktion. Damit war die reguläre Stromversorgung des Kraftwerks unterbrochen. Zum Glück musste kein heißer Reaktorkern gekühlt werden.

Schon 1999 gab es in Shika einen Beinahe-Unfall. Bei einem Test sind damals Steuerstäbe aus dem Kern gerutscht, der Reaktor wurde unbeabsichtigt kritisch. Acht Jahre lang hat der Betreiber das vertuscht! Wir sind deshalb misstrauisch, ob wir diesmal schon die ganze Wahrheit erfahren haben.

„Wäre der Reaktor in Betrieb gewesen, hätte es zu einer verheerenden Katastrophe kommen können.“

Angeblich konnte nach dem Trafo-Ausfall ersatzweise eine weitere Stromleitung genutzt werden. Aber dass die nicht auch beschädigt wurde, war pures Glück. Wäre der Reaktor in Betrieb gewesen, hätte es dort zu einer verheerenden Katastrophe kommen können – wie in Fukushima! Nur dass hier wegen der zerstörten und durch Erdrutsche versperrten Straßen niemand hätte fliehen können. Wir wären alle gefangen gewesen.

Und noch etwas macht uns Sorge: Seit etwa drei Jahren haben wir hier vermehrt stärkere Erdbeben. Die ganze Inselgruppe Japans ist erdbebengefährdet, auch die Halbinsel Noto ist von Verwerfungen durchzogen. Dieses Mal ist die ganze Stadt Suzu zerstört worden, die unterirdische Aktivität scheint also größer geworden zu sein. Und wir wissen nie, ob dieses Beben nun das letzte der Serie war oder möglicherweise nur den Impuls gegeben hat für weitere.

Gleich nach Fukushima war auch bei uns in Japan die Anti-Atom-Bewegung groß. Alle 54 AKW wurden damals abgeschaltet, trotzdem hatten wir immer Strom. Bis heute sind nur 12 Reaktoren wieder in Betrieb gegangen. Langsam aber vergessen und verdrängen viele den Schock. Sie wissen zwar irgendwo, dass Atomkraft gefährlich ist. Aber sie haben nicht so viel Kraft, dagegen zu protestieren. Und weil es keine großen Proteste gibt, kommt die atomkritische Haltung bei der Politik nicht an.

Hinzu kommt, dass seit dem russischen Angriff auf die Ukraine die Strompreise gestiegen sind. Deshalb denken jetzt viele, es sei doch unvermeidlich, die AKW wieder hochzufahren. Nach Fukushima wollte die Regierung den Anteil der Atomkraft am Energiemix verringern. Jetzt will sie nach und nach alle verbliebenen AKW – 24 der 54 Reaktoren sind zerstört oder endgültig stillgelegt – wieder hochfahren und sogar neue Reaktoren bauen. Deshalb tut sie auch so, als ob in Fukushima inzwischen alles wieder so wie früher sei, und investiert viel Geld dafür. Die Strahlungswerte seien so niedrig, dass es total unbedenklich sei, dort zu leben, verkündet sie. Aber das ist irreführend. Wenn man Häuser und Straßen mit Hochdruckreinigern abspritzt, sind die Strahlenwerte dort zwar kurzzeitig niedriger. Aber auf Feldern, in den Bergen und Wäldern kann man das nicht machen. Und wer dort lebt, bleibt ja nicht nur im Haus. Jeder Wind bringt zudem wieder radioaktiven Staub zurück. Das wird nicht gemessen und nicht kommuniziert. Wer dort wohnt, muss mit dieser Angst leben.

Deshalb ist auch 13 Jahre nach der Atom-Katastrophe nur ein Bruchteil der ursprünglichen Bevölkerung nach Fukushima zurückgekehrt. Vor allem Jüngere denken nicht daran, dort wieder hinzuziehen. In unserer Klägergruppe gibt es auch Leute, die vor dem Super-GAU dort gewohnt haben. Manchmal fahren sie zurück und erzählen in unseren Veranstaltungen ihre Geschichten. Oder wir laden Aktivist*innen aus der Gegend dort ein.

Unser Ziel bleibt, den Betreiber zur Stilllegung des AKW Shika zu zwingen. Jetzt, nach dem Erdbeben, werden wir unsere Aktionen erst recht fortsetzen. Wir sollten eine Lehre aus dem Beben ziehen. Atomkraft in Japan muss nochmal überdacht werden, die Anti-Atom-Bewegung muss wieder stärker werden. Denn Erdbeben können hier überall passieren. So einen Unfall wie in Fukushima dürfen wir nie wieder zulassen.

Protokoll: Armin Simon, Übersetzung: Yu Kajikawa (Sayonara Nukes Berlin)

Dieser Text erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 60 (Feb./März/Apr. 2024)

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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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