Das Schweizer AKW Gösgen entspricht seit 46 Jahren nicht einmal grundlegendsten Sicherheitsanforderungen. Die Atomaufsicht hat das erst nicht bemerkt, dann hat sie es gutgläubig abgehakt.
Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) gibt sich ganz unaufgeregt. Beim AKW Gösgen gebe es einen „längeren Betriebsunterbruch“, teilt die Aufsichtsbehörde Ende August mit, dies habe man „zur Kenntnis genommen“.1 Auch der Betreiber des AKW müht sich nach Kräften, den Ball flach zu halten. Grund für den voraussichtlich neunmonatigen Stillstand des zweitgrößten Reaktors der Schweiz seien „gestiegene Behördenanforderungen“, fabuliert er. Und dass er „im Bestreben, das Sicherheitsniveau der Anlage stetig zu erhöhen“, das „Ziel“ verfolge, einen Rohrbruch im nicht-nuklearen Teil der Anlage „mit der gewünschten Sicherheitsmarge“ beherrschen zu können.2
Es sind Sätze, die mehr verschleiern als aufklären. Denn tatsächlich geht es nicht um freiwillige Nachbesserungen an dem Reaktor. Und anders als der Betreiber glauben machen will, haben sich auch die Anforderungen nicht erhöht.3 Es geht vielmehr um jahrzehntealte, grundlegendste Sicherheitsanforderungen an Atomanlagen – die das AKW Gösgen seit seiner Inbetriebnahme 1979 nicht erfüllt.
Reaktorkühlung nicht gewährleistet
Schon ein Rohrbruch außerhalb des Reaktorgebäudes, also dort, wo der Schutz gegen Angriffe und Einwirkungen von außen eher niedrig ist, kann im AKW Gösgen dazu führen, dass die Kühlung des Reaktors nicht mehr gewährleistet werden kann – die Folge wäre eine Kernschmelze. Das räumt die Aufsichtsbehörde Mitte September ein. Es bedeutet nicht weniger, als dass der Reaktor seit 46 Jahren in einem Zustand ist, in dem er nie eine Genehmigung hätte bekommen dürfen.
Ein Reaktor, der mehr als vier Jahrzehnte lang gefährlicher ist, als Betreiber und Behörden behaupten, und sogar unsicherer, als gesetzlich zulässig, ist das Eine. Das Zweite ist, wie lange dies niemand bemerkt. Erst zwei Jahrzehnte nach Inbetriebnahme fällt der Schweizer Atomaufsicht auf, dass in den großen Rohren des Wasser-Dampf-Kreislaufs in Gösgen ungedämpfte Rückschlagklappen verbaut worden sind, anders als in anderen AKW desselben Lieferanten. Im Falle eines Rohrbruchs schlagen diese Klappen mit großer Wucht zu – was gefährliche Schäden im Reaktor zur Folge haben könnte. Habe es aber nicht, beschwichtigt der Betreiber. Als Nachweis legt er alte Berechnungen vor. Die sind allerdings nur mit einer vereinfachten Methode erstellt. Macht nichts, behauptet der Betreiber: Die tatsächliche Belastung durch den Druckstoß sei nur etwa halb so groß wie mit der Einfach-Methode errechnet. Woraufhin die Behörde auf eine detaillierte Berechnung verzichtet. Nach kleineren Ertüchtigungen hakt sie das Thema 2008 schließlich ab. Der Reaktor, der so nie eine Genehmigung hätte erhalten dürfen, bleibt weitere 17 Jahre unbehelligt am Netz.
Grundfalsche Sicherheitsannahmen
Erst als der Betreiber, der Stromkonzern Alpiq, wegen des geplanten Austauschs einer Armatur neue, dieses Mal detailliertere Berechnungen durchführt, kommt heraus, dass die früheren Annahmen grundfalsch waren. Anders als 25 Jahre zuvor behauptet, sind die tatsächlichen Belastungen durch den Druckstoß nicht deutlich kleiner, sondern vielmehr deutlich größer als einst mit dem vereinfachten Verfahren errechnet. Der unterstellte Rohrbruch außerhalb des Reaktors könnte deshalb „deutliche Überlastungen“ im Reaktor verursachen, schreibt das ENSI – der Störfall wäre nicht mehr beherrschbar.
Doch selbst als der Betreiber deshalb im März 2025 eine „mutmaßliche Auslegungsschwäche“ meldet, schreitet die Atomaufsicht zunächst nicht ein. Der Reaktor kann noch fast zwei Monate bis zur geplanten Revision weiterlaufen. Erst dann zieht das ENSI die Notbremse. Wieder anfahren, teilt die Behörde im Sommer mit, dürfe das AKW erst, wenn der Betreiber nachgewiesen habe, dass es auch den Störfall „Brüche einer Speisewasserleitung“ beherrschen könne …
Ein Kernschmelzunfall im AKW Gösgen könnte weite Teile Deutschlands radioaktiv kontaminieren. Das hat eine im Juni vorgestellte Studie gezeigt, an der .ausgestrahlt maßgeblich mitgewirkt hat. Unter Umständen müsste eine Zone bis weit über Stuttgart hinaus binnen weniger Stunden evakuiert werden. Große Gebiete bis in mehrere Hundert Kilometer Entfernung könnten langfristig unbewohnbar werden.
Noch mehr unerkannte Mängel?
Das Beispiel Gösgen zeigt, dass Aussagen zur angeblichen Sicherheit eines AKW mitunter mehr Einbildung als Realität widerspiegeln. Wie viele unerkannte und/oder verharmloste Sicherheitsmängel stecken noch in den Schweizer Uralt-Reaktoren? Klar ist: Das tatsächliche Risiko eines schweren Atomunfalls ist deutlich höher, als Betreiber und Behörden behaupten. Für Deutschland, das bei einem Atomunfall in einem Schweizer AKW im Durchschnitt aller Wetterlagen eines Jahres sogar stärker betroffen wäre als die Schweiz selbst, bedeutet das: Bundes- und Landesregierung müssen Aussagen zum Zustand der grenznahen AKW endlich kritisch hinterfragen – und darauf drängen, die Atomgefahr aus der Schweiz endlich zu beenden.
Auch in der Schweiz selbst dürften der jahrzehntelang unentdeckte, dann gutgläubig belassene Sicherheitsmangel und der ungeplante monatelange Ausfall des Reaktors die Zweifel an der angeblichen Sicherheit und Zuverlässigkeit der Atomkraft mehren. Das könnte auch die aktuelle Debatte über Atomkraft dort beeinflussen. Der Energieminister, der zuvor für einen Atomlobbyverein gearbeitet hat, will das vom Stimmvolk beschlossene Neubauverbot für AKW wieder kippen – und argumentiert unter anderem mit einem angeblichen Strommangel im Winter. Der Reaktor in Gösgen aber, so viel ist klar, liegt nicht nur im Sommer und Herbst ungeplant still, sondern wird aller Voraussicht nach auch den Großteil des Winters über keine einzige Kilowattstunde Strom ins Netz speisen. Die Lichter werden deshalb nirgendwo ausgehen: Auch in der Schweiz boomen wie überall in Europa und weltweit die erneuerbaren Energien. Allein das diesjährige Plus beim Solarstrom in der Alpenrepublik hat den ausgefallenen Atomstrom schon nahezu ersetzt. Gut möglich also, dass ausgerechnet das AKW Gösgen selbst in den kommenden Monaten den Beweis erbringt, dass es sogar im Winter schlicht überflüssig ist.
Quellen
1 „Längerer Betriebsunterbruch beim KKW Gösgen“, ENSI, 27.08.2025
2 „Das Wiederanfahren verzögert sich um weitere 6 Monate“, Kernkraftwerk Gösgen, 22.08.2025
3 „Beherrschung von Brüchen im Speisewassersystem des KKW Gösgen“, ENSI, 12.09.2025
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