Wie viel Riss darf sein?

02.11.2020 | Armin Simon
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Foto: Julian Rettig

Gutachter und Gegengutachter sind sich einig: EnBW muss nachweisen, dass selbst rissige Rohre im AKW Neckarwestheim‑2 Störfallbelastungen standhalten würden. Aber gibt es diesen Nachweis?

Der baden-württembergische Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) ist nicht dafür berühmt, besonders gut mit Kritik umgehen zu können. Lieber keilt er ordentlich zurück. Auch am renommierten Reaktorsicherheitsexperten Manfred Mertins ließ er Ende Juli deshalb kein gutes Haar. Mertins hatte in einer im Auftrag von .ausgestrahlt erstellten Bewertung festgehalten, dass das von Korrosion und immer neuen Rissen – inzwischen mehr als 300 – heimgesuchte AKW seit Jahren im „gestörten Betrieb“ laufe. Nach dem Kerntechnischen Regelwerk ist das nicht zulässig.

.ausgestrahlt hat zusammen mit dem BUND-Landesverband Baden-Württemberg und dem Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar (BBMN) auf dieser Basis formal beantragt, den Reaktor nicht wieder ans Netz zu lassen, bevor nicht alle vier Dampferzeuger ausgetauscht sind. In den Dampferzeugern befinden sich die jeweils 4.000 dünnwandigen, vom radioaktiven Reaktorwasser durchströmten Rohre, an denen sich durch Korrosion Risse bilden.

Untersteller hingegen ließ das AKW trotz der erneuten Rissfunde Mitte Juli wieder ans Netz. Mertins Bewertung sei „mehrfach widerlegt“, tönte er. Sein Ministerium habe mehrere Stellungnahmen anderer Experten eingeholt, und „alle anderen Gutachten“ würden das Vorgehen von EnBW und der Atomaufsicht „stützen“. Aber stimmt das?

„Normalbetrieb“ mit erwartbaren Lecks?
Inhaltlich dreht sich der Streit um zwei Punkte. Befindet sich ein AKW, in dem sich seit inzwischen drei Jahren trotz aller Gegenmaßnahmen immer wieder aufs Neue Risse an einem neuralgischen Schwachpunkt des Reaktorkreislaufs bilden, weiterhin im „Normalbetrieb“? Oder ist ein solcher Fehler, dessen Ursache bis heute nicht behoben ist, als systematische und fortdauernde Betriebsstörung (Fachausdruck: „Betrieb unter Bedingungen der Sicherheitsebene 2“) zu werten?

Mertins sagt: eindeutig letzteres – schließlich sei der Schädigungsmechanismus auch nach Aussage der Atomaufsicht nach wie vor nicht beseitigt. Weil bei Spannungsrisskorrosion – das schreibt die Reaktorsicherheitskommission! – weiterhin mit „unbemerkten, schnell wachsenden Fehlern“ zu rechnen sei, könnten selbst Lecks, also wanddurchdringende Risse, nicht ausgeschlossen werden. Ergo, so Mertins, müsse man von einer „erwartbaren Beeinträchtigung der Barrierenfunktion der Dampferzeuger-Heizrohre“ ausgehen – weshalb von einem „Normalbetrieb“ keine Rede sein könne. Der Reaktor, hieße das in der Konsequenz, dürfte in diesem Zustand also nicht wieder ans Netz gehen.

„Ein dauerhafter (gestörter) Anlagenbetrieb unter den Bedingungen der Sicherheits-ebene 2 ist unzulässig“, bestätigt auch das vom Umweltministerium mit einem Gegengutachten zu Mertins beauftragte Physikerbüro Bremen. Auf den nach wie vor vorhandenen Schädigungsmechanismus, der die Gefahr weiterer Risse begründet, geht dieses Gutachten allerdings nicht ein.

Stattdessen argumentiert es, Risse seien nicht in jedem Fall automatisch als „Störung“ zu werten, vielmehr dürfe ein Reaktor unter Umständen auch mit Heizrohrschädigungen wieder ans Netz gehen. Voraussetzung dafür sei allerdings – und das führt direkt zum zweiten Streitpunkt –, dass „die Erfüllung der Anforderungen gezeigt ist“. Zu diesen Anforderungen gehört unter anderem der Nachweis, dass die Rohre nicht nur im Normalbetrieb, sondern auch unter Störfallbelastung – maßgeblich in diesem Fall ist der sogenannte „ATWS“-Störfall – 
intakt bleiben müssen. Es muss also sichergestellt sein, dass sie trotz der Risse, die sich bis zur nächsten Überprüfung bilden können, selbst bei einem ATWS-Störfall nicht abreißen. Genau dasselbe verlangt Mertins auch.

Ist der Kaiser nackt?
Nach Aussage des Physikerbüros braucht es daher einen sogenannten Integritätsnachweis für die Rohre. Dieser müsse erstens rechnerisch belegen, dass die im Zeitraum bis zur nächsten Prüfung zu erwartenden maximalen Risse auch unter Störfallbelastungen nicht zu einem Abreißen der Rohre führen könnten („Tragfähigkeitsnachweis“). Zweitens müsse nachgewiesen werden, dass auch ein bereits wanddurchdringender Riss unter Störfallbelastungen nicht zum Versagen der Rohre führe und ein solches Leck zudem zumindest im Normalbetrieb so rechtzeitig bemerkt werden könne, dass die Anlage noch in einen sicheren Zustand gebracht werden könne („Leck-vor-Bruch-Nachweis“).

EnBW behauptet seit Jahren, diese Nachweise beide erbracht zu haben. Alle Dokumente, 
die .ausgestrahlt – auch auf explizite Nachfrage 
dazu – bisher ausgehändigt bekommen hat, lassen daran jedoch zweifeln. Untersucht hat EnBW bei seinen angeblichen „Nachweisen“ nämlich jeweils nur bestimmte mittlere Rissgrößen – tatsächlich aufgetreten hingegen sind auch deutlich größere Risse. Eine der EnBW-Grafiken, von EnBW nicht weiter kommentiert, legt sogar den Schluss nahe, dass mehrere bereits aufgetretene Risse so groß waren, dass bei einem ATWS-Störfall ein spontanes Abreißen der Rohre zu unterstellen gewesen wäre – also genau das, was nach übereinstimmender Aussage sowohl von Mertins als auch des Physikerbüros Bremen nicht passieren darf.

Der TÜV Nord, der die Angaben und Schlussfolgerungen von EnBW 2018 überprüfen sollte, nickte diese damals ab. (Allerdings bestätigte er im selben Testat, dass der Reaktor rissfrei sei; nicht einmal ein Jahr später kam dann heraus, dass fast 100 Risse übersehen worden waren.) Auf EnBW und TÜV beruft sich nun auch das Physikerbüro; tatsächlich überprüft oder gar nachgerechnet hat es die Nachweise nicht.
Gleiches gilt für den vom Umweltministerium ebenfalls mit einer Replik auf Mertins’ Bewertung beauftragten Materialwissenschaftler Prof. Dr. Anton Erhard von der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM). Der stellt in seinem Gutachten „Nachweise zur Integrität der Dampferzeuger-Heizrohre“ zwar die Behauptung auf, dass „das Auftreten eines nicht wanddurchdringenden Risses, der die Grenzen der Traglast erreichen würde, binnen eines Prüfintervalls nicht zu unterstellen ist“. Nähere Ausführungen hierzu, Angaben zu den zugrundegelegten Rissgrößen, Lastannahmen, Nachweise oder gar Berechnungen bleibt er allerdings schuldig.

Nicht ausgeschlossen also ist, dass es sich mit dem angeblichen Integritätsnachweis für die Rohre im Riss-Reaktor Neckarwestheim‑2 am Ende verhält wie mit des Kaisers neuen Kleidern: Alle beziehen sich darauf, tatsächlich aber ist der Kaiser nackt.

Weiterlesen:

Im gestörten Betrieb zu bleiben, ist verboten

Gefahr in Neckarwestheim

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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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