
Gefährliche Risse!
Untersuchungen im AKW Neckarwestheim‑2 haben im Juni 2020 zum vierten Mal in Folge Schäden in den Dampferzeugern aufgedeckt. Mehr als 300 Rohre weisen zum Teil tiefgehende und lange Risse auf. Die Ursache ist bis heute nicht behoben. Damit besteht die akute Gefahr, dass weitere Risse entstehen und Rohre spontan abreißen. Expert*innen warnen, dass ein solcher Bruch einen Störfall bis hin zur Kernschmelze auslösen könnte. Das grün geführte Umweltministerium in Stuttgart negiert die Gefahr und hat den Reaktor im Juli 2020 – wie schon nach den Rissfunden im Herbst 2018 und im Herbst 2019 – wieder ans Netz gelassen.
Wir fordern:
- Das AKW Neckarwestheim‑2 muss vom Netz, solange weitere gefährliche Risse in den Heizrohren und/oder weitere Korrosionsschäden nicht hundertprozentig ausgeschlossen sind.
- Die Atomaufsicht darf sich nicht auf ein angebliches „Leck-vor-Bruch“-Verhalten von Rohren verlassen, von dem bekannt ist, dass es für die im AKW Neckarwestheim‑2 vorkommenden Schäden gar nicht existiert.
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Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) und Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) müssen die Sicherheit der Bevölkerung im Großraum Stuttgart endlich vor die wirtschaftlichen Interessen von EnBW stellen – auch wenn der AKW-Betreiber ein quasi landeseigener Konzern ist.
Weiterlesen:
- Artikel "Im roten Bereich" vom 5.2.2021: Eine Berechnung der Materialprüfungsanstalt Stuttgart zeigt: Mindestens vier der Riss-Rohre im AKW Neckarwestheim waren schon so stark geschädigt, dass ihr Versagen unter Störfallbedingungen nicht auszuschließen war – und das völlig unbemerkt.
- Interview mit Reaktorsicherheitsexperte Manfred Mertins über die immer neuen Risse im AKW Neckarwestheim‑2 und das bisherige Verhalten von EnBW und Atomaufsicht.
- Antrag an das Umweltministerium Baden-Württemberg: Weiterbetrieb des AKW Neckarwestheim II mit irreversiben geschädigten bzw. vorgeschädigten Dampferzeugern untersagen
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Mehr Informationen in der fachlichen Stellungnahme des Reaktorsicherheitsexperten Manfred Mertins zu „Risiken betrieblich bedingter Brüche von Dampferzeuger-Heizrohre infolge von Spannungskorrosion“
Unbekannt und unerkannt
Aufsichtsbehörden und Sachverständige sollen die Sicherheit der AKW garantieren – doch längst nicht alle ihre Annahmen erweisen sich als richtig. Das zeigen die zahlreichen neuen Rissfunde im AKW Neckarwestheim‑2

Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) war sich seiner Sache sicher. Die Probleme mit den rissigen Rohren im AKW Neckarwestheim‑2 seien „behoben“, verkündete er beim Redaktionsbesuch in der „Heilbronner Stimme“. Das war im Mai. Vier Monate später holt die Realität den Minister ein. Die erneute Untersuchung der seit Jahren von Korrosion betroffenen Dampferzeuger des Reaktors hat 209 weitere Risse an 191 Rohren offenbart, dazu mindestens 66 neue Fälle von Lochkorrosion.
Die Schäden an den so genannten Dampferzeugerheizrohren sind keine Lappalie. Die Rohre sind Teil des Primärkreislaufs des Reaktors, durch sie strömt das heiße, unter hohem Druck stehende radioaktive Wasser aus dem Reaktorkern. Ein Bruch auch nur eines der mehr als 16.000 Rohre wäre bereits ein nur schwer zu beherrschender Kühlmittelverluststörfall. Würde noch ein weiteres Rohr beschädigt, wäre der Störfall bereits auslegungsüberschreitend – eine Kernschmelze droht.
Es ist das dritte Jahr in Folge, dass im AKW Neckarwestheim‑2 Korrosionsschäden an den Rohren in den Dampferzeugern auftauchen. EnBW, die Untersteller unterstellte baden-württembergische Atomaufsicht und die von ihr hinzugezogenen Sachverständigen haben jedes Mal Annahmen zum Zustand des Reaktors, zum Umfang der Schäden und zum Schadensmechanismus getroffen und den Reaktor auf Basis dieser Annahmen wieder ans Netz gelassen. Diese aber stellten sich mehrfach als falsch heraus.
Falsch eingeordnet
2017 fallen bei Routinekontrollen erstmals muldenförmige Wanddickenschwächungen an einigen Dampferzeuger-Rohren auf. Die Atomaufsicht schließt Lochkorrosion als Ursache zunächst aus: Diese sei angesichts des hoch korrosionsfesten Werkstoffs und der angenommenen Zusammensetzung des Wassers physikalisch-chemisch unmöglich. Tatsächlich sind beide Annahmen falsch: Das Wasser ist, obwohl es die geltenden Grenzwerte einhält, so aggressiv, dass es die Rohre angreift und diese in einem so schlechten Zustand, dass sie eben doch anfällig für Lochkorrosion sind.
Hätten Betreiber, Sachverständige und/oder Atomaufsicht das erkannt, hätten sie auch auf die Idee kommen können (und müssen), dass möglicherweise noch andere Korrosionsmechanismen am Werk sind. Lochkorrosion nämlich hat dieselben chemischen Voraussetzungen wie die weitaus brisantere Spannungsrisskorrosion – mit dem einzigen Unterschied, dass für das Auftreten von Spannungsrisskorrosion zusätzlich noch Materialspannungen nötig sind. Dass solche Spannungen an bestimmten Stellen der Dampferzeuger-Rohre auftreten, ist seit Langem bekannt. Folglich hätte bei korrekter Einordnung der ersten Korrosionsbefunde sofort der Verdacht im Raum stehen müssen, dass auch die Gefahr von Spannungsrisskorrosion besteht und entsprechende Untersuchungen erfolgen müssen. So aber kommt niemand auf den Gedanken, die Rohre auf Risse zu untersuchen. Stattdessen darf der Reaktor mit Zustimmung der Behörde und der Sachverständigen wieder ans Netz, ohne dass die Ursache für die entdeckte Korrosion geklärt ist – und mit mutmaßlich zahlreichen, auch damals schon tiefen, aber noch unerkannten Rissen.
2018, nach weiteren Funden volumenförmiger Vertiefungen, lässt die Behörde dann endlich sämtliche Rohre aller vier Dampferzeuger in Neckarwestheim untersuchen. Und siehe da: 101 weisen Risse auf, stellenweise ist die Rohrwand schon bis auf einen 0,1 Millimeter dünnen Rest durchgefressen. Lochfraß und Spannungsrisskorrosion lautet nun die Diagnose, als Ursache benennt der Betreiber Oxidationen aufgrund der 2010 begonnenen Einspeisung von Sauerstoff in den Dampfkreislauf und Sulfate, die aus dem dreckigen Neckarwasser über seit 2013 auftretende Leckagen in den Dampfkreislauf gelagen. Die Sauerstoffeinspeisung geschah mit Billigung von Aufsichtsbehörde und Sachverständigen, die Kondensator-Leckagen sind offenbar ebenfalls seit Jahren bekannt. Die dadurch hervorgerufenen Gefahren jedoch hatte keine*r der für die Sicherheit des AKW Zuständigen im Blick.
Blinde Messonde
Bei den Untersuchungen der Rohre im Herbst 2018 unterläuft Prüfer*innen, Aufseher*innen, Betreiber und Sachverständigen der nächste Fauxpas: Niemand kommt auf den Gedanken, dass die als Ursache der Korrosion benannten Ablagerungen von Eisenoxiden und Sulfaten am unteren Ende der Rohre unter Umständen auch die Messsignale der zur Untersuchung der Rohre eingesetzten Sonden verfälschen. Genau das aber ist der Fall: Die Störsignale der Ablagerungen überlagern in zahlreichen Fällen die Riss-Signale – und das genau an der Stelle, wo die Risse auftreten, nämlich am unteren Ende der Rohre.
Betreiber, Sachverständige und Behörden erliegen somit erneut einer gravierenden Fehlannahme. Sie alle gehen davon aus – und bestätigen das in ihren Testaten – dass nach Untersuchung aller Rohre auch alle Risse entdeckt und somit alle rissigen Rohre verschlossen wurden. Der angeblich „rissfreie“ Zustand des Reaktors ist Voraussetzung für die Wiederinbetriebnahmegenehmigung und eine der Grundlagen des angeblichen „Integritätsnachweises“ der Rohre für den bevorstehenden Betriebszyklus. „Die defekten Heizrohre sind verschlossen und nicht mehr in Betrieb“, begründet Umweltminister Untersteller damals seine Zustimmung zum Wiederanfahren des Reaktors. Wie wir heute wissen, war dieser alles andere als rissfrei. In dem Zustand, in dem das AKW Neckarwestheim‑2 im November 2018 tatsächlich war, hätte es nach den von der Behörde, den Sachverständigenorganisationen und der Reaktorsicherheitskommission selbst gesetzten Maßstäben niemals ans Netz gehen dürfen.
Der Fehler fällt erst Monate später auf. Infolge der Rissfunde in Neckarwestheim hat das Bundesumweltministerium verstärkte Risskontrollen auch in allen anderen AKW gefordert. Bei Untersuchungen der Dampferzeuger im AKW Lingen/Emsland schöpft der mit den Prüfungen betraute AKW-Hersteller Framatome Verdacht. Eine daraufhin eingesetzte weitere Sonde weist dort schließlich einen zuvor unentdeckten Riss nach, der 58 Prozent der Wandstärke bereits durchdrungen hat. In der Folge kommt diese Sonde auch in Neckarwestheim‑2 zum Einsatz – und wird fündig. 95 der 209 im Sommer 2019 entdeckten Risse waren demnach schon 2018 vorhanden, wurden aber übersehen. EnBW verkauft diesen Skandal als Fortschritt bei der Messtechnik.

Atomaufsicht und Gutachter*innen verlieren über ihre Fehlannahmen 2018 kein einziges Wort. Dafür halten sie an einer weiteren Annahme fest: Der nämlich, dass ein Riss in einem der Rohre sowohl beim Weiterwachsen als auch unter Belastung zwingend immer zuerst ein Leck verursache, das Rohr also nicht einfach abreiße. Ein Leck jedoch, so die Argumentation, könne zeitnah detektiert werden, der Reaktor müsse dann – eine Auflage seit 2018 – umgehend herunterfahren. Untersuchungen der Materialprüfungsanstalt Stuttgart an Original Dampferzeuger-Heizrohren, wie sie auch im AKW Neckarwestheim‑2 verbaut sind, kamen allerdings zu einem anderen Ergebnis: Ein Leck bildete sich nur, wenn der Riss längs zur Rohrachse verlief. Bei umlaufenden Kerben, wie sie die Risse in Neckarwestheim verursachen, brach das Rohr unter Belastung spontan ab.
Grüne halten an AKW-Betrieb fest
Würden Risse wie in Neckarwestheim in einem ausländischen AKW, etwa in Tihange auftreten, wäre die Aufregung quer durch alle Parteien groß. In Neckarwestheim hingegen akzeptiert die Politik das Atom-Risiko – sogar die grün geführte Landesregierung. EnBW ist de facto ein Staatskonzern, das Land Baden-Württemberg Hauptanteilseigner. Der frühere CDU-Ministerpräsident Mappus brauchte nach Fukushima ganze vier Tage, um mit dem damaligen EnBW-Chef das endgültige Aus des AKW Neckarwestheim‑1 zu vereinbaren, für dessen Laufzeitverlängerung der Konzern zuvor jahrelang gekämpft hatte; der Meiler ging nie wieder ans Netz. Die baden-württembergischen Grünen hingegen, hervorgegangen aus den Anti-Atom-Protesten in Whyl und anderswo, und ihr Regierungspersonal halten seit mehr als acht Jahren am Weiterbetrieb der AKW Neckarwestheim‑2 (und Philippsburg‑2) fest. Ein schwerer Atomunfall in Neckarwestheim, so urteilte 2018 der Leiter der baden-württembergischen Atomaufsicht in der Debatte über die Risse, sei „vollkommen unwahrscheinlich“. Das jedenfalls war die Annahme.
Armin Simon
Von Rissen wissen
Gefährliche Risse in den Heizrohren der Dampferzeuger des AKW Neckarwestheim sorgen im Herbst 2018 für Schlagzeilen und für einen Disput zwischen .ausgestrahlt und der Atomaufsicht in Stuttgart, die den Reaktor trotz allem wieder ans Netz lässt. Ein Sachstand
Mehr als hundert von heißem radioaktivem Wasser durchströmte und unter hohem Druck stehende Heizrohre in den Dampferzeugern des AKW Neckarwestheim‑2 weisen teilweise tiefgehende Risse auf. Die Risse, die unvorhersehbar und schnell wachsen können, haben an einzelnen Stellen schon bis zu 91 Prozent der Rohrwand durchdrungen, das Metall ist dort nur noch 0,1 Millimeter dick. Als .ausgestrahlt diese Informationen aus dem Umweltministerium im Oktober öffentlich macht, ist die Aufregung groß. Denn der Abriss eines oder mehrerer der rund 16.000 Heizrohre, schreibt Reaktorsicherheitsexperte Manfred Mertins in einer Stellungnahme für .ausgestrahlt, kann bereits einen schwerwiegenden, unter Umständen sogar auslegungsüberschreitenden Störfall auslösen. Davor hatte – unter Verweis auf ein weiteres mögliches Unfallszenario – auch der ehemalige Betriebsleiter des AKW Biblis‑B, Helmut Mayer, im .ausgestrahlt-Magazin Nr. 41 gewarnt.

In den vier Dampferzeugern des AKW strömt das mehr als 300 Grad heiße radioaktive Wasser des Primärkreislaufs, das aus dem Reaktorkern kommt, durch jeweils 4.000 etwa 13 Meter lange, u-förmig gebogene Rohre, die sogenannten Heizrohre. Diese geben die enorme Hitze an das sie umströmende Wasser des Sekundärkreislaufs ab, das dabei verdampft; der unter hohem Druck stehende Dampf treibt schließlich die Turbinen, diese wiederum die Generatoren an – fertig ist der Atomstrom.
In seiner eigenen Mitteilung hatte das Umweltministerium zunächst nur von einer „größeren Anzahl“, EnBW sogar nur von „einzelnen“ betroffenen Heizrohren gesprochen. Weder EnBW noch die Atomaufsicht hatten zudem darauf hingewiesen, dass es sich bei den Rissen um die besonders gefährliche Spannungsrisskorrosion handelt (dazu unten mehr), noch hatten sie erwähnt, dass neben den Rissen auch muldenförmige Korrosionen an den Heizrohren aufgetreten sind.
Letzteres ist deswegen beachtlich, weil EnBW bereits während der Revision im Herbst 2017 „muldenförmige Vertiefungen“ an der Außenseite von 32 Heizrohren des Dampferzeugers Nr. 10 melden musste (der ebenfalls stichprobenweise untersuchte Dampferzeuger Nr. 30 war ohne Befund). Die damals in Absprache mit der Atomaufsicht eingeleiteten Gegenmaßnahmen konnten den Schadensmechanismus aber offensichtlich nicht abstellen: Im Laufe des
Betriebszyklus 2017/2018 vergrößerten sich bereits vorhandene Befunde, neue kamen hinzu.
Gefährliche Fehleinschätzungen
Die dem grünen Umweltminister Untersteller unterstehende Atomaufsicht in Stuttgart nahm die Wanddickenschwächungen 2017 auch nicht zum Anlass, sofort alle vier Dampferzeuger des AKW überprüfen zu lassen – andernfalls hätte EnBW den Reaktor nicht so schnell wieder in Betrieb nehmen können. Vielmehr ordnete sie eine Überprüfung der beiden anderen Dampferzeuger erst für die Revision 2018 an. Damit sei man bereits über die Anforderungen des kerntechnischen Regelwerks hinausgegangen, argumentiert die Behörde. Ohne dass die Ursache der Korrosion geklärt wäre, darf der Reaktor am 28. September 2017 schließlich wieder ans Netz. Lochkorrosion allerdings, das teilt die Behörde damals auf Anfrage mit, sei an den Heizrohren schon aus physikalisch-chemischen Gründen unmöglich.
Inzwischen ist klar, dass diese Einschätzung falsch war: Bei den muldenförmigen Vertiefungen handelte und handelt es sich um Lochkorrosion. Was sowohl EnBW als auch die Aufsichtsbehörde hätte stutzig machen müssen. Denn die Heizrohre in den Dampferzeugern sind aus einem eigentlich besonders korrosionsbeständigen Material gefertigt. Korrodiert dieses trotzdem, ist das ein Hinweis darauf, dass die schützende chromhaltige Schicht an der Oberfläche stellenweise beschädigt ist.
An dieser Stelle kommen die oben erwähnten und weitaus gefährlicheren Risse ins Spiel: Denn an den beschädigten Oberflächen können sich Sulfite und Chloride aus dem Wasser des Sekundärkreislaufs absetzen. Damit wiederum sind an den herstellungsbedingt unter Zugspannungen stehenden Heizrohren die Voraussetzungen für Spannungsrisskorrosion gegeben – die Ursache der 2018 schließlich entdeckten 101 Risse.
Spannungsrisskorrosion sagt die Materialwissenschaftlerin Ilse Tweer, die sich lange mit dem Phänomen beschäftigt hat, sei deshalb so gefährlich, weil man sie „nicht vorhersagen“ könne. Lägen die entsprechenden Randbedingungen vor, könnten solche Risse unerwartet auftreten und unvorhersehbar schnell fortschreiten.
Wann genau die Risse im AKW Neckarwestheim‑2 entstanden und in welchem Tempo sie gewachsen sind, ist unbekannt: Die betroffenen Dampferzeuger Nr. 20 und 40 waren zuletzt 2014 und auch damals nur stichprobenweise kontrolliert worden. Die Reaktorsicherheitskommission hält nach Erfahrungen in anderen AKW fest, dass bei Spannungsrisskorrosion schon innerhalb von 1,5 bis 2 Jahren „mit einem wanddurchdringenden Riss gerechnet werden müsse“.
Dass sich überhaupt so viele korrosive Substanzen im Wasser des Sekundärkreislaufs befinden, ist, wie auf Nachfrage von .ausgestrahlt herauskommt, wiederum auf Fehleinschätzungen von Betreiber und Aufsichtsbehörde zurückzuführen. So gibt es im AKW Neckarwestheim‑2 offenbar erstens seit vielen Jahren Lecks in den Kondensator-Rohren, durch die zur Kühlung genutztes sulfathaltiges Neckarwasser in den Sekundärkreislauf eindringt. Zweitens speist EnBW, und zwar mit Billigung der Aufsichtsbehörde, seit 2010 absichtlich Sauerstoff in das Wasser des Sekundärkreislaufs ein, um Ablagerungen in den Zwischenüberhitzern zu bekämpfen. Wie der TÜV jetzt in einer Stellungnahme festhielt, führte diese Sauerstoffdosierung allerdings auch dazu, dass sich vermehrt Eisenoxid bildete. Die Rostpartikel lagerten sich unter anderem an den Enden der Dampferzeuger-Heizrohre ab, wo sie wie ein Schwamm für im Wasser enthaltene Chloride und Sulfate wirkten und so besonders korrosive Bedingungen schufen. Acht Jahre lang hatte diese Gefahr offenbar niemand auf dem Schirm.
Weitere Risse nicht ausgeschlossen
Nach Entdeckung der Risse stoppte EnBW notgedrungen die Sauerstoffeinspeisung wieder und dichtete die Kondensator-Leckagen teilweise ab. Zudem bemühte sich der Konzern, mit Spülungen möglichst viel der korrosionsfördernden Ablagerungen an den Enden der Heizrohre zu entfernen. Nach Aussage des TÜV können all diese Maßnahmen eine weitere Spannungsrisskorrosion aber „nicht ausschließen“. Auch die Atomaufsicht hält in ihrem abschließenden Bericht weitere Risse, selbst wanddurchdringend, für möglich.
Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Reaktorsicherheitsexperten Manfred Mertins forderte .ausgestrahlt am 6. November, den Reaktor nicht wieder ans Netz zu lassen, „solange das Auftreten weiterer schnell wachsender Risse in den Dampferzeugern nicht hundertprozentig ausgeschlossen ist“. Die baden-württembergische Atomaufsicht, kurz davor, dem Wiederanfahren des Reaktors zuzustimmen, zeigte sich darüber not amused. Mit Blick auf die entdeckten Risse vor der Gefahr eines schweren Störfalls in Neckarwestheim zu warnen, sei unseriös, warf der Leiter der Atomaufsicht, Gerrit Niehaus, .ausgestrahlt öffentlich vor. EnBW, argumentiert er, habe die rissigen Rohre verschlossen und Maßnahmen getroffen, die die Gefahr weiterer Korrosionen verringern sollen. Es sei daher davon auszugehen, dass zumindest bis zur nächsten Revision kein Heizrohr leck schlage. Für den Fall, dass es doch dazu komme, habe man EnBW auferlegt, den Reaktor sofort abzufahren, damit das Leck sich nicht zum Bruch ausweiten könne. Rechtlich seien somit alle Voraussetzungen erfüllt, den Reaktor für zunächst neun Monate wieder in Betrieb zu nehmen. Die von Mertins in seiner Expertise beschriebenen Szenarien, so Niehaus, seien zwar möglich, in Neckarwestheim aber sehr „unwahrscheinlich“.
Das jedoch gilt für so ziemlich jedes Szenario, welches bisher zu einem Atomunfall geführt hat.
Armin Simon
Aktions- und Pressechronik (Auswahl)
17.07.2020: Anti-Atom-Aktivist*innen erklettern die EnBW - Zentrale in Karlsruhe. Robin Wood eV und ausgestraht fordern: "Schrott-Reaktor Neckarwestheim abschalten! Jeder Riss ist einer zu viel!"
08.07.2020: In der Nacht zum 08. Juli 2020 projizierten Atomkraftgegner*innen einen großen Riss auf die Reaktorkuppel.

05.07.2020: Sonntagsspaziergang zum AKW Neckarwestheim - das Aktionsbündnis CASTOR-Widerstand Neckarwestheim ist zum AKW Neckarwestheim gezogen und forderte das AKW nicht mehr in Betrieb zu nehmen. Mit flatternden 'Airtubes' vor dem Neckarwestheimer AKW sollte die die enorme und zerstörerische Wucht symbolisiert werden, die in einem Dampferzeuger beim Abriss auch nur eines einzigen Rohres entstehen würde.

03.07.2020: „Jeder Riss ist einer zu viel – Schrottreaktor Neckarwestheim abschalten“ - Mit tanzenden Rohren haben Atomkraftgegner*innen vor dem Umweltministerium in Stuttgart gegen den Betrieb des Reaktors mit verrotteten Dampferzeugern protestiert.

19.06.2020: Zu Beginn der jährlichen Revision beantragen der BUND Baden-Württemberg, der Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar e.V. (BBMN) und .ausgestrahlt gemeinsam den Austausch aller vier Dampferzeuger im AKW Neckarwestheim II. In mehr als 300 Rohren wurden bisher Risse entdeckt. Der Reaktorsicherheitsexperte Prof. Dr.-Ing. habil. Manfred Mertins stellt in einer Bewertung fest, dass das Vorgehen von EnBW die deutschen Sicherheitsanforderungen missachtet.
21. September 2019: Mit einer überdimensionalen atomaren Geburtstagstorte empfängt .ausgestrahlt gemeinsam mit Atomkraftgegner*innen aus der Region die Delegierten des Jubiläumsparteitages der Grünen in Sindelfingen.


13. September 2019: .ausgestrahlt organisiert gemeinsam mit Initiativen vor Ort spontan eine Protestaktion vor dem AKW in Neckarwestheim, an der rund 50 Atomkraftgegner*innen teilnehmen.

4. September 2019: Zur Behauptung von EnBW, die getroffenen Maßnahmen gegen die Rissbildung im AKW Neckarwestheim-2 zeigten bereits „erste Erfolge“, erklärt .ausgestrahlt: EnBW täuscht Öffentlichkeit über den Zustand des AKW.
3. September 2019: Im AKW Neckarwestheim‑2 sind im dritten Jahr in Folge Korrosionsschäden an den Heizrohren in den Dampferzeugern entdeckt worden, darunter bisher insgesamt 292 zum Teil tief gehende Risse. Ursache der Risse ist nach Annahme von EnBW und Behörden die gefährliche Spannungsrisskorrosion, die Risse unvorhergesehen entstehen und schnell wachsen lässt. Durch die Heizrohre strömt unter hohem Druck stehendes heißes radioaktives Wasser aus dem Reaktorkern. Ein Abriss von Heizrohren kann zu einer Kernschmelze führen. .ausgestrahlt reagiert mit einer Pressemitteilung: Atomkraftgegner*innen fordern endgültige Abschaltung.
26. Oktober 2018: "Wir flicken bis zum Super-GAU – EnBW“ ist in der Nacht zum 26.10. in großen Lettern auf der Reaktorkuppel des AKW Neckarwestheim‑2 zu lesen. .ausgestrahlt erklärt: EnBW darf die Sicherheit der Bevölkerung nicht weiter aufs Spiel setzen.

25. Oktober 2018: Zum wiederholten Mal fallen im AKW Neckarwestheim‑2 Schäden an den Heizrohren der Dampferzeuger auf. Ein Leck dort, warnt ein ehemaliger AKW-Betriebsleiter, könnte unter Umständen eine nicht mehr beherrschbare Kettenreaktion im Reaktor nach sich ziehen.
Fragen und Antworten...
A)... zur Korrosion der Dampferzeuger-Heizrohre im AKW Neckarwestheim‑2 und zu den möglichen Folgen eines Dampferzeuger-Heizrohrlecks.
B) ... zu den Schäden an den Dampferzeuger-Heizrohren im AKW Neckarwestheim‑2
Gefährliches Wasser
Was hat es mit dem von einem ehemaligen AKW-Betriebsleiter beschriebenen möglichen schweren Deionat-Pfropfen-Störfall in Folge eines Dampferzeuger-Heizrohrlecks auf sich?

Diplom-Ingenieur Helmut J. L. Mayer, 69, war 1975 als Jungingenieur bei der Inbetriebnahme des AKW Biblis B dabei, nahm den ersten AKW-Simulator in Deutschland mit in Betrieb, arbeitete an Störfallanalysen, schulte AKW-Personal und war Teil der Betriebsmannschaft des Reaktors, zuletzt als Betriebsleiter.
Bei dem nach einem Dampferzeuger-Heizrohrleck erforderlichen Absenken des Reaktordrucks kann es passieren, dass der Druck im Reaktorkreislauf unter den im Sekundärkreislauf fällt. Dann kann kaltes, nicht boriertes Wasser aus dem Sekundärkreislauf in den Primärkreislauf fließen. Fallen die Hauptkühlmittelpumpen aus – was durchaus passieren kann – könnte sich dieses Wasser im Pumpenbogen vor dem Reaktordruckbehälter sammeln. Würde dieser Wasserpfropfen auf einen Schlag in den Reaktorkern gespült, hätte dies einen Leistungsblitz, also ein schnelles Ansteigen der Reaktorleistung, zur Folge. Dieses von einem ehemaligen Betriebsleiter des AKW Biblis‑B beschriebene Szenario stellt einen weiteren infolge eines Heizrohrlecks möglichen Störfall dar. Mehr Informationen im Interview mit Helmut Mayer >>