Erdbeben und AKW: Die unterschätzte Gefahr

23.02.2023 | Armin Simon
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Auch in Deutschland war und ist der Schutz von AKW gegen Erdbebengefahren und der Umgang der Behörden damit mangelhaft.

Ähnlich wie 2011 im japanischen Fukushima hätte auch das aktuelle Erdbeben im türkischen-syrischen Grenzgebiet zusätzlich noch eine Atomkatastrophe verursachen können, wenn es einige Monate später passiert wäre. Denn im türkischen Akkuyu, am westlichen Rande des Erdbebengebiets, baut der russische Staatskonzern Rosatom an vier 1.200-Megawatt-Reaktoren; der erste davon soll dieses oder nächstes Jahr in Betrieb gehen. Unter anderem wegen der Erdbebengefahr gibt es an dem Projekt seit langem internationale Kritik.

Doch nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland war und ist der Schutz von AKW gegen Erdbebengefahren und der Umgang der Behörden damit mangelhaft, wie die folgenden Beispiele zeigen. Und in den Nachbarländern sieht es nicht viel besser aus.

Die unterschätzte Gefahr

Das AKW Biblis A zwischen Mannheim und Frankfurt ist bei seiner Inbetriebnahme 1974 der weltgrößte Reaktor – errichtet in einer der seismisch aktivsten Zonen Deutschlands, dem Oberrheingraben. Doch die Behörden begnügen sich damit, den Reaktor und seinen Schwesterblock Biblis B nur gegen die schwächere Hälfte der am Standort zu erwartenden Erdbeben auszulegen. Die Reaktoren hätten also selbst mehreren Beben, wie sie in der unmittelbaren Umgebung bereits aufgetreten sind, nicht widerstanden. Bei den Planungen für den (schlussendlich nie gebauten) Block C wenige Jahre später erhöhen die Behörden die Sicherheitsanforderungen. Maßgeblich sollen nun Erdbeschleunigungen von 2,0 m/s² statt der bei Block A und B angesetzten 1,5 m/s² sein. Gutachten von 1989 und 1999 halten allerdings Erdbeschleunigungen von 3,0 bis 15,0 m/s² in Biblis für möglich. Die Reaktorsicherheitskommission geht 2011, nach der Katastrophe von Fukushima, unter Verweis auf neue Erkenntnisse der Erdbebenfoschung davon aus, dass das Erdbebenrisiko an einigen AKW-Standorten in Deutschland unterschätzt wird.

Erdfall in der Nachbarschaft

Geologischen Gefahren besonderer Art ausgesetzt ist das AKW Neckarwestheim. Im kalkigen Untergrund des Reaktors wäscht das Grundwasser jedes Jahr 1.000 Kubikmeter neue Hohlräume aus. Nur wenige Kilometer vom AKW entfernt kommt es 2003 zu einem Erdfall: mitten auf einem Acker tut sich ein metertiefer Krater auf, als der ausgespülte Untergrund kollabiert.

Reaktorbau auf Erdbebenspalte

Besonders dreist agieren Reaktorbauer und Genehmigungsbehörden im Fall des AKW Mülheim-Kärlich. Der 1.300-Megawatt-Reaktor unweit von Koblenz wird quasi auf einer Erdbebenspalte errichtet. Atomkraftgegner*innen klagen, die Gerichte geben ihnen Recht: Der Reaktor, der bereits im Probebetrieb läuft, muss wieder abgeschaltet werden. Die rot-grüne Bundesregierung billigt RWE für den Reaktor im Zuge des „Atom-Konsens“ dennoch erhebliche Stromproduktionsrechte („Reststrommengen“) zu, mit denen stattdessen andere AKW länger laufen dürfen. Da RWE diese Rechte aufgrund der 2011 beschlossenen Abschaltdaten für die AKW bis Ende 2022 nicht mehr vollständig nutzen kann, erhält der Konzern 2021 eine Entschädigung von 860 Millionen Euro aus der Staatskasse.

Der eingebildete Schutz

Dass der behauptete und von Behörden und Sachverständigen unterstellte Erdbebenschutz nicht unbedingt dem realen entspricht, fällt Ende 2016 eher zufällig beim AKW Philippsburg‑2 auf. Der Ende 1984 in Betrieb genommene Reaktor nördlich von Karlsruhe, wie das AKW Biblis im besonders erdbebengefährdeten Oberrheingraben errichtet, ist in entscheidenden Details nicht so gebaut wie genehmigt worden. Wichtige Rohre sind nicht erschütterungsfest – und jahrzehntelang hat das niemand bemerkt. „Wir müssen feststellen, dass das Kernkraftwerk Philippsburg-2 30 Jahre lang nicht so sicher war, wie wir das bei Genehmigungserteilung angenommen haben. Der Störfall eines Erdbebens oder eines Flugzeugabsturzes wäre nicht sicher beherrscht worden“, räumt der Leiter der baden-württembergischen Atomaufsicht ein.

Beim Stresstest durchgefallen

Beim sogenannten deutschen „Stresstest“ der AKW nach Fukushima erreichen 14 der damals noch 17 AKW in Deutschland in puncto Erdbebensicherheit nicht einmal Level 1. Das AKW Grohnde ist sogar für das aktuelle „Bemessungserdbeben“, mit dem offiziell zu rechnen ist, nicht ausgelegt. Und die EU kritisiert in ihrem Stresstest, dass die AKW Grohnde, Brokdorf und Isar‑2 nicht einmal die von der IAEA empfohlenen und in Europa geltenden Mindestanforderungen beim Erdbebenschutz einhalten.

Die Schutt-Prognose

Die Reaktoren Gundremmingen B und C verfügen schon bei ihrem Bau Mitte der 1970er nicht über den damals vorgeschriebenen Erdbebenschutz. Trotz eindeutiger Vorschriften sind nur zwei statt drei Notkühlsysteme erdbebensicher ausgelegt. Die bayerische Atomaufsicht stört das jahrzehntelang nicht. Als das Thema nach der Atomkatastrophe von Fukushima nochmal hochkommt und ein Gutachten den mangelhaften Schutz nachweist (mehr dazu hier im Interview unter „Hintergrund“), gibt das Bundesumweltministerium ein Gegengutachten in Auftrag. Das argumentiert, dass im Notfall ja auch noch ein Ventil von Hand bedient werden könne – der Weg dorthin, das habe man geprüft, werde aller Voraussicht nach nämlich nicht sofort verschüttet … Dem Ministerium genügt dies, um den Reaktor am Netz zu lassen.

weiterlesen:

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    9.2.2023: Von dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien am Montag ist auch das einzige in Bau befindliche Atomkraftwerk der Türkei betroffen. Kritiker*innen fordern nun eine genaue Überprüfung.
  • “Nuclear alla Turca” - Widerstand gegen den Bau des ersten AKW in der Türkei
    9.3.2016: Mindestens seit den frühen 70er Jahren träumt die Türkei von ihrem ersten eigenen Atomkraftwerk. Bis heute wurde keines errichtet - allerdings begannen 2015 in Akkuyu die Bauarbeiten für vier Meiler. Anti-Atom-AktivistInnen vor Ort wollen dieser Entwicklung etwas entgegensetzen und drehen jetzt einen Film, in dem sie die absurden AKW-Pläne der türkischen Regierung entlarven. Ihre Message: Die Türkei ist am Scheideweg. Entweder setzt das Land auf Atomkraft oder aber auf erneuerbare Energien.
  • Türkei: Reaktorpläne in Erdbebengebiet sind Geheimsache
    13.5.2015: An der südtürkischen Mittelmeerküste entsteht das erste Atomkraftwerk des Landes. Akkuyu liegt in unmittelbarer Nähe zu einer aktiven Erdbebenzone, nur etwa 25 Kilometer entfernt vom seismischen Zentrum des sogenannten Ecemis-Grabens. Die Unterlagen zu dem Projekt sind geheim.
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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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