Aktuelle Stimmung und reale Strahlung in Fukushima

06.03.2013 | Jörg Raupach

In diesen Tagen jährt sich zum zweiten Mal die Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 in Japan. Die entsetzlichen Bilder der alles zerstörenden Tsunami-Welle, der unglaublichen Verwüstungen und, natürlich, der explodierenden Reaktoren von Fukushima Daiichi begegnen uns wieder – in den Medien, aber auch in unserem Inneren.

In Japan gedenken wir natürlich zuallererst der Opfer, der Tausenden von Toten und Verschollenen. Der 11. März ist aber auch zum Symbol für die Unbeherrschbarkeit und die zerstörerische Gewalt der Atomspaltung geworden – Fukushima steht für viele Menschen in einer Linie neben Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl. Ich meine, zurecht.

In meinen Ohren klingen immer noch die Worte von Keiko Sasaki, die sich als Bürgerin aus Fukushima jahrzehntelang gegen die Atomkraft und die Reaktoren in Fukushima gewehrt hat:

„Die Atomkraft hat uns aller Lebensgrundlagen beraubt; wir haben unsere Heimat verloren, unsere Arbeit, unsere Felder, unsere reine Luft, unser reines Wasser, unsere reiche Natur, und unsere Lebenshoffnung. Erdbeben und Tsunami sind Naturgewalten, aber Fukushima ist eine von Menschenhand, von uns Japanern gemachte und zu verantwortende Katastrophe. Wir Menschen aus Fukushima müssen alle drei Katastrophen gleichzeitig erdulden.“

Noch immer leben mehr als 160.000 Menschen in Notunterkünften, der Großteil davon nunmehr Strahlenflüchtlinge aus Fukushima. Ich komme gerade selbst von einer einwöchigen Tour in Fukushima zurück. Ich bin erschüttert und wütend zugleich: erschüttert, weil ich die brutale Realität eines Lebens mit radioaktiver Strahlung gesehen habe; wütend angesichts des Zynismus und Verantwortungslosigkeit des japanischen Staates und der wachsenden Gleichgültigkeit der japanischen Öffentlichkeit.

Die 20-Millisievert-Regel: Wie das Recht auf Evakuierung verweigert wird

Man riecht sie nicht, man hört sie nicht, man schmeckt sie nicht – aber sie ist da, die radioaktive Strahlung, und das noch auf Jahrzehnte. Hunderttausende von Menschen in zahlreichen Gebieten in der Präfektur Fukushima und anliegenden Regionen sind gezwungen zu einem Leben in dieser Realität, einem Leben mit der anhaltenden Ungewissheit über das, was diese Belastung dauerhaft für ihre Gesundheit und die Gesundheit ihrer Kinder bedeutet. Das Kriterium der japanischen Regierung für eine Zwangsevakuierung, sowie daran geknüpfte Hilfeleistungen, ist eine durchschnittliche Strahlenbelastung von 20 Millisievert pro Jahr. Dies entspricht dem Zwanzigfachen des Wertes (1 mSv pro Jahr), den das japanische Gesundheitsministerium – in Anlehnung an die Empfehlungen der International Commission for Radiation Protection – normalerweise als zulässige Maximalbelastung für japanische Bürger zugrundelegt; der Wert von 20 mSv pro Jahr entspricht dagegen dem Grenzwert für Menschen, die in radioaktiv belasteten Umfeld arbeiten, etwa AKW-Mitarbeiter oder im medizinischen Bereich. Mit anderen Worten, die japanische Regierung verwehrt den Menschen in den betroffenen Gebieten das grundlegende Recht eines jeden Bürgers Japans auf Schutz vor übermäßiger Belastung durch radioaktive Strahlung. Natürlich steht es den betroffenen Bürgern frei, freiwillig zu evakuieren, aber sie erhalten keinerlei Unterstützung durch den Staat.

Dies führt zu tiefen Rissen und Zerwürfnissen in vielen Familien, in denen junge Mütter mit ihren Kindern lieber wegziehen wollen, aber die Väter angesichts drohender Arbeitslosigkeit, und ältere Menschen aufgrund ihrer Heimatverbundenheit lieber bleiben wollen.

Die hohe Strahlenbelastung ist für Hunderttausende bittere Realität.

In großen Städten wie Fukushima-City oder Koriyama, die 60 km von den Unglücksreaktoren entfernt sind, sind Belastungen in der Luft von 0,5 Microsievert pro Stunde und mehr tagtäglich. Selbstverständlich wehren sich viele Bürger und schließen sich zu Initiativen zusammen, etwa das Fukushima-Netzwerk zum Schutz der Kinder vor Strahlung. Einer ihrer Erfolge ist, daß durch parteiübergreifende Zusammenarbeit einiger Parlamentsabgeordnete ein Rahmengesetz verabschiedet wurde, das ein Recht auf Unterstützung für freiwillige Evakuierung einräumt. Allein es fehlt an einem Umsetzungsgesetz.

Hinzu kommt, daß die offiziellen Messwerte nicht verlässlich sind. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie an Messstationen (mittlerweile etwa 3.200 in Fukushima) Werte angezeigt wurden, die um die Hälfte und weit mehr unter den Werten lagen, die wir in 5 – 10 Meter Entfernung von der Messstation gemessen haben.

Die Ursache sind nicht etwa fehlerhafte Messstationen, sondern die Tatsache, daß die Messplätze zuvor dekontaminiert wurden. Auch hier sind die Bürger zur Selbsthilfe gezwungen, indem sie mit eigenen, selbst finanzierten Messgeräten auf Autos bestückt die Gegend abfahren, messen und die Werte ins Internetstellen. Natürlich fehlen die Mittel und die Zahl der Geräte ist begrenzt.

Die Sorgen werden bestätigt durch den beunruhigenden Anstieg in der Zahl von Kindern mit Veränderungen an der Schilddrüse. So stellte man 2011 bei 35% der untersuchten 38.000 Kindern zwischen 0 und 18 Jahren Veränderungen der Schilddrüse fest; dieser Anteil ist bei der Untersuchung von 95,000 Kindern im Jahre 2012 auf 44% gestiegen. Drei Jugendliche sind an Schilddrüsenkrebs erkrankt.

Laut Experten liegen diese Zahlen deutlich über den Erkrankungen in Nagasaki und Gegenden um Tschernobyl; deren Appelle werden aber von zuständigen, offiziellen Ärzten in Fukushima mit dem Einwand beiseite gewischt, strahleninduzierte Erkrankungen würden erst nach mehreren Jahren auftreten, ein eindeutiger Zusammenhang mit der jetzigen Strahlenbelastung sei nicht eindeutig nachweisbar.

Diese unverantwortlichen Zustände haben mittlerweile – ebenfalls auf Betreiben von Bürgerinitiativen – die UN Menschenrechtskommission auf den Plan gerufen. Im November 2012 besuchte der UN Special Rapporteur für das Recht auf Gesundheit, Mr. Anand Grover, Fukushima. In seinem Zwischenbericht verweist er auf das 20 mSv-Thema und mahnt die japanische Regierung zu unverzüglichem Handeln. Es bleibt abzuwarten, welche Konsequenzen die japanische Regierung aus dem für Juni 2013 zu erwartenden Schlussbericht zieht.

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