Die internationale Dimension von Fukushima

08.03.2013 | Jörg Raupach

Fukushima und der Umgang der Politik und der Atomindustrie mit den Folgen offenbart erneut die internationale Dimension der Atompolitik. Radioaktive Strahlung kennt keine nationale Grenzen – Japan hat nicht nur das eigene Land und die eigene Bevölkerung radioaktiv verschmutzt, sondern den Erdball insgesamt. Noch bleibt abzuwarten, welche Folgen Fukushima für die Ozeane und die Meeresökologie hat.

Aber auf die Art, wie die Politik und die internationale Atomindustrie mit Fukushima umgeht, verdeutlicht die ungeheure internationale Dimension. Drei Beispiele:

  • Im Dezember des vergangenen Jahres veranstaltete die IAEA in Kooperation mit der japanischen Regierung im Kongresszentrum von Koriyama /Fukushima-Präfektur – wo noch vor einigen Monaten Strahlenflüchtlinge untergebracht waren – eine internationale Ministerialkonferenz zur Aufarbeitung der Folgen von Fukushima. Die Konferenz gipfelte in der Erklärung, dass die IAEA in Fukushima einForschungszentrum zur Dekontaminierung und zur Analyse von gesundheitlichen Strahlenschäden errichten wolle. Sollte die Verlautbarung Zuversicht und verantwortliches Handeln vermitteln, so ging der Schuss nach hinten los. Die Bevölkerung verstand die Botschaft: Fukushima als Versuchslabor für die internationale Atomindustrie, die Kinder von Fukushima als deren Versuchskaninchen. Seither fragt sich jeder nach den eigentlichen Absichten der IAEA. Mit diesem Vorhaben entlarvt sich die internationale IAEA selbst. Das Beispiel zeigt erneut, mit welchem Gegner wir es zu tun haben.
  • Die neugeschaffene Kommission zur Nuklearen Sicherheit in Japan überarbeitet gegenwärtig die Sicherheitsstandards für Atomkraftwerke in Japan. Sie ist darin sichtlich bemüht, Unabhängigkeit und Entschlossenheit zu demonstrieren, um ihre verloren gegangene Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Teil der Arbeit ist auch, Standards für Evakuierungspläne festzulegen. Und genau hier beginnt die internationale Dimension, denn das, was in Japan beschlossen wird, hat direkten Einfluss auf internationale Standards. Und entsprechend akribisch arbeitet die Atomlobby an der Aufweichung dieser Standards.
  • Die neue japanische Regierung steuert unbeirrt und zielstrebig auf die Wiederherstellung ihrer alten Atompolitik zurück, und beruft sich dabei auch auf internationale Verpflichtungen und sicherheitspolitische Risiken, etwa im Zusammenhang mit der Nicht-Verbreitung von Nukleartechnologie. Offiziell tritt die Regierungspartei zwar für eine Reduzierung der Abhängigkeit von Kernenergie ein, faktisch arbeitet sie mit Hochdruck an dem Wiederhochfahren stillgelegter Reaktoren. Argumentiert wird mit der wirtschaftlichen Notwendigkeit einer kostengünstigen und stabilen Energieversorgung, den steigenden Kosten durch den Import fossiler Brennstoffe, sowie der Sicherung und Fortentwicklung des Know-Hows in der Kerntechnologie. Die neue japanische Regierung hält am nuklearen Kreislauf, d.h. an der Wiederaufbereitung und der Technologie des schnellen Brüters fest. Die Kernenergie gilt als strategisch wichtiger Industrie- und Exportsektor. D.h. es geht um handfeste, wirtschaftliche Interessen. Aber umhüllt wird das Ganze mit dem Verweis auf die strategische Sicherheitspartnerschaft mit den USA. Die Allianzen von Toshiba und Westinghouse, sowie Hitachi und General Electric haben insofern auch Symbolcharakter: Wer die Partnerschaft mit den USA anzweifelt, verrät nationale Interessen und liefert das Land an China und Nordkorea aus.

Die Beispiele zeigen, dass die japanische Atompolitik uns nicht nicht egal sein kann, sondern direkten Einfluss auch auf unsere Belange hat. Wenn Hitachi in Litauen, Finnland oder in der Türkei Atomkraftwerke bauen will, brauchen wir neben dem Druck vor Ort auch einen international koordinierten Widerstand in Japan. Wenn die IAEA in Fukushima besagtes Zentrum errichten will, dann müssen wir nicht nur den Widerstand in Japan stärken, sondern auch am Sitz der IAEA und auf unsere eigene Regierung Druck ausüben.

Fukushima darf nicht in Vergessenheit geraten

Die Erlebnisse in den letzten Wochen und Monaten haben mich ziemlich aufgewühlt und stimmen mich sehr pessimistisch. Am bedrückendsten ist die wachsende, sich verbreitende Gleichgültigkeit der japanischen Bevölkerung gegenüber den Problemen in Fukushima, dem Leiden der Betroffenen und der japanischen Regierungspolitik. Natürlich ist es mehr als menschlich, Fukushima verdrängen und vergessen zu wollen. Man kann es aber auch als kollektives Verdrängen interpretieren. Einer anerkannten Kulturwissenschaftlerin und Japanforscherin verdanke ich den Hinweis auf Japans Schamkultur: Fukushima wird als Scham und Schande empfunden und deshalb verdrängt; die sich vollziehenden, psychisch-sozialen Prozesse des Verdrängens und des Ausgrenzens weisen Parallelen zu Minamata auf. Dort traten in den 50er Jahren zahlreiche, oft tödliche Fälle von Quersilbervergiftungen infolge unkontrollierter Ableitungen chemischer Substanzen in das Meereswasser auf. Jahrzehntelang wurde Minamata vertuscht und verdrängt, die Opfer diskriminiert und ausgegrenzt.

Für mich ist die japanische Bevölkerung nicht nur Opfer der Atomkatastrophe, sie ist auch mitverantwortlich. Und sie steht daher meines Überzeugung nach in der Pflicht gegenüber der menschlichen Gemeinschaft, Fukushima nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sondern sich für den weltweiten Ausstieg aus der Atomkraft zu engagieren.

Ich bitte Euch daher, keine falsche Höflichkeit walten zu lassen, sondern die japanische Bevölkerung aufzufordern, ihrer Verantwortung für die Atomkatastrophe gerecht zu werden – Fukushima verpflichtet jeden japanischen Bürger.

Aber lasst mich auch berichten, von der Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Solidarität vieler Menschen in Japan, die sich in zahlreichen Bürgerinitiativen engagieren, die nicht aufgeben und mit unermüdlichen Anstrengungen, Geduld und zahniger Hartnäckigkeit, in akribischer, konkreter Detailarbeit das Los der Betroffenen lindern helfen, die Regierungsarbeit und Bürokratie beeinflussen und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Ungeachtet der wachsenden Gleichgültigkeit und dem Wunsch nach Vergessen, es gibt sie noch und durchaus in großer Zahl, die Menschen, die nicht Vergessenwollen, die ihrem Unmut Luft machen und ihr demokratisches Recht auf Meinungsäußerung nutzen. Seit über einem Jahr demonstrieren weiterhin Tausende von Japanern und Japanerinnen in Tokyo jeden Freitag vor dem Sitz des japanischen Premiers und im japanischen Regierungsviertel. Auch in Osaka, Kyoto und anderen Orten versammeln sich Freitags die Menschen zum Protest.

Zum Jahrestag wird es auch wieder Großkundgebungen und Protestmärsche geben, werden sich Zehntausende in Tokyo und anderswo in der Forderung nach Hilfen für die Betroffenen und im gemeinsamen Widerstand gegen die Atomenergie versammeln.

Ihnen allen gebührt tiefster Respekt und unsere ganze Solidarität.

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