Großbritannien: Mit Whiskey gegen das Atommüllfiasko

09.11.2015 | Jan Becker

„Whiskey soll atomar verseuchten Boden reinigen“ titelt „Die Welt“ und suggeriert damit eine Lösung für das Atommüllproblem am schottischen Atomstandort Dounreay. Doch der Schein trügt gewaltig. Der Umgang mit radioaktivem Abfall in Großbritannien ist katastrophal und perspektivlos.

1977 ereignete sich auf dem Gelände der ehemaligen Wiederaufarbeitungsanlage Dounreay im Norden Schottlands ein schwerer Unfall: In einer unterirdischen Deponie kam es zu einer gewaltigen Explosion – man hatte mehrere Kilogramm Natrium und Kalium dort herabgelassen, wo auch Brennelemente aus den 1960er Jahren lagerten. Aus Gründen der Strahlenabschirmung war der Schacht zudem mit Meerwasser geflutet. Die etwa sieben Tonnen schwere Betonabdeckung über der Deponie sowie eine Stahlplatte mit einem Durchmesser von anderthalb Metern sollen mehrere Meter weg geschleudert worden sein. Radioaktives Inventar fand sich noch in einem Umfeld von 75 Metern, u.a. am etwa 40 Meter entfernten Strand.

Bis 1983 wurden immer wieder „millimetergroße radioaktive Partikel“ gefunden, auch an einem vielbesuchten Strand. Fast 20 Jahre mussten vergehen, bis die Informationen über den Unfall schließlich an die Öffentlichkeit kamen. Das Küstenvorland von Dounreay ist seitdem abgesperrt. In mehreren Studien wurde eine erhöhte Anzahl von Leukämieerkrankungen bei Kindern in der Umgebung von Dounreay belegt. 2011 räumte die Umweltbehörde „Scottish Environment Protection Agency“ (Sepa) ein, dass die Umweltschäden durch den Unfall, den Betrieb der Anlagen und weitere radioaktive Freisetzungen nie komplett beseitigt werden könnten.

Zwischen 1992 und 1996 wurde in Dounreay auch Atommüll aus deutschen Reaktoren verarbeitet

Forscher des Environmental Research Institute (ERI) wollen nun mithilfe von Abfällen aus der Herstellung von Whiskey radioaktive Partikel, konkret Strontium-90, aus dem Boden lösen bzw. aus Flüssigkeiten binden. Strontium-90 ist vor allem im Zusammenhang mit Atombombentests zu brisanter Berühmtheit gelangt weil unser Körper es wegen seiner Ähnlichkeit zu Calcium in die Knochen einlagert. Der Nachweis in menschlichen Zähnen und der Zusammenhang mit Knochenkrebs brachten letztlich auch die Einstellung der Atombombentests. In den Deponieschächten von Dounreay soll das Metall, das eine Halbwertzeit von 28 Jahren besitzt, „nach wie vor in großen Mengen vorhanden“ sein. Eine Reihe von Fragen dieser „Biosorption“ sei zwar noch ungeklärt, die bisherigen Ergebnisse seien aber „vielversprechend“, berichten die Forscher. Experimentiert werde auch mit Seegras, Krabbenschalen oder Kaffeesatz.

Die Berichte lassen den Schluss zu, dass damit das Problem der radioaktiven Verseuchung gelöst werde, denn der Boden wäre im Anschluss „wieder nutzbar“. Doch durch die „Biosorption“, die erfolgreich in der Abwässerreinigung Anwendung findet, werden die radioaktiven Schwermetalle lediglich gebunden, nicht aber „entsorgt“.

Katastrophaler Umgang mit Atommüll

Wie überall auf der Welt fehlt auch in England eine Lösung für das Atommüllproblem. Der Umgang mit den Abfällen ist katastrophal. Es gibt einige Deponien für schwach- und mittelaktive Abfälle, wo Fässer oberflächennah verbuddelt wurden.

In Drigg etwa, das sich Nahe der Atommüllfabrik Sellafield befindet, lagern eine Million Kubikmeter schwach radioaktiver Abfall unmittelbar an der Küste. Das Lager ist in Betrieb und soll nach Willen der Betreiber weitere 800.000 Kubikmeter aufnehmen. Die Erosion durch den Klimawandel, der schwere Stürme und einen steigendem Meeresspiegel mit sich bringt, „werde den Müll in die Irische See spülen“, hiess es 2014 in einem Bericht der britische Umweltbehörde. Allerdings erst „in einigen hundert oder einigen tausend Jahren“. UmweltschützerInnen warnen dagegen, dass bereits seit 2010 „mehr als 1.200 radioaktive Teile an den Stränden der Grafschaft Cumbria“ gefunden wurden.

Am Standort Dounreay befindet sich auch ein Atommülllager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle. Wegen Sicherheitsbedenken wurde es aber geschlossen und soll wieder geleert werden. Wegen der geringen Sicherheitsvorkehrungen in Großbritannien werden zudem 13.000.000 Kubikmeter kontaminierter Boden an Atomanlagenstandorten erwartet.

Standortauswahlverfahren gescheitert

Heute betreibt Großbritannien noch 19 Atomkraftwerke, neun sind bereits stillgelegt. Vor allem aus deren Betrieb stammen fast 6.000 Tonnen Schwermetall (tSM) strahlende Brennelemente und fast 2.000 Kubikmeter hochradioaktiver Abfall. Die ausgedienten Brennelemente werden in Großbritannien derzeit entweder in Sellafield wiederaufgearbeitet oder zwischengelagert, alternativ bleibt der Müll in speziellen Behältern an den Atomkraftwerken. Geplant ist eine „Entsorgung“ in tiefen geologischen Formationen.

Zur Auswahl eines Standorts setzte die Regierung auf „das Prinzip der Freiwilligkeit“. Kommunen wurden aufgerufen, sich für ein Atommülllager zur Verfügung zu stellen, im Gegenzug wurden Fördergelder versprochen. Im Januar 2013 stand die Gemeinden Copeland und Allerdale im Landkreis Cumbria zur Wahl – dort befindet sich der große Nuklearkomplex Sellafield. Die Gemeinden wollten den Müll, der Landkreis nicht. Und so steht Großbritannien wieder am Anfang und „das Prinzip der Freiwilligkeit“ war gescheitert.

In einem neuen Standortauswahlverfahren werden derzeit England, Wales und Nordirland im Hinblick auf die geologischen Gegebenheiten untersucht. Suchkriterien wie Gesteinsformen sind nicht festgelegt, kommendes Jahr soll eine erste Liste mit möglichen Standorten veröffentlicht werden. Geplant ist eine Gesetzesänderung, durch die das Mitspracherecht der betroffenen Gemeinden wegfällt. Die Inbetriebnahme eines Atommülllager wird nicht vor 2075 erwartet.

Whiskey wird also möglicherweise seinen Beitrag zur „Schadensbegrenzung“ des britischen Atommmüllfiaskos leisten, das Problem aber sicher nicht lösen.

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Quellen (Auszug): 20min.ch, welt.de, radioaktive-strahlung.org, taz.de, endlagerung.de, nuclear-waste.eu; 22.4.2014; 4.11.2015

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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