Von der Realität überholt

14.05.2020 | Anna Stender

Corona stoppt den ersten von vier Castor-Transporten aus Sellafield und La Hague in deutsche Zwischenlager, noch bevor er losfährt. Vom Tisch sind die Atommüll-Fuhren damit aber nicht. Auch wenn das Konzept für die Zwischenlagerung hochradioaktiver Abfälle längst nicht mehr den Anforderungen entspricht – und ein neues nicht in Sicht ist.

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Foto: PubliXviewinG

In der ersten Aprilwoche sollte er rollen, der erste Castor-Zug seit vielen Jahren. Tausende Polizist*innen waren eingeplant, das Schiff aus England schon bestellt, über dem Hafen Nordenham an der Unterweser ein Flugverbot erlassen. Die sechs Behälter mit hochradioaktiven Abfällen aus der Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield sollten dort vom Schiff auf die Schiene wechseln, um nach einer Fahrt quer durch die Republik schließlich im Zwischenlager Biblis abgestellt zu werden. Die Corona-Pandemie machte dem einen Strich durch die Rechnung. Um die Polizeikräfte vor Ansteckung zu schützen, blies Innenminister Seehofer den Transport Mitte März erst einmal ab.

Vom Tisch sind die Pläne damit allerdings nicht, weder für diesen noch für die geplanten drei weiteren Transporte nach Brokdorf, Ohu und Philippsburg. Auch wenn ein neuer Termin noch nicht abzusehen ist: An der prekären Situation der Zwischenlagerung in Deutschland wird sich bis dahin kaum etwas ändern.

Experte kritisiert unzureichendes Sicherheitsniveau

In einem offenen Brief kritisierte Atommüll-Experte Wolfgang Neumann die im Dezember vom Atommüll-Bundesamt (BASE) erteilte Aufbewahrungsgenehmigung zur Zwischenlagerung von deutschen Abfällen aus Sellafield. Die Behörde habe das bereits unzureichende Sicherheitsniveau der Zwischenlagerung hochradioaktiver Abfälle darin nochmals unterboten. Die im Atomgesetz vorgeschriebene Schadensvorsorge sei damit nicht gewährleistet.

Neumanns zentraler Kritikpunkt ist die in seinen Augen mangelhafte Vorsorge für den Fall, dass der innere Deckel eines Castors versagt. Zum Hintergrund: Die bestrahlten Brennelemente aus den AKW sowie die in Glaskokillen eingegossenen hochradioaktiven Wiederaufarbeitungsabfälle – die jetzt zurückkommen sollen – werden in Castor-Behältern mit einem Doppeldeckel-System gelagert. Sensoren messen den Druck zwischen den Deckeln und überwachen so die Dichtheit der Verschlüsse. Wird der innere Deckel defekt, kann als Notlösung ein zusätzlicher „Fügedeckel“ aufgeschweißt werden. Der Weitertransport eines Castor-Behälters vom Typ HAW für verglaste Abfälle aber – etwa in ein tiefengeologisches Lager – ist nur mit intaktem Deckelsystem erlaubt. Dafür müsste der defekte Deckel zuvor in einer Wechselstation ausgetauscht werden.

Die aktuelle Genehmigung für die Aufbewahrung in Biblis sieht den Fügedeckel zunächst als einzige Option vor, die Dichtheit der Behälter bei einem Defekt sicherzustellen – obwohl es nach Neumanns Einschätzung Jahre dauern kann, bis er tatsächlich aufgebracht wäre. Während dieser Zeit könnte man nicht überwachen, ob die Behälter dicht sind.

Ein Konzept für eine Deckel-Wechselstation muss der Betreiber gar erst nach zehn Jahren vorlegen. Und ob dieses Konzept auch funktioniert, muss er sogar erst zum Ende der Zwischenlager-Genehmigungsdauer nachweisen. Bis eine Wechselstation tatsächlich verfügbar wäre, könnten also Jahrzehnte vergehen.

Jahrhundertlager ohne Konzept

Neumann nennt in seinem Brief noch etliche weitere Kritikpunkte. Darüber hinaus stellen sich aber auch grundsätzliche Fragen zum Konzept der Zwischenlagerung in Deutschland: Ursprünglich sollten die in Castor-Behältern in den Zwischenlagern abgestellten hochradioaktiven Abfälle innerhalb weniger Jahrzehnte in ein tiefengeologisches Lager verbracht werden. Daher beziehen sich alle Sicherheitsnachweise für Zwischenlager und Behälter auf einen Zeitraum von nur 40 Jahren. Die Genehmigungen der bestehenden 16 Lager laufen daher zwischen 2034 und 2047 aus. Selbst nach offiziellem Zeitplan soll die tiefengeologische Lagerung aber erst im Jahr 2050 starten. Tatsächlich wird die zeitliche Lücke noch deutlich größer werden, denn nach Einschätzung von Fachleuten ist diese Planung völlig unrealistisch. Stattdessen wird es bis zu 100 Jahre dauern, bis die Einlagerung überhaupt beginnen kann. Leer wären die Zwischenlager erst nochmals einige Jahrzehnte später. Aus der Zwischenlagerung für maximal 40 Jahre ist also eine Langzeitlagerung für voraussichtlich mehr als 100 Jahre geworden – ohne schlüssiges Konzept und ohne dass Behälter oder Lager dafür gemacht sind.

Eine längere Zwischenlagerung bedeutet höhere Anforderungen an die Castor-Behälter, die auch am Ende der Zwischenlagerzeit noch entladbar und transportfähig sein müssen. Das ist keineswegs selbstverständlich: Radioaktive Strahlung und hohe Temperaturen lassen Behälter, Dichtungen und die Stützgerüste für den Atommüll altern, so dass sie mit der Zeit spröde und instabil werden können. Chemische Reaktionen können das Material zusätzlich angreifen. Expert*innen befürchten Probleme insbesondere bei den Dichtungen und den Öffnungen im Deckel sowie den Einbauten. Besonders alarmierend ist das, weil die Castoren die eigentliche Barriere gegen den Austritt radioaktiver Substanzen sind.

Die Zwischenlager-Hallen dagegen dienen bisher vor allem dem Schutz der Atommüll-Behälter vor Witterung sowie gegen den Zugriff von Unbefugten. Wird einer der Behälter undicht, gelangen radioaktive Gase und Partikel mit dem Luftstrom durch die Kühlungs-Öffnungen der Hallen ungehindert ins Freie.

Genehmigungsloser Zustand

In einigen Fällen haben die Sicherheitsdefizite bereits zu einem auch offiziell genehmigungslosen Zustand geführt: Die Zwischenlager in Jülich und Brunsbüttel haben schon seit Jahren keine Betriebsgenehmigung mehr. Wegen fehlender Alternativen blieb der Müll trotzdem dort – geduldet oder gar auf ministerielle Anordnung. In Brunsbüttel kassierte 2015 ein Gericht die Genehmigung des dortigen Zwischenlagers – Betreiber und Behörden konnten den gesetzlich geforderten Schutz des Atommülls gegen Flugzeugabstürze und Beschuss mit panzerbrechenden Waffen nicht belegen. Trotzdem wurden auch danach noch weitere Castor-Behälter in der Halle eingelagert. Anfang 2020 verlängerte das schleswig-holsteinische Umweltministerium die Anordnung zum Weiterbetrieb des genehmigungslosen Zwischenlagers sogar unbefristet. Die notwendigen Sicherheitsnachweise für eine neue Genehmigung liegen bis heute nicht vor.

Dass die anderen Zwischenlager eine formal gültige Genehmigung haben, bedeutet indes nicht, dass sie sicher sind. Nach dem Brunsbüttel-Urteil gehören alle Zwischenlager auf den Prüfstand, denn von ihrer Bauart her ist die Castor-Halle dort sogar eine der stabilsten in Deutschland. Stattdessen produzieren sechs AKW jeden Tag neuen Atommüll, und hochradioaktive Abfälle werden von einem Lager zum nächsten verschoben, ohne dass deren Sicherheitsmängel und die zu erwartende deutlich längere Lagerdauer thematisiert würden.

Nötig wäre an allen 16 Standorten ein deutlich robusterer Neubau mit einem Zwei-Barrieren-System, bei dem Behälter und Gebäude jeweils unabhängig voneinander Schutz gegen den Austritt radioaktiver Stoffe gewährleisten. Berücksichtigen müsste man dabei unter anderem Abstürze großer Passagierflugzeuge sowie den Beschuss mit panzerbrechenden Waffen. Zusätzliche Behälter, die die Gefahr noch vergrößern, dürften nicht angeliefert werden. Schon wegen des Transportrisikos gilt das auch für die seit vielen Jahren in den Wiederaufarbeitungsanlagen Sellafield und La Hague lagernden Abfälle: Diese sollten – Corona hin, Corona her – erst dann nach Deutschland kommen, wenn sie hier nicht noch ein weiteres Mal transportiert werden müssen, wenn also der Standort für ein tiefengeologisches Lager feststeht. Vor allem aber sollte kein weiterer strahlender Müll produziert werden.

Dieser Artikel erschien zuerst im .ausgestrahlt-Magazin Ausg. 47 (Mai/Juni/Juli 2020)
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Anna Stender

Anna Stender kommt aus Münster und hat bereits in den Neunzigerjahren gegen Castortransporte nach Ahaus und Gorleben demonstriert. Sie ist studierte Fachübersetzerin und hat sich nach Stationen in Berlin, Köln, Bangalore, Newcastle-upon-Tyne und Jülich entschieden, in Hamburg zu bleiben. Seit 2020 ist sie als Redakteurin bei .ausgestrahlt, wo sie vor allem für den Print-Bereich schreibt.

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