Havarie? Wirbel um Atomunfall in der Ukraine

04.12.2014 | Jan Becker

Es sind die Erinnerungen an Tschernobyl, die gestern den großen Wirbel um einen vergleichsweise kleinen Störfall in Europas größtem Atomkraftwerk verursacht haben. Gegen Mittag sprach der ukrainische Regierungschef Arseni Jazenjuk von einer „Havarie“ im AKW Saporoschje, die sich später „nur“ als technischer Defekt und Notabschaltung entpuppte.

Um 11.45 Uhr meldete die Nachrichtenagentur Reuters, dass sich nach Angaben von Ministerpräsident Arseni Jazeniuk während der ersten Sitzung des neuen Kabinetts in Kiew eine „Havarie“ im Südosten der Ukraine ereignet habe. Er habe den neuen Energieminister Wladimir Demtschischin angewiesen, eine Pressekonferenz einzuberufen.

Nach den ersten Meldungen war das Wort „GAU“ zum Greifen nah, doch die Nachrichtenlage noch sehr dünn. Der ukrainische Energieminister gab dann Entwarnung: Es habe sich ein Kurzschluss im konventionellen Bereich des Reaktorblocks 3 ereignet. Schon am Freitag sei der Meiler notabgeschaltet worden, alle Sicherheitssysteme hätten funktioniert, Radioaktivität sei nicht ausgetreten. Akw-Betreiber Energoatom habe bereits am vergangenen Samstag „umfassend informiert“. Bis Freitag solle das Kraftwerk wieder seine volle Leistung bringen, kündigte Demtschyschyn an.

Sein Verhalten sorgte dann allerdings für Misstrauen: Er beendete die Pressekonferenz abrupt, als Journalisten weitere Fragen stellen wollten, und erklärte, alle Fragen würden „in den nächsten Tagen beantwortet werden“. Dann verliess er den Saal.

  • Die Tragweite der Notabschaltung sei aber tatsächlich groß, das Land stehe vor dem „Blackout“: Seit Montag wurde bei Fabriken bereits über Stunden der Strom abgeschaltet, bald könnte es auch Privathaushalte treffen, berichtet „Die Welt“. Einige Unternehmen sollen vorerst nur noch nachts produzieren. Neben Block 3 befindet sich ein weiterer Saporoschje-Meiler in Reparatur, zusätzlich hat das umkämpfte Land massive Probleme beim Nachschub für seine Kohlekraftwerke.

Die Beschwichtigungen des Energieministers kamen gestern mittag zu spät – die Meldung von einem „Atomunfall“ war in der Welt. Bis zum späten Nachmittag wurden u.a. Messstationen von Wetterdiensten bemüht, jedoch wurde keine erhöhte Radioaktivität festgestellt. Das Bundesumweltministerium sprach nach 13.00 Uhr von einem „Missverständnis“: Zwar habe es „im nichtnuklearen Teil des Atomkraftwerks Saporischschja einen Brand gegeben“, aber einen „Atomunfall habe es nicht gegeben“. Trotzdem setzten Medien wie „N24“ den Störfall unter dem Titel „Diese Reaktor-Unfälle bewegten die Welt“ sogleich in eine Parallele zu Fukushima und Tschernobyl.

„Auch wenn im Moment unklar bleibt, ob der nukleare Teil der Anlage betroffen ist, gehen wir nicht von einer Eskalation des Störfalls aus“, sagte Heinz Smital, Greenpeace-Experte für Atomenergie am Nachmittag. „Doch in einer instabilen politischen Situation wie in der Ukraine können Atomkraftwerke zu einer brandgefährlichen tickenden Zeitbombe werden.“

Ein Kurzschluss und ein Brand seien „immer eine heikle Sache“, sagte Smital im Interview mit „Deutschlandfunk“. Das Kraftwerk brauche auch nach einer Abschaltung noch Strom und Kühlung. Ob der Defekt Einfluss auf den nuklearen Teil des Kraftwerks habe, könnten erst genauere Untersuchungen zeigen.

Die sechs großen Meiler von Saporoschje befinden sich unweit der von Regierung und Separatisten umkämpften Gebiete. Vor Wochen schon hatten AtomkraftgegnerInnen vor möglichen Gefahren für die AKW gewarnt. Sie seien nicht sicher gegen den Absturz von Flugzeugen oder etwa Beschuss mit panzerbrechender Munition.

Die Aufregung auf die Meldung einer „Havarie“ in der Ukraine fusst auf der Katastrophe von Tschernobyl. 1986 war der vierte Block explodiert, es gab Tausende Tote. Die damals russische Regierung informierte die Bevölkerung zu spät, bis heute kämpft das Land mit den Folgen. Große Flächen Weißrusslands und Regionen in der Ukraine und in Russland sind verseucht. Trotzdem betreibt die Ukraine bis heute 15 Reaktoren, die mehr als 40 Prozent der Stromversorgung absichern. Das jüngste AKW ging erst vor 10 Jahren in Betrieb, andere sind schon älter als 30 Jahre.

„Noch einmal Glück gehabt“, meint Julia Schumacher von .ausgestrahlt. Aber die Aufregung zeige: Eigentlich wissen alle, dass es jederzeit wieder passieren kann. „Und deswegen sollten wir weiter gemeinsam dafür kämpfen, dass alle Atomkraftwerke vor dem nächsten Super-Gau abgeschaltet werden.“

„Nur durch den Ausstieg aus der unsicheren Atomkraft können die Regierungen die Sicherheit der Menschen gewährleisten, für die sie verantwortlich sind“, fasst auch Heinz Smital zusammen.

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Quellen (Auszug): greenpeace.de, dpa, focus.de, welt.de, tagesspiegel.de, deutschlandfunk.de; 03./04.12.2014

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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