Katastrophenschutzpläne in der Schweiz: Bern müsste evakuiert werden

09.07.2015 | Jan Becker

Vor drei Tagen ist es zu einer Reaktorschnellabschaltung im Schweizer Atomkraftwerk Mühleberg gekommen. Neue Bundesvorgaben fordern jetzt als Konsequenz aus den Havarien von Fukushima, dass bei einem Super-GAU die Evakuierung von Großstädten, wie Bern, sichergestellt werden muss. Zumindest theoretisch. Denn möglicherweise werden diese – in ihrer Wirkung umstrittenen – Anpassungen ohnehin nie umgesetzt.

In seiner letzten Sitzung vor den Sommerferien verabschiedete der Bundesrat am 1. Juli ein neues „Notfallschutzkonzept bei einem KKW-Unfall in der Schweiz“. Wesentlich neu ist dabei, dass auch die Evakuierung der Bevölkerung in der sogenannten „Zone 2“, ein Radius von 20 Kilometern um ein AKW, von den Behörden vorbereitet werden soll. Bisher war diese Maßnahme nur in einem 5km-Radius in der erwarteten radioaktiven Abluftfahne eines havarierten Meiler geplant.

Erstmals nimmt die Schweiz damit die reale Möglichkeit eines Super-GAU in ihre Notfallplanung auf. Durch diese neue Verordnung fallen zum Beispiel für das Atomkraftwerk Mühleberg die Großstadt Bern und Umland mit knapp 400.000 Einwohnern bei Westwind in das Raster. Bei Nordwind wäre u.a. die deutsche Stadt Freiburg im Breisgau mit 120.000 Einwohnern betroffen.

  • Das AKW Mühleberg ist seit 1972 am Netz und damit das drittälteste AKW in der Schweiz. Die Anlage Beznau I wurde schon 1969 in Betrieb genommen und ist derzeit der älteste Reaktor der Welt!

Praktisch sieht die Schweiz vor, wesentlich auf die Autonomie der Bevölkerung zu setzen. Sie solle das bedrohte Gebiet nach der Aufforderung zur Evakuierung „selbstständig im Öffentlichen Nahverkehr oder im Auto“ verlassen. Als „Herausforderungen“ bezeichnen die Behörden das Sicherstellen der Bus- und Bahnverbinungen, Verkehrslenkung gegen Staus und die Räumung von Spitälern und Gefängnissen. Genau dort sind Theorie und Praxis nicht miteinander vereinbar, kritisieren AtomkraftgegnerInnen. Denn die Folgen eines GAU wären nicht wie dafür notwendig Ordnung, sondern vermutlich eher eine Massenpanik bzw. -flucht.

Derzeit haben die Vorgaben aber noch keine rechtliche Verbindlichkeit. Sie sollen dem Bundesrat erst Ende 2016 vorgelegt werden. Erst danach wollen einzelne Kantone aktiv werden und die Forderungen praktisch umsetzen. Oder auch nicht: Nach Auskunft des Amtes für Bevölkerungsschutz, Sport und Militär (BSM) werde nach der rechtlichen Verankerung „zu prüfen sein, ob diese Planung in der Zone 2 des KKW Mühleberg mit Blick auf den Abschalttermin 2019 noch realisiert werden kann“.

Doch auch wenn die Umsetzung dieser umfangreichen Präventiv-Massnahmen fraglich ist, ganz zu schweigen von deren realistischer Anwendung, kritisieren AtomkraftgegnerInnen schon deren Zustandekommen. Der angenommene Unfall sei „in verschiedenen Punkten nach wie vor schwächer als jener von Fukushima“, moniert etwa Greenpeace.

Atomaufsichtsbehörden der europäischen Länder haben versagt

Aus der Fukushima-Katastrophe sind offenbar keine ausreichenden Lehren gezogen worden. Laut einer Greenpeace-Studie, die Ende Juni veröffentlicht wurde, haben „die Atomaufsichtsbehörden der europäischen Länder versagt“. Es sei zwar für jedes AKW in Europa der sogenannte „Stresstest“ erfolgt, doch dieser sei „weder streng, noch hätte er zu handfesten Vorkehrungen gegen die Risiken eines Atomunfalls geführt”.

In den Schweizer Atomkraftwerken sei nach den Tests, die in allen untersuchten Anlagen Mängel ergeben hatten, „nicht viel passiert“, so Greenpeace. Gefestigte Grundlagen zum Erdbeben-Risiko der insgesamt fünf Kraftwerke und eine realistische Folgenabschätzung von Extrem-Hochwasser würden weiterhin fehlen. Konkrete Nachrüstungsmaßnahmen gegen Wasserstoff-Explosionen, Verbesserungen der Brennelementbecken-Kühlung oder eine zusätzliche, erdbebenfeste Kühlwasserquelle für Mühleberg seien nicht umgesetzt oder würden ignoriert. Das Altern der Anlagen, Schutz gegen Flugzeugabstürze oder Sabotage wurden in der Untersuchung gar nicht betrachtet.

„Der Stresstest wurde am Schreibtisch gemacht. So konnte es beispielsweise passieren, dass Löcher in der Schutzhülle des AKW Leibstadt sechs Jahre lang unbemerkt blieben“, resümmiert Greenpeace. Damit werde „nicht nur ein gefährliches Spiel mit der Sicherheit der Bevölkerung getrieben; ohne Abschaltdatum wirken die AKW auch als gigantische Bremsklötze für die Energiewende.”

In der Schweiz gibt es zwar mehrheitlichen den Willen, die Atomkraftwerke stillzulegen. Doch einen konkreten Zeitplan wie in Deutschland gibt es nicht. Dieser wäre allerdings mehr wert als ein hypothetischer Evakuierungsplan, der allein dazu dienen kann, die Bevölkerung in Sicherheit zu wiegen.

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Quellen (Auszug): derbund.ch, greenpeace.ch, nzz.ch; 29.6.,6./7.7.

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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