Schon wieder erhöhte Radioaktivität gemessen

29.06.2020 | Jan Becker

Nach dem Super-GAU von Tschernobyl waren es 1986 zuerst skandinavische Messstationen, die auf erhöhte Radioaktivität aufmerksam machten. Nun wurden dort wieder eine leicht erhöhte Strahlung gemessen, deren Ursprung Russland sein könnte.

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Foto: twitter.com/SinaZerbo
Ausbreitung der radioaktiven Wolke im Juni 2020

Es sind zwar völlig andere Dimensionen als damals, als der Reaktor von Tschernobyl explodierte und sein radioaktives Inventar in die Atmosphäre schleuderte. Eine nukleare Wolke verbreitete sich über die ganze Welt und hierließ Spuren, die sich bis heute in Waldpilzen oder Wildschweinen nachweisen lassen.

Zuletzt sorgte auch eine Ruthenium-Wolke im Oktober 2017 für Aufsehen. Zwar beschwichtigten alle Behörden, dass es „keine Gefahr“ für die Menschen gäbe. Bemerkenswert ist allerdings, dass die künstliche Radioaktivität mit großer Wahrscheinlichkeit das Ergebnis eines Unfalls in einer Atomanlage war. Experten konnten nachweisen, dass die russische Atomfabrik Majak im Südural Herkunft der Wolke sein muss und konstruierten aus den gemessenen Nukliden sogar ein mögliches aber sehr riskantes Experiment, bei dem offenbar etwas schief gegangen war. Doch weder der russische Staatskonzern als Betreiber der Anlage noch irgendwer anders auf der Welt haben bis heute die Verantwortung für die radioaktive Freisetzung übernommen, im Gegenteil wird ein Unfall dementiert.

Erneute radioaktive Wolke gemessen

In der ersten Junihälfte wurde nun erneut in Teilen von Schweden, Finnland und Norwegen eine „radioaktive Wolke“ festgestellt. Eine Messstation in Schweden habe Cäsium-137, Cäsium-134 und Ruthenium-103 gemessen, berichtete kürzlich der Generalsekretär der Organisation des Vertrages über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (CTBTO), Lassina Zerbo. Das mutmaßliche Herkunftsgebiet erstreckt sich laut CTBTO über das südliche Drittel Schwedens, die Südhälfte Finnlands, Estland, Lettland sowie den Nordwesten Russlands. Die registrierten Isotope stammten „sehr wahrscheinlich von einer zivilen Quelle“ - also einem Atomkraftwerk oder einer Forschungsanlage.

Laut des Instituts für Gesundheit und Umwelt der Niederlande sei wenige Tage vorher in Norwegen und auf Spitzbergen Jod-131 nachgewiesen worden. Alle gemessenen Radionuklide sind „künstlich hergestellt worden“, die Zusammensetzung könne auf eine Beschädigung eines Brennelements in einem Atomkraftwerk hinweisen. Berechnungen des niederländischen Instituts sehen die Herkunft aus „Richtung Westrussland“.

Russischer Uralt-Meiler als Ursache?

In den beschriebenen Gebieten befinden sich einige Atomkraftwerke, so die russischen AKW Leningrad und Kola. In Leningrad etwa laufen noch drei besonders riskante Meiler vom Tschernobyl-Typen. In Kola befinden sich vier WWER-440-Reaktoren in Betrieb, die eine Reihe von brisanten Sicherheitsdefiziten aufweisen. In Deutschland war dieser Typ in Greifswald gebaut worden, musste nach der Wiedervereinigung aber wegen seines hohen Risikos abgeschaltet werden. Die Kola-Blöcke 1 und 2 haben mittlerweile das Alter von 40 Jahren überschritten und sollen wegen einer Laufzeitverlängerung noch mehr als 10 Jahre in Betrieb bleiben. Der russische Atomkonzern Rosenergoatom erklärt, dass an beiden Standorten „keine Fehler festgestellt“ wurden, die als Ursache für eine erhöhte, radioaktive Freisetzung in Frage kämen.

Auch möglich ist, dass es in einem schwedischen oder finnischen Atomkraftwerk einen Störfall gab. Doch beide Länder haben keine Meldungen dazu veröffentlicht. Laut schwedischer Atomaufsicht ist es „derzeit nicht möglich, den Ursprung der Messwerte zu bestimmen“. Die Internationale Atomenergiebehörde hat sich eingeschaltet und von allen betroffenen Ländern einen Bericht gefordert.

Alle Organisationen und Institute, die zu dieser neuen „radioaktiven Wolke“ Stellung genommen haben, betonen, dass es „keine Gefährdung für die Menschen“ gibt.

Wieder übernimmt niemand die Verantwortung

Festzuhalten bleibt, dass es offenbar erneut (und nach der Ruthenium-Wolke 2017 ja relativ kurzfristig nacheinander) eine Freisetzung aus einer Atomanlage gegeben hat, für die niemand die Verantwortung übernimmt. Das war nach dem GAU von Tschernobyl auch so, bis die damalige Sowjetunion die dramatischen Ausmaße nicht mehr leugnen konnte. Bis heute ist die ganze Wahrheit allerdings nicht bekannt, weil viele Unterlagen „geheim“ sind.

Andererseits betonen kritische Strahlenexperten immer wieder, dass es keinen Schwellenwert (bzw. Grenzwert) für radioaktive Strahlung gibt, bei dem man von „ungefährlich“ reden kann. Zwei Aspekte also, die untermauern, dass der Betrieb von Atomanlagen immer auch Unfall- und Gesundheitsrisiko, Geheimhaltung und Vertuschung bedeutet.

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Quellen (Auszug): fr-online.de, taz.de, wikipedia.org, scienceblogs.de, nzz.ch, n-tv.de

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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