Atomares Pulverfass

24.08.2022 | Anna Stender
AKW Saporischschja
Foto: wikipedia

Die Welt blickt mit Sorge auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja, das seit Wochen immer wieder unter Beschuss steht. Von einer „Grabesstunde“ sprach Rafael Grossi, Chef der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), in einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates. Die dramatische Situation zeigt, dass Atomkraft in instabilen Zeiten noch gefährlicher ist als sowieso schon.

Schauplatz von Kämpfen war das Atomkraftwerk Saporischschja in der Stadt Enerhodar im Südosten der Ukraine bereits Anfang März. Es war das erste Mal in der Geschichte der Atomkraft, dass Waffen an einem Atomkraftwerk zum Einsatz kamen. Das Gelände wurde beschossen und von russischen Truppen eingenommen. Erste Berichte, nach denen ein Reaktor getroffen wurde, bestätigten sich glücklicherweise nicht, doch ein Schulungsgebäude brannte ab. Obwohl von einer Rückkehr zum Normalzustand danach keine Rede sein konnte, verschwand das größte AKW Europas zunächst aus den Schlagzeilen. Das lag wohl auch daran, dass die Lage vor Ort so schwer einzuschätzen ist. Kontrolleur*innen der IAEA haben keinen Zugang mehr, die Fernüberwachung funktioniert nur eingeschränkt und Moskau und Kiew machen widersprüchliche Angaben, mit denen sie eigene Ziele verfolgen und die sich nicht unabhängig überprüfen lassen. Sicher scheint, dass die Besatzer*innen nicht untätig blieben: Seit März sollen etwa 500 Soldat*innen das Gelände in eine Art Festung verwandelt haben. Waffen und Munition – wie Granatwerfer, Panzer- und Flugabwehrraketen – sollen auf dem Gelände lagern, möglicherweise sogar in Maschinenräumen. Das ukrainische Personal arbeitet unter russischer Aufsicht weiter. Im Juli berichtete der Bürgermeister der Stadt Enerhodar jedoch von Gewalt gegen Mitarbeiter*innen, von denen inzwischen viele geflohen seien. Ein Mitarbeiter sei sogar getötet worden, weil er sich Anordnungen widersetzt habe.

Unter Beschuss

Die Lage am AKW ist also schon seit Monaten kritisch. Doch seit Anfang August hat sich die Situation noch einmal zugespitzt. Das Kraftwerk liegt direkt am Fluss Dnjepr, der die russisch besetzten Gebiete von denen trennt, die weiter von der Ukraine gehalten werden. Zuletzt wird in der Region vermehrt gekämpft, teilweise in der Nähe des AKW. Auch das AKW selbst und das Kraftwerksgelände sollen getroffen worden sein. Nach einem Beschuss am 5. August wurde ein Reaktor offenbar heruntergefahren, so dass nach aktuellen Informationen noch zwei der insgesamt sechs Reaktoren in Betrieb sind. Auch am 7. August soll eine Rakete auf dem Gelände eingeschlagen sein. Ein Mitarbeiter soll verletzt worden sein. Der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom meldete, Anlagen des Kraftwerks seien durch Beschuss beschädigt worden. Nach russischen Angaben wurden weder die Reaktoren selbst noch kritische Infrastruktur getroffen. Satellitenbilder zeigen mehrere Einschläge auf dem Gelände, einer davon nahe dem Trockenlager für abgebrannte Brennstoffe. Laut Berichten in den sozialen Medien verließen Autokonvois die ebenfalls beschossene Stadt Enerhodar. Berichten zufolge wird das AKW seitdem immer wieder von Raketen und Granaten getroffen. Die Angst vor einem Super-GAU ist groß. Bisher ist nicht gesichert, von welcher Seite die Angriffe ausgehen. Die ukrainische und die russische Seite machen sich gegenseitig verantwortlich.

Hoffnungsschimmer

Was immerhin klar ist: Bei einem schweren Unfall im AKW Saporischschja wären jedenfalls bei den dort normalerweise herrschenden Windverhältnissen vermutlich sowohl die Ukraine als auch Russland von großflächigen Kontaminationen bedroht. Und: Das Kraftwerk versorgt fast den gesamten Süden der Ukraine mit Strom – auch jene Gebiete, auf die Russland Anspruch erhebt oder bereits erobert hat. Von daher sollte es im Interesse beider Kriegsparteien sein, einen Super-GAU in dem AKW zu verhindern. Das lässt hoffen, dass sich die Kriegsparteien doch noch auf einen Ausweg aus der verfahrenen Situation verständigen.

Sowohl Russland als auch die Ukraine befürworten inzwischen den von Grossi geforderten Besuch von IAEA-Fachleuten. Diese sollen sich vor Ort ein Bild von der Lage machen und Arbeiten am AKW durchführen. Doch bevor sich eine Mission auf den Weg machen kann, sind noch einige Hindernisse zu überwinden. Denn dafür müssten zunächst einmal die Waffen schweigen. Umstritten ist auch, welchen Weg die Fachleute zum Atomkraftwerk nehmen sollen. Die Ukraine lehnt eine Anreise von russischer Seite ab, da sie wie eine Anerkennung der russischen Besatzung wirken könnte. Andererseits wäre die Anreise von Kiew aus besonders gefährlich, weil sie mitten durch umkämpfte Gebiete führen würde.

Krieg und Frieden

Die Entwicklungen am AKW Saporischschja zeigen, wie sehr der Betrieb von Atomkraftwerken auf Frieden angewiesen ist. Trotz geplanter Laufzeiten von mehreren Jahrzehnten sind AKW nicht dafür ausgelegt, militärischen Geschossen standzuhalten. Selbst Expert*innen wissen wenig darüber, wie lange Containments oder Reaktorbehälter welchen Geschossen standhalten könnten. Wie gefährlich der Beschuss in Saporischschja ist, wird daher unterschiedlich bewertet. Doch wie auch immer man die unmittelbare Gefahr einschätzt – der unter anderem von Wolodymyr Selenskij gezogene Vergleich mit Tschernobyl hinkt zumindest teilweise. Denn in Saporischschja handelt es sich um einen ganz anderen Reaktortyp. In Tschernobyl gelangten durch den Grafitbrand strahlende Partikel in sehr hohe Luftschichten und konnten sich daher über Tausende Kilometer verteilen. Bei einem Unfall in Saporischschja wäre wahrscheinlich zunächst ein deutlich kleinerer Umkreis betroffen – der dafür umso stärker.

Zuletzt wurde in den Medien vermehrt hervorgehoben, wovor auch .ausgestrahlt seit den ersten Kriegstagen warnt: Der direkte Beschuss ist nicht das einzige Risiko für das AKW Saporischschja. Nicht wenige Expert*innen sehen derzeit die größere Gefahr in einem Zusammenbruch des Stromnetzes. Kann der produzierte Strom nicht mehr ins Netz gespeist werden, muss das Kraftwerk die Leistung sofort soweit drosseln, dass es nur noch den eigenen Bedarf deckt. Ein solcher „Lastabwurf auf Eigenbedarf“ ist aber fehleranfällig. Gelingt er nicht, müssen Dieselgeneratoren die Notstromversorgung übernehmen. Denn wie jedes andere AKW verbraucht auch Saporischschja eine Menge Strom für die Kühlung der Reaktoren. Selbst nach dem Abschalten müssen sie noch jahrelang permanent gekühlt werden. In Saporischschja kommt noch die Kühlung der abgebrannten Brennelemente hinzu, die auf dem Gelände lagern. Nach wenigen Tagen muss entweder die externe Stromversorgung wiederhergestellt oder mehr Diesel beschafft sein, um eine Kernschmelze zu verhindern. Ein solches „Station Blackout“-Szenario ist nicht unwahrscheinlich. Unbestätigten Berichten zufolge hat Russland bereits mehrere Stromleitungen absichtlich beschädigt, weil es das Kraftwerk an das russische Netz anschließen will. Möglicherweise sind nur noch eine oder zwei Leitungen nach außen intakt. Und die großen Überlandleitungen, die für die Stabilität des Stromnetzes eine zentrale Rolle spielen, verlaufen mitten durch umkämpftes Gebiet. Es besteht also nicht nur die Gefahr, dass es zu einer Beschädigung der Stromleitungen kommt. Im Ernstfall sind auch die Voraussetzungen für eine schnelle Reparatur schlecht.

Es ist außerdem davon auszugehen, dass sich die Kriegssituation auf das Sicherheitsmanagement im AKW Saporischschja auswirkt. Die Belegschaft arbeitet dort unter kaum vorstellbaren psychisch belastenden Bedingungen. Die Sicherheit der Anlage, ihre persönliche Sicherheit und die Sicherheit ihrer Familien sind in Gefahr. Eine solche massive Stresssituation macht anfällig für Fehler. Mangelt es den militärischen Besatzern an Kenntnissen über nukleare Sicherheit, können sie auch unbeabsichtigt den sicheren Betrieb des Reaktors behindern. Ersatzteile können nicht geliefert werden und Sicherheitsüberprüfungen finden möglicherweise gar nicht oder nicht wie vorgeschrieben statt.

Sollte es zu einem Unfall kommen, bei dem Radioaktivität freigesetzt wird, wäre das Krisenmanagement – wie beispielsweise Evakuierungen – deutlich erschwert. Das AKW liegt unweit der Front. Einsatzkräfte und die erforderliche Infrastruktur – wie Krankenhäuser, öffentliche Verkehrsmittel, Kommunikationsnetze, Stromversorgung – sind im bei einem Unfall womöglich nur eingeschränkt verfügbar.

Im schlimmsten Fall könnte ein Unfall in einem Atomkraftwerk, der durch Kriegshandlungen ausgelöst wird, als nukleare Eskalation gewertet werden. Wenn Atommächte an einem bewaffneten Konflikt beteiligt sind, kann ein „konventioneller“ Konflikt in einen Atomkrieg eskalieren. Außerdem ist zu erwarten, dass die Strahlung auch unbeteiligte Länder trifft. Wäre Polen als NATO-Mitglied von einem Super-GAU in Saporischschja betroffen, würde die NATO dann in den Krieg eintreten?

Recht im Unrecht

Alle diese Gefahren sind nicht auf das AKW Saporischschja beschränkt, sondern drohen auch bei jedem anderen Atomkraftwerk, das sich plötzlich auf einem Kriegsschauplatz befindet. Trotzdem rechnete wohl noch vor einem halben Jahr kaum jemand damit, dass ein europäisches Atomkraftwerk Zielscheibe in einem Krieg sein würde. Dass ein Atomkraftwerk nicht angegriffen werden darf, schien internationaler Konsens, jeder Krieg ohnehin sehr weit weg. Das hat sich geändert. Und vielen ist nun bewusst geworden, dass internationale Abkommen und Appelle in einem eskalierten Konflikt nicht mehr viel wert sind.

Laut Genfer Konvention sind Atomkraftwerke als besonders sensible Güter als militärische Ziele zwar ausgeschlossen – zumindest wenn durch einen Angriff schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung durch radioaktive Strahlung riskiert werden. Dieses Verbot gilt allerdings nicht, wenn sie Strom zur „regelmäßigen, bedeutenden und unmittelbaren Unterstützung von Kriegshandlungen“ liefern und der „Angriff das einzige praktisch mögliche Mittel ist, um diese Unterstützung zu beenden“. Es besteht also ein gewisser Interpretationsspielraum – und Verstöße gegen das Völkerrecht sind ohnehin schwer zu verfolgen und zu sanktionieren.

Die Zukunft muss erneuerbar sein

Die Situation in der Ukraine ist ein deutliches Warnsignal an alle, die weiter auf Atomkraft setzen. Die Entwicklungen dort führen deutlich vor Augen, wie gefährlich und unbeherrschbar diese Technik gerade in geopolitisch instabilen Zeiten ist. Diskussionen um Laufzeitverlängerungen oder gar eine Renaissance der Atomkraft sind daher absurd und brandgefährlich.

Leider sehen das nicht alle so: Statt ihre massive Abhängigkeit von der Atomkraft zu hinterfragen, hat die Ukraine im Juni ein Memorandum mit Westinghouse über den Bau von neun weiteren Reaktoren unterschrieben. Das ist Wahnsinn. Und auch andere Länder stellen ihre Atompolitik zumindest nicht öffentlich infrage. Dabei sollte spätestens jetzt klar sein: Angesichts des Klimawandels und weiterer sich überlagernder politischer Krisen kommen für die Energieversorgung der Zukunft nur erneuerbare Energien in Frage.

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Anna Stender

Anna Stender kommt aus Münster und hat bereits in den Neunzigerjahren gegen Castortransporte nach Ahaus und Gorleben demonstriert. Sie ist studierte Fachübersetzerin und hat sich nach Stationen in Berlin, Köln, Bangalore, Newcastle-upon-Tyne und Jülich entschieden, in Hamburg zu bleiben. Seit 2020 ist sie als Redakteurin bei .ausgestrahlt, wo sie vor allem für den Print-Bereich schreibt.

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