Reaktor-Ruine mit Sarkophag in Tschernobyl 2011
Foto: Alexander Tetsch

Die Atomkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986

In Block 4 des ukrainischen AKW Tschernobyl, nahe der Landesgrenze zu Weißrussland, startet die Bedienmannschaft um 1:23:04 Uhr in der Nacht einen Test. Dabei gerät der Meiler außer Kontrolle: Die Leistung erhöht sich immer weiter, die Notabschaltung versagt, die Kettenreaktion nimmt rasend schnell zu, wegen der enormen Hitze bildet sich Knallgas. Um 1:23:48, nach ganzen 44 Sekunden, explodiert der Reaktor, sein hochradioaktiver Kern beginnt zu brennen und zu schmelzen, die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Der Super-GAU von Tschernobyl ist der bis dahin größte Atomunfall der Geschichte.

2020 - 34 Jahre nach dem GAU brennen in der Sperrzone rund um Tschernobyl die Wälder. Seit Anfang April versuchen über 1.000 Menschen die Brände in den Griff zu bekommen. Atomkraft ist und bleibt ein Risiko.

TIPP: Film und Podcast zur aktuellen Situation

2019 ist ein ARD-Team mit einem Geigerzähler im weißrussischen Sperrgebiet unterwegs. Eine der wenigen Menschen, die das Team dort antrifft, ist die 90-jährige Babuschka Galina. Im Weltspiegel erzählt Birgit Virnich, wie sie sich im Sperrgebiet bewegen, was das Team essen konnte und warum die alte Frau einfach dageblieben ist:

Aktueller Beitrag aus Weltspiegel: Speerzone heute

Während in Deutschland Atomkraft schon fast zur Geschichte zu gehören scheint und eine der zentralen Sprecherinnen von "Fridays for Future" das nur noch aus Erzählungen kennt, setzt Frankreich weiterhin auf die Atomkraft:

Podcast: Tschernobyl und die Atomkraft

Krieg und Atomkraft - 'Spiel' mit dem Höllenfeuer
Info-Material
Fragen & Antworten
  • Der Katastrophenreaktor setzte binnen weniger Tage 12 Trillionen Becquerel (=12×1018 Bq bzw. 12.000 Petabecquerel [PBq]) Radioaktivität frei, das ist 200 mal so viel wie die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki zusammen. Darunter waren 110 PBq langlebiges Cäsium-137 und 2.000 PBq Jod-131.1 Da der Wind mehrfach drehte, zogen am Ende mehrere radioaktive Wolken über ganz Europa und Kleinasien. Ihr Fallout war dort am größten, wo es regnete. In Deutschland wurden besonders Bayern – vor allem Südostbayern –, Baden-Württemberg, Hamburg und Berlin kontaminiert. Die atomfreundliche französische Regierung behauptete viele Jahre allen Ernstes, die radioaktive Wolke habe an der französischen Grenze gestoppt.

    1Fairlie, The other report on Chernobyl, 2006

  • Zunächst löschten nur die Werks- und die örtliche Feuerwehr. Im Laufe der kommenden Tage, Wochen, Monate und Jahre schickte die Sowjetunion 600.000 bis 860.000 Menschen von überall her zum Katastrophendienst nach Tschernobyl. Diese „Liquidator*innen räumten hochradioaktiven Schutt beiseite, gruben Tunnel unter den zerstörten Reaktor, trugen radioaktives Erdreich ab, machten kontaminierte Dörfer dem Erdboden gleich, töteten verstrahlte Tiere, verbuddelten radioaktiven Müll und bauten um die Atomruine den sogenannten Sarkophag, der das Strahleninferno einschließen sollte. Die meisten Liquidator*innen waren zwangsverpflichtete Rekruten, daneben waren aber auch Tausende von Arbeiter*innen, Ingenieur*innen, Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen und Wissenschaftler*innen in Tschernobyl im Einsatz. Helikopter warfen 5.000 Tonnen Bor, Blei, Sand und Lehm über dem Reaktor ab, um den Grafitbrand zu löschen, die Freisetzung weiterer radioaktiver Materialien zu stoppen und die Strahlung abzuschirmen. Das Feuer erlosch dennoch erst am zehnten Tag. Nahezu alle Liquidator*innen trugen schwere Gesundheitsschäden davon; mehr als 90 Prozent sind invalide, viele Familien aus diesem Grund auch verarmt. Experten schätzten 2005, dass bereits bis zu 125.000 Liquidator*innen gestorben waren.1

    1IPPNW, Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl, 2011

    tschernobyl-masken
    Foto: Alexander Tetsch
  • Strahlenmessgeräte in Skandinavien schlugen am 27. April 1986 Alarm. Analysen zeigten, dass es sich um einen Kernschmelzunfall handeln musste; die Öffentlichkeit erfuhr davon aber nichts. Die Sowjetische Nachrichtenagentur TASS meldete am 28. April 1986 abends um 21 Uhr (Moskauer Zeit), dass es einen Unfall im AKW Tschernobyl gegeben habe. Diese Nachricht schaffte es noch in die „Tagesschau“ und am folgenden Morgen in viele Tageszeitungen, in der DDR allerdings nur als kleine Meldung auf den hinteren Seiten.

  • Die Regierung betonte, dass sich ein solcher Unfall in einem deutschen AKW nicht ereignen könne. Eine Gesundheitsgefahr durch den Fallout aus Tschernobyl stritt sie ab. Weil sie die gesundheitlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung insgesamt unterschätzte und herunterspielte, wurden mögliche Schutzmaßnahmen viel zu spät ergriffen, waren zu lax oder unterblieben ganz: Kinder spielten auf verstrahlten Wiesen und Spielplätzen, Passant*innen liefen ungeschützt durch radioaktiven Regen und Millionen von Menschen waren einer erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt, weil sie kontaminiertes Gemüse und Milch verzehrten.

  • Ja, aber viel zu spät. In der 50.000-Einwohner-Stadt Prypjat etwa, ganze drei Kilometer vom Reaktor entfernt, stiegen die Strahlenwerte schnell auf das 600.000-fache. Trotzdem wurde sie erst 36 Stunden nach dem Super-GAU evakuiert; bis heute ist sie eine Geisterstadt. Kontrollen von Milch und Trinkwasser gab es erst ab dem 1. Mai, Jodpräparate, die die Aufnahme von radioaktivem Jod in die Schilddrüse verhindern sollten, wurden erst vier Wochen nach dem Super-GAU verteilt.

    Auch die Evakuierung der Dörfer in der 30-Kilometer-Sperrzone rings um den Reaktor und in weiteren stark kontaminierten Gebieten begann erst eine Woche nach der Explosion des Reaktors. Viele der Siedlungen wurden anschließend mit Planierraupen eingeebnet, ihre verstrahlten Trümmer mit Erde abgedeckt. Insgesamt mussten 400.000 Menschen ihre Heimat verlassen, viele werden niemals zurückkehren können.1 Mehr als 8 Millionen Menschen leben weiterhin in kontaminierten Gebieten.2

    1UN, Dokument A/50/418, 8.9.1995

    2IPPNW, Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl, 2011

    tschernobyl-stadt
    Foto: Alexander Tetsch
  • Keiner weiß genau, wie es darin aussieht und wie es vor allem um den verbliebenen Brennstoff bestellt ist. Der 1986 von
    90.000 Menschen binnen sechs Monaten errichtete Sarkophag ist brüchig, undicht und einsturzgefährdet. Seit 2019 überdeckt eine zweite, mehr als 2 Milliarden Dollar teure Schutzhülle aus Stahl den Reaktor, der noch immer 96 Prozent seines radioaktiven Inventars enthält. Die gigantische Halle soll 100 Jahre halten; ob der Reaktor samt dem geschmolzenen Reaktorkern bis dahin demontiert werden kann, ist offen. In der Sperrzone kann man, „Adventure-Reisen“ hin oder her, auch 35 Jahre nach dem Super-GAU nicht ohne erhebliche Gefahr für die Gesundheit leben. Nichtsdestotrotz sind bis zu 10.000 Menschen in die Sperrzone zurückgekehrt oder gleich dort geblieben.1 Waldbrände, Stürme, Überflutungen oder andere Naturkatastrophen, ja selbst Bauarbeiten können jederzeit erneut größere Mengen radioaktiver Stoffe aufwirbeln und auch großräumig verteilen – wie mehrfach schon geschehen.

    1Nyagu, The current situation in Ukraine, 2006

  • Millionen von Menschen in ganz Europa und Kleinasien haben die Folgen der radioaktiven Belastung durch Tschernobyl zu tragen. An erster Stelle die Liquidator*innen: Sie erkranken signifikant häufiger an allen möglichen Krebsarten als andere Menschen. Vor allem aber hat die Strahlung ihren Körper mürbe gemacht. Stoffwechsel und Organe, Haut und Nerven, Verdauung und Psyche, Sinnesorgane, Kreislauf, Atmung und vieles mehr sind geschädigt, Infektionen und Parasiten haben
    leichtes Spiel; die meisten leiden an vier bis fünf Krankheiten gleichzeitig. Typische Alterskrankheiten treten bei Liquidator*innen 10 bis 15 Jahre früher auf als sonst. Selbst ihre Kinder hat der Super-GAU getroffen: Sie weisen bis zu siebenmal mehr Erbgutveränderungen auf als ihre vor dem Tschernobyl-Einsatz gezeugten Geschwister.

    Gesundheitsschäden verursacht die Atomkatastrophe aber auch bei der normalen Bevölkerung. Vor allem in den stärker kontaminierten Gebieten in Weißrussland, Russland und der Ukraine sind erhöhte Krebsraten, Fehlbildungen und Erbgutschäden nachweisbar. In abgeschwächter Form ist nahezu ganz Europa inklusive Kleinasien betroffen, wenn nicht gar die ganze nördliche Hemisphäre. So dürfte der Super-GAU von Tschernobyl europaweit für bis zu 10.000 schwerwiegende Fehlbildungen verantwortlich sein. Ebenso sind bis 2056 als Folge der radioaktiven Belastung bis zu 240.000 zusätzliche Krebsfälle in Europa zu erwarten (die Liquidator*innen nicht einmal mitgerechnet). Die nach Tschernobyl erhöhte Säuglingssterblichkeit hat europaweit bis zu 5.000 Säuglinge das Leben gekostet – nur aufgrund der Strahlenbelastung. Hinzu kommen etwa 1 Million Mädchen, die nach dem normalen Geschlechterverhältnis zu erwarten gewesen wären, in der Geburtenstatistik aber fehlen: Insbesondere weibliche Embryos sind sehr strahlenempfindlich. 5.000 Säuglinge hat der Super-GAU europaweit das Leben gekostet. Und bei der über die Nordhalbkugel verteilten Tschernobyl-Kollektivdosis von 600.000 Personensievert sind im Laufe von zehn Generationen zwischen 30.000 und 230.000 Geschädigte zu erwarten.1

    Fehlbildungen und Fehlgeburten nahmen nach Tschernobyl auch bei Tieren in ganz Europa zu. Einige Ziegenzüchter – Ziegen gelten als die strahlenempfindlichsten Nutztiere – meldeten bis zu 40 Prozent Verluste an Jungtieren. In freier Wildbahn hinterließ der Super-GAU ebenfalls deutliche Spuren: In höher belastetet Gebieten finden sich bei Vögeln, Säugetieren und Insekten jeweils weniger Arten und weniger Tiere als in geringer belasteten. Vögel und Nager haben kleinere Gehirne, Bäume wachsen langsamer und selbst die Humusbildung ist reduziert.2

    IPPNW, Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl, 2011

    2 Mousseau,The Chernobyl + Fukushima Research Initiative, Summary, 2014

  • Jede Menge Fallout von radioaktivem Jod und Cäsium – trotz der Entfernung von rund 1.000 Kilometern. Besonders hoch fiel die Belastung in Südostbayern, Baden-Württemberg, Hamburg und Berlin aus. Milch, Fleisch, Gemüse und Getreide waren kontaminiert, vielerorts wurden Spielplätze gesperrt. Noch 1996, ein Jahrzehnt später, strahlten 153.000 Quadratkilometer (km²), also 44 Prozent der Landesfläche, mit mehr als 4.000 Becquerel Cäsium-137 pro Quadratmeter (Bq/m²), davon 43.000 km² mit mehr als 10.000 Bq/m² und 320 km² sogar mit mehr als 40.000 Bq/m². Wildschweine, Beeren und
    manche Pilze vor allem aus den höher belasteten Regionen Süddeutschlands sind noch 35 Jahre später weit über den für Nahrungsmittel geltenden Grenzwert verstrahlt: Das Cäsium-137 aus Tschernobyl ist zu diesem Zeitpunkt schließlich gerade einmal gut zur Hälfte zerfallen.

    Von den gesundheitlichen Auswirkungen sind einige statistisch zu erwarten, andere statistisch eindeutig nachgewiesen. Zu letzteren zählt, jeweils einige Monate nach Tschernobyl, eine drastisch erhöhte Fehlbildungsrate bei Neugeborenen in Südbayern und in der damaligen DDR, ein deutlich erhöhter Anteil von Neugeborenen mit Trisomie 21 (Down-Syndrom), ein signifikant erhöhter Anteil von Totgeburten und ein signifikanter Rückgang der Geburtenrate im besonders belasteten Südbayern. Allein in Bayern ist der Tschernobyl-Fallout demnach zwischen Oktober 1986 und Dezember 1991 für bis zu 3.000 zusätzliche Fehlbildungen verantwortlich.1

    IPPNW, Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl, 2011

  • Die Anti-Atom-Bewegung bekam neuen Zulauf, an vielen Orten gründeten sich neue Anti-Atom-Initiativen, einige richteten sogar eigene Strahlen-Messstellen ein. Die SPD und der Deutsche Gewerkschaftsbund rückten erstmals von ihrem bis dato strammen Pro-Atom-Kurs ab. Die Bundesrepublik bekam ein Umweltministerium (das auch für Reaktorsicherheit zuständig wurde). Zwar verhinderten auch die neuen Proteste weder die Inbetriebnahme des AKW Brokdorf im Herbst 1986 noch die der AKW Isar-2, Emsland und Neckarwestheim-2 im Laufe des Jahres 1988. Kein einziges Atomkraftwerk jedoch ging nach Tschernobyl in Deutschland noch in Bau. Alle 1986 noch geplanten Projekte wurden am Ende fallen gelassen, darunter die AKW Biblis C, Borken, Hamm, Marienberg, Neupotz, Pfaffenhofen, Pleinting und Viereth in Westdeutschland sowie die AKW Dahlen 1–4 in der DDR. Zudem gingen weder der bereits fertiggestellte Schnelle Brüter in Kalkar noch die schon in Bau befindlichen DDR-Reaktoren Greifswald 6–8 und Stendal 1–2 je in Betrieb.

Aktiv werden

 

„Es reicht nicht aus, die Wunden zu verbinden“

Gerhard Keller, 55, Mitbegründer des  Arbeitskreises „Leben nach Tschernobyl“ im hessischen Lang-Göns, hilft den Opfern der Tschernobyl-Katastrophe – und streitet dafür, neue Opfer zu verhindern

Gerhard Keller
Gerhard Keller

„Ich bin in Nordhessen groß geworden. Ich war so 16, 17 Jahre alt, als nur 14 Kilometer weiter, in Borken, ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte. Ein Lehrer von mir war in der Bürgerinitiative. Da habe ich mich auch informiert und gemerkt, wie man so belogen wird, und da fing das an, Brokdorf, Gorleben und diese Stationen. 

Das Thema hat mich dann nicht mehr losgelassen und ich habe mich in der Anti-AKW-Bewegung engagiert. 1990 habe ich in Gießen einen Vortrag gehört, von einem Anatolij Artemenko aus Kiew, der hat direkt berichtet von den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe 1986 in Tschernobyl. Sein Elternhaus steht dort. Mich hat der Vortrag so beeindruckt und ich fand das so furchtbar, dass ich gedacht habe, ich will da irgendwas unternehmen. Ich bin zu ihm hin und habe ihm gesagt, wenn er mir Adressen von Menschen gibt, die evakuiert worden sind, dann könnte ich versuchen, Hilfe zu organisieren. Ich wollte nicht etwas Anonymes machen, sondern wissen, die Hilfe geht an diese und diese Menschen. 

Bevor er abgereist ist, hat er eine lange Namensliste in meinen Briefkasten geworfen. In Kyrillisch, das hab ich übersetzen lassen und das war dann der Kontakt nach Borispol. Damals ging das noch mit Faxnummern, ich habe das Fax der Uni genutzt, da war manchmal die Leitung stundenlang nicht frei. Die Leute, die ich auf diese Weise in Borispol kennengelernt habe, das ist die Gruppe, mit der wir heute noch Kontakt haben. Borispol ist 170 Kilometer von Tschernobyl entfernt, dorthin wurden ganz viele Menschen evakuiert.

Logo: Arbeitskreis "Leben nach Tschernobyl"
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Die Friedensgruppe der Lang-Gönser Kirchengemeinde mit Pfarrer Klein organisierte um diese Zeit eine Freundschafts- und Versöhnungsfahrt nach Russland, Weißrussland und in die Ukraine. Ich selbst war in der Gießener Initiative gegen Atomanlagen, und als ich von der geplanten Russland-Tour hörte, informierte ich die Friedensgruppe über die Lage und meinen Kontakt zu den Menschen aus Tschernobyl und bat darum, die von mir aus Spendenmitteln beschafften Hilfsmittel wie Medikamente, Vitamintabletten, Einmalhandschuhe und so weiter mitzunehmen. Die Friedensgruppe hat dann selbst noch heftig Spenden gesammelt. Nach dieser ersten Fahrt war das Thema Tschernobyl auch für sie deutlich und viele waren bereit, mit Pfarrer Klein und mir weiterzumachen. Ich war sehr froh, weil es für mich allein doch zu viel war. So ist der Arbeitskreis entstanden, im Oktober 1990, und in der Gründungsurkunde steht, dass wir nicht nur humanitäre Hilfe leisten wollen, sondern auch politisch tätig sind. Das heißt, wir haben zwei gleichberechtigte Standbeine: Aktionen gegen Atomenergie und humanitäre Hilfe für die Opfer der Reaktorkatastrophe.

Zu Beginn haben wir die Konvois noch komplett selbst durchgeführt, haben einen oder mehrere Lkw gechartert, vollgeladen und sind losgefahren. Heute nimmt eine Spedition aus Borispol auf ihrem Rückweg von Deutschland die Sachen mit. Wir haben zu Beginn auch Kinderurlaube organisiert wie viele andere Tschernobyl-Initiativen; das waren die ersten vier, fünf Jahre. Die Kinder waren in Jugendheimen untergebracht und zum Teil in Familien. Dadurch sind die intensivsten Beziehungen entstanden. Wir haben diese Art der Arbeit eingestellt, weil wir der Meinung sind, dass die Mittel, die da ausgegeben werden, effektiver eingesetzt werden können. Also haben wir einen Kindergarten in Borispol unterstützt. Seit 25 Jahren ist da unser fester Ansprechpartner der Verein „Kinder von Tschernobyl“, der von Evakuierten gegründet wurde. Bis heute sind das dieselben Personen. Damit in Borispol unabhängige Strahlenmessungen möglich sind, haben wir gleich zu Beginn ein Strahlenmessgerät nach Borispol gebracht. Aber die Strahlenbelastung dort ist nicht vergleichbar mit der in den stärker verseuchten Regionen. 

Was ich selbst vor Ort gesehen habe, war eine Katastrophe. Vor allem, was die hygienischen Zustände im Bezirkskrankenhaus betraf. Nicht, weil den Leuten Hygiene nicht wichtig war – es gab das Geld einfach nicht. Wir haben für das Krankenhaus viele Geräte wie Ultraschall und EKG organisiert und sogar einen OP-Saal komplett neu hergerichtet. Bis heute ist die Armut vieler Menschen dort für uns völlig unvorstellbar. Durch den politischen Konflikt in der Ukraine haben sich die wirtschaftlichen Probleme noch einmal gravierend verschärft.

Es gibt eine ziemlich schöne Geschichte von einem jungen Mann, der 1992 als Kind bei uns im Kinderurlaub war, Valentin Avramenko. Heute ist er Anästhesist in Borispol an der Klinik. Er hat uns im November 2013 einen Brief geschrieben. Wir hätten ihm zweimal einen Traum erfüllt: damals mit dem Kinderurlaub und heute dadurch, dass wir ihm für seine Arbeit ein Laryngoskop organisieren konnten, ein medizinisches Hilfsinstrument zur künstlichen Beatmung. 

Wir wollen, dass die Leute vor Ort trotz der schlimmen Armut eine Perspektive sehen. Wir haben vor einiger Zeit hochwertige Nähmaschinen geliefert, mit denen nun junge Leute nähen lernen; es gibt dort jetzt eine Nähstube. Noch wichtiger ist die Kleiderkammer in Borispol. Wir sammeln regelmäßig gute, gebrauchte Kleidung, die in Borispol über die Kleiderkammer an Tschernobylopfer und Bedürftige abgegeben wird. Außerdem betreibt die Borispoler Gruppe in den kalten Wintermonaten eine Suppenküche, die wir durch Spenden finanzieren.

Wir denken, es reicht nicht aus, nur die Wunden zu verbinden – man muss auch die Ursache bekämpfen. Also organisieren wir immer wieder Referenten, haben viele Anti-Atom-Demos mit initiiert. Ich habe in den 90er Jahren den Arbeitskreis davon überzeugt, den damaligen Boykott gegen Siemens mitzutragen, der Konzern hat ja fast alle AKW in Deutschland gebaut. Das gab heftigste Diskussionen, wir haben auch Spender verloren. Es war uns unterm Strich aber wichtiger, glaubwürdig zu sein. 

Einmal haben wir in Geschäften in Gießen und Lang-Göns 3.000 Holzklötzchen mit Radioaktivitätszeichen verteilt – als das symbolische, rein rechnerische Pro-Kopf-Volumen von Atommüll, das bisher angefallen war. Die Kunden konnten das Klötzchen an Ort und Stelle in einen Umschlag stecken und an ihre Wahlkreis-Abgeordneten schicken, zusammen mit einem vorformulierten Brief, dass sie ihren Teil an die Verantwortlichen abgeben. Dann haben wir an einem Sonntag vor dem jährlichen Tschernobyl-Gottesdienst einem Bundestagsabgeordneten der CDU Briefe mit den Holzklötzchen in den Garten geschüttet. Seine Frau hat die Polizei gerufen, die wollte erstmal unsere Personalien aufnehmen. Wir haben gesagt, geht nicht, wir hätten keine Zeit, da müssten sie in den Tschernobyl-Gottesdienst nach Lang-Göns kommen. Sehr erfolgreich war auch unser Aufruf an die evangelischen Pfarrer in Mittelhessen, keine Produkte mehr von Siemens zu kaufen. 33 von ihnen haben sich öffentlich bekannt und mitgemacht, es gab einen ziemlichen Wirbel um die Sache und hat uns in der Süddeutschen Zeitung einen Zweispalter im Wirtschaftsteil gebracht, Titel: „Siemens und die 33 Pfarrer“. Meine Erfahrung ist: Wenn man eine gute Gruppe zusammenbekommt und es ein bisschen schlau anstellt, kann man richtig viel erreichen. Und zwar sowohl im humanitären Bereich als auch auf der politischen Ebene. 

Die Arbeit im politischen Bereich hat sich heute verschoben – wir machen weniger direkte Aktionen und organisieren stattdessen Vorträge und Informationsveranstaltungen. Das liegt auch daran, dass sich der Kampf um die Form der Energienutzung verlagert hat. Er findet jetzt auf der ökonomischen Ebene statt, in meinen Augen ist er damit dort, wo er schon immer hingehörte. Und unsere Arbeit und unsere Präsenz in der Gemeinde und in den Zeitungen hält das Thema mit am Laufen.“

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Dieser Text ist ursprünglich im .ausgestrahlt-Magazin Nr. 30 (Januar 2016) erschienen.

Videos

Unsere Empfehlungen zu frei verfügbaren Dokumentationen über den Super-GAU von Tschernobyl

Super GAU Tschernobyl

Sarkophag für die Ewigkeit?, ZDFinfo Doku, 2018

Weitere Filme zu Tschernobyl

Bücher

Bücher zu Tschernobyl – unsere Empfehlungen

Was wäre wenn...

Silke Freitag, Jochen Stay, Alexander Neureuter: „Was wäre, wenn …"
...es zu einem Super-Gau im AKW Brokdorf kommt? Dieser Bildband gibt Antworten auf die Frage indem er Fotos aus Tschernobyl jeweils vergleichbare Momente aus dem Alltagsleben in Norddeutschland gegenüberstellt, beispielweise dem verwaisten Riesenrad in Pripyat das voll besetzte Riesenrad auf dem Hamburger Dom.
84 Seiten, Hrsg.: .ausgestrahlt, 2012
 

Tschernobyl - Chronik der Zukunft


Swetlana Alexijewitsch 2006: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft
Die Tschernobyl-Katastrophe hat durch Fukushima eine schreckliche Brisanz gewonnen. Das preisgekrönte Buch von Swetlana Alexijewitsch in einer Neuausgabe mit einem aktuellen Vorwort. Über mehrere Jahre hat Swetlana Alexijewitsch Menschen befragt, deren Leben von der Tschernobyl-Katastrophe gezeichnet wurden. Entstanden sind eindringliche psychologische Portraits - literarisch bearbeitete Monologe - , die von Menschen berichten, die sich ihre Zukunft in einer Welt der Toten aufbauen müssen.
304 Seiten, Berlinverlag 2006, ISBN: 978-3-8333-0357-9
Eine Chronik der Zukunft

 

Tschernobyl - Nahaufnahme

 

Igor Kostin: Tschernobyl. Nahaufnahme
1986 geschah in Tschernobyl das Unvorstellbare. Igor Kostin, der die ersten Bilder der Reaktorkatastrophe schoss, erzählt. Seine Nahaufnahmen sind ein bewegendes menschliches Zeugnis, eine Mahnung.
240 Seiten Antje Kunstmann Verlag 2006, ISBN 9783888974359
Tschernobyl Nahaufnahme

 

 

Die ausradierte Stadt


Francesco M. Cataluccio 2012: Die ausradierte Stadt
Für die meisten steht Tschernobyl für das Kernkraftwerk in der Ukraine, in dem sich 1986 im damaligen Russland der schwerste atomare Unfall der Geschichte ereignete. Doch jene Katastrophe ist nur einer von vielen Schicksalsschlägen, die diese geschichtsträchtige Region erleiden musste: von den endlosen Kriegen zwischen Polen, Ukrainern und Russen bis zur Vertreibung der jüdischen Bevölkerung, die hier ihr wichtigstes chassidisches Zentrum hatte. Der Slawist Francesco M. Cataluccio, damals in Warschau hautnah am Geschehen, reist fünfundzwanzig Jahre später in die „Verbotene Zone“ Tschernobyls. „Die ausradierte Stadt“ ist eine Reisereportage und archäologische Erkundung zugleich - vor allem aber ein Buch über die Entwurzelung in Mitteleuropa.
160 Seiten, Zsolnay 2012, ISBN 978-3-552-05581-0
Die ausradierte Stadt

 

Tschernobyl für immer

Peter Jaeggi (Hrsg): Tschernobyl für immer. Von den Atombombenversuchen im Pazifik bis zum Super-GAU in Fukushima
Am Beispiel von Tschernobyl zeigen Peter Jaeggi und seine Koautoren auf, wie sehr und wie lange die Folgen einer nuklearen Katastrophe auf betroffenen Menschen, auf der getroffenen Natur lasten. Der belgische Autor und Dokumentarfilmer Alain de Halleux beschreibt die katastrophalen Zustände im Sarkophag von Tschernobyl; der junge belarussische Fotograf Andrej Ljankewitsch erzählt mit seiner Kamera ganz persönliche Tschernobylgeschichten. Zudem berichtet die japanische Journalistin Yumi Kikuchi aus Fukushima und über die Langzeitfolgen der Atombombenabwürfe in Japan sowie der Atombombenversuche im Pazifik.
Broschiert, 408 Seiten, Lenos 2011, ISBN-10: 3857874198
Tschernobly für immer

 

alle Fotos von Alexander Tetsch, 2011. Infos zur Fotoausstellung "Was wäre, wenn ..."

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