Jodtabletten: „Beruhigungspillen“ in NRW

24.08.2017 | Jan Becker

Unter anderem im Münsterland werden derzeit Jod-Tabletten verteilt, die als Vorsorgemaßnahme gegen schwere Unfälle in den nahen Atomkraftwerken dienen sollen. Lokale Atomkraftgegner*innen warnen: Diese Tabletten schützen nicht vor Krebs.

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Dass die kleinen Tablettenpackungen derzeit im Bereich Coesfeld verteilt werden, davon berichten das Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen und der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU). Sollte es in einem der Atomkraftwerke - die umstrittene belgische Anlage Tihange ist nur 65km Luftlinie entfernt - zur Freisetzung von Radioaktivität kommen, sind Anwohner*innen in einem bestimmten Umkreis aufgerufen, schnell die Kaliumiodidtabletten zu schlucken. Durch eine künstliche Überdosierung von Jod im Körper wird die Aufnahme des aus den Reaktoren stammenden radioaktiven Jod-131 blockiert. Die Schilddrüse würde das Jod-131 sonst einlagern, was zu Krebs führen kann.

  • Die Kaliumiodidtabletten sind allerdings ausschließlich für Personen bis einschließlich 45 Jahren bestimmt. Das Risiko schwerer Nebenwirkungen in Folge der Tabletteneinnahme bei älteren Menschen ist höher als das Risiko, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken.

Die Tabletten müssen rechtzeitig eingenommen werden, bevor die Radioaktivität eingeatmet wird. In der Regel sind die Tabletten an einer zentralen Ausgabestelle, etwa Krankenhäusern, in großer Zahl vorrätig und müssen im Ernstfall dort abgeholt werden. Dafür bedarf es wiederum einer frühzeitigen Information der Bürger*innen, um die Katastrophenschutzmaßnahme zu organisieren. Beides stimmt Atomkraftgegner*innen pessimistisch, denn die Verantwortlichen von Fukushima oder Tschernobyl versuchten immer erstmal, die Ereignisse herunterzuspielen oder zu vertuschen. Kaliumiodidtabletten stellen also „keinen ernsthaften Schutz der Bevölkerung dar“, heißt es aus dem Münsterland.

Vorverteilung beginnt ab 1. September

Aufgerüttelt von den Ereignissen im belgischen Tihange, wo tausende Risse den Reaktor von Block 2 durchziehen, geht die Region Aachen nun erstmalig in Deutschland einen anderen Weg: Zwischen dem 1. September bis zum 15. November können „berechtigte Personen“ aus der Stadt Aachen, der Städteregion und den Kreisen Düren, Euskirchen und Heinsberg online einen Bezugsschein beantragen, mit dem sie die Tabletten in nahezu allen Apotheken der Region abholen können.

„Eine solche Vorverteilung ist deutschlandweit bisher einmalig und hat uns deshalb vor große Herausforderungen gestellt“, so Markus Kremer von der Koordinierungsgruppe der Stadt Aachen auf einer Pressekonferenz am Dienstag.

„Natürlich gibt es vielfältige Gefahren bei einem Reaktorunfall“, ergänzt Stefan Derix, Geschäftsführer der Apothekerkammer Nordrhein. „Doch wenn man zumindest die Schilddrüse durch eine einfache, wissenschaftlich fundierte Maßnahme schützen kann, ist das doch schon mal was.“

Atomkraftgegner*innen fordern Abschaltung aller Atomanlagen

Aktivist*innen aus dem Münsterland rufen derzeit zu einer Demonstration Anfang September in Lingen, nördlich des Münsterlandes, auf. Dort befinden sich das Atomkraftwerk Emsland und eine Brennelemente-Fertigungsanlage.

„Nicht nur in belgischen Reaktoren, sondern auch im Atomkraftwerk Lingen 2 kann es zu Störfällen oder Terroranschlägen mit Radioaktivitätsfreisetzungen kommen“, warnen BBU und Aktionsbündnis in einer Presseerklärung.

Zwei Wochen vor der Bundestagswahl wollen die Demonstrant*innen ein deutliches Zeichen setzen. Im Aufruf zu der Demo fordern sie: Exportgenehmigungen von Kernbrennstoffen aus Lingen an die gefährlichen Pannen-Reaktoren in Belgien und Frankreich mit sofortiger Wirkung zurücknehmen. Brennelemente-Herstellung in Lingen und Urananreicherung in Gronau sofort beenden! Die AKW Lingen, Grohnde, Fessenheim, Tihange, Doel und alle anderen AKW abschalten! Für einen weltweiten Atomausstieg!

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Quellen (Auszug): aachener-zeitung.de, bbu-online.de; 22.8.2017

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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