36 Jahre nach Tschernobyl

26.04.2022 | Jan Becker
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Foto: wikimedia / Tim Porter

Jahr für Jahr erinnern wir an den Super-GAU von Tschernobyl als einen der größten Einschnitte der Menschheit, für die Zäsur in den Glauben, Atomenergie sei „sicher“. 2022 ist alles anders, rund um Tschernobyl ist Krieg, Soldaten graben in der „Todeszone“ und werden verstrahlt, 36 Jahre nach der Havarie von Reaktorblock 4 stehen ganz neue Risiken im Mittelpunkt.

Die erschreckende Nachricht, dass russische Panzer in die Ukraine einrollten, war sehr frisch, als es hieß: Tschernobyl wurde eingenommen, die Radioaktivitätswerte steigen an. Anfang März war eine Stromleitung zum Kraftwerkskomplex zerstört worden. Neben dem folgenden Ausfall der Mess- und Meldeeinrichtungen für Strahlung war unklar, inwieweit von dem vielen Atommüll auf dem Standort eine akute Gefahr ausgeht. Behörden gaben dann aber „Entwarnung“, eine Überhitzung der verbrauchten Brennelemente in dem zentralen „Nasslager“ sei ausgeschlossen, da die Nachzerfallsleistung der Brennelemente mittlerweile so weit abgeklungen sei, dass eine Kühlung durch das vorhandene Wasserinventar ohne Zwangsumwälzung sichergestellt werden könne. Möglich sei aber weiter ein unkontrollierter Beschuss und eine Zerstörung von Zwischenlagern oder sogar dem „New Safe Confinement“, einer Hülle über dem zerstörten Reaktorblock 4. Es handelt sich um ein technisch sehr komplexes, gigantisches Bauwerk, das 2016 über die strahlenden Trümmer geschoben wurde und 100 Jahre lang sein gefährliches Inneres vor einer Freisetzung bewahren soll.

„Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und zuletzt der Krieg in der Ukraine zeigen, dass Atomkraftwerke eine nicht beherrschbare Gefahr für Mensch und Natur darstellen. Insofern sind die Rufe konservativer Politiker nach einer Laufzeitverlängerung für deutsche Atomkraftwerke extrem kurzsichtig, rückwärtsgewandt sowie in Zeiten wachsender Instabilität in Europa verantwortungslos.“ Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe

Das Gelände des AKW Tschernobyl war schnell von russischen Soldaten eingenommen, die Belegschaft des Kraftwerks durfte daraufhin das Gelände nicht mehr verlassen. International meldeten sich Fachleute mit besorgten Prognosen und appellierten an Russland, für alle ukrainischen Atomanlagen eine „sicheren Zustand“ zu gewährleisten. „Das größte Risiko ist die Verfügbarkeit der Mannschaft“, urteilte zum Beispiel Uwe Stoll, technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Reaktorsicherheit in Köln mit Blick auf den Anlagenpark der Ukraine. In den Städten, in denen die Mitarbeiter*innen und ihre Familien leben, werde gekämpft. „Die machen sich natürlich Sorgen um ihre Familien und sollen dann noch hoch konzentriert im Kraftwerk arbeiten. Das ist psychologisch hoch problematisch“, so Stoll. Nach fast 600 Arbeitsstunden ließ Russland den Austausch einer Hälfte des AKW-Betriebspersonals zu.

Mit ihren Fahrzeugen bewegten sich russische Soldaten auch in der 30-Kilometer-Sperrzone und im sogenannten „roten Wald“, einer bis heute besonders stark verstrahlten Zone. Nach Angaben des in Kiew ansässigen „Europäischen Tschernobyl-Instituts“ hätten russische Streitkräfte regelmäßig die verstrahlten Wälder von Tschernobyl beschossen, um Waldbrände zu entfachen. Messinstrumente für Radioaktivität seien außer Betrieb. In sozialen Netzwerken hieß es, die noch sehr jungen russischen Soldaten wüssten gar nicht, wo sie seien und hätten von dem Super-GAU noch nie etwas gehört. Um die Anlage und im verstrahlten Wald seien Gräben ausgehoben worden. Laut des staatlichen Energieversorgers Energoatom hätten russische Soldaten dabei „erhebliche Strahlendosen“ abbekommen. Von Transporten betroffener Menschen mit Strahlenkrankheit in eine Klinik in Belarus wurde berichtet. Daraufhin sei der Abzug aus Tschernobyl begonnen worden, fünf Wochen nach der Besetzung übergab Russland den Komplex zurück an die Ukraine.

Dabei seien laut Energoatom „Ausrüstung und andere Wertgegenstände“ gestohlen worden. Anatolii Nosovskyi, Direktor des Instituts für Sicherheitsprobleme von Kernkraftwerken (ISPNPP) in Kiew, berichtet von der Plünderung eines Strahlungsüberwachungslabors in Tschernobyl. Dabei seien radioaktive Substanzen entwendet worden, die dort zur Kalibrierung von Instrumenten verwendet wurden. Damit sei es möglich, eine „schmutzige Bombe“ zu bauen, mit der ein großes Areal kontaminiert werden könnte.

Strahlung breitet sich aus

Erstmals seit mehr als 30 Jahren wurde mit Unterstützung aus Deutschland die Radioaktivität in der Sperrzone um die Reaktorruine flächendeckend neu kartiert. Die letzten Darstellungen stammten von 1990, wurden also nur wenige Jahre nach dem katastrophalen Ereignis erstellt. Vor allem nach Norden und Westen breiten sich seitdem radioaktive Stoffe aus dem Reaktor aus, berichtet das Bundesamt für Strahlenschutz. Mithilfe von Helikoptern und Bodenproben wurden die Werte ermittelt. Die Gamma-Ortsdosisleistung in der Sperrzone liege je nach Ort zwischen 0,06 und etwa 100 Mikrosievert pro Stunde. Nach nur acht Tagen wird an solchen „Hotspots“ eine Strahlendosis von 20.000 Mikrosievert erreicht – der höchsten Dosis, die Menschen in Deutschland im Jahr erhalten dürfen, wenn sie beruflich radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind. Für Menschen, die nicht in einem AKW arbeiten, liegt der Wert um den Faktor 20 kleiner bei 1.000 Mikrosievert (und wäre entsprechend deutlich schneller überschritten).

Ein gigantisches Atommüll-Lager

Der Krieg rückt die eigentliche Situation vor Ort aus dem Bewusstsein. Bei Tschernobyl handelt es sich 36 Jahre nach dem GAU um ein gigantisches Atommüll-Zwischenlager. Der letzte der vier Reaktorblöcke ging im Jahre 2000 vom Netz. Ein auf 100 Jahre Laufzeit konzipiertes „Trockenlager“ für abgebrannte Brennelemente aus Block 1-3 wurde im vergangenen Jahr in Betrieb genommen. Mehr als 21.000 Brennelemente sollen aus dem derzeitigen „Nasslager“ in Behälter umgeladen werden und dann in diesen garagenähnlichen Gebäude geparkt werden. Innerhalb eines Jahres wurden 1.700 Brennelemente neu verpackt. Eine Konditionierungsanlage für flüssige radioaktiven Abfällen verarbeitet Abwasser und stellte daraus im letzten Jahr 4.000 Atommüll-Gebinde her. 2021 wurde in der Nähe des AKW zudem das zentrale Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente der AKW Riwne, Südukraine und Chmelnyzkyj fertiggestellt.

Unter der gigantischen Hülle um den zerstörten Block 4 finden erste Arbeiten für dessen Abbau statt. Geplant war, „instabile Strukturen“ des Sarkophags bis Ende 2023 abzubauen. Unter den aktuellen Gegebenheiten werde sich dieser Zeitplan aller Voraussicht nach jedoch „erheblich verzögern“, befürchtet die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS).

36 Jahre dem GAU sind also zwei Dinge festzustellen:

  • Tschernobyl ist nicht vorbei. Aus dem Komplex wird offenbar eine der größten Atommüll-Deponien der Welt.
  • Außerdem bringt Atomenergie schon in Friedenszeiten unkalkulierbare Risiken mit sich – in Kriegszeiten ist sie eine potentielle tödliche Gefahr.

weiterlesen:

Interaktive Ausstellung: Fukushima, Tschernobyl und wir

„Krieg und Atomkraft - ‚Spiel‘ mit dem Höllenfeuer“, aufgezeichneter Vortrag von Jürgen Döschner (Youtube)

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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