Akute Gefahr

Hintergrundinformationen zur Spannungsrisskorrosion im AKW Neckarwestheim-2 und zur Auseinandersetzung um eine Stilllegung des Riss-Reaktors

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aktuelle Pressemitteilungen zum AKW Neckarwestheim

Risse-Chronik

Aktions-, Presse- und Prozesschronik (Auswahl)

26.11.2022: Mit einer gewaltfreien Sitzblockade vor dem AKW Neckarwestheim protestiert die Initiative „Runterfahren“ gegen den geplanten Weiterbetrieb des Riss-Reaktors über den 31.12.2022 hinaus.

11.11.2022: Der Bundestag kippt das gesetzliche Abschaltdatum 31.12.2022 und erlaubt den Weiterbetrieb des AKW Neckarwestheim-2 sowie der AKW Emsland und Isar-2 bis 15.04.2023.

22.08.2022: Mit einer Protestaktion vor dem baden-württembergischen Umweltministerium kritisiert .ausgestrahlt den fahrlässigen Umgang der baden-württembergischen Atomaufsicht mit dem Riss-Problem in Neckarwestheim. Ein offener Brief an Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) listet zahlreiche Versäumnisse ihrer Behörde auf. Eine Antwort bleibt das Ministerium bis heute schuldig.

20.08.2022: Die von .ausgestrahlt initiierte Anti-Atom-Radtour 2022 protestiert bei ihrem Stopp in Neckarwestheim mit einer Kundgebung und Buchstabenaktion gegen den Weiterbetrieb des Rissreaktors.

Juni 2022: Bei der Revision 2022 werden 35 neue Risse entdeckt, die sich in den vergangenen Monaten gebildet haben – mehr als doppelt so viele wie noch im Jahr zuvor. Allerdings hat EnBW aus Kostengründen – und mit Billigung der Atomaufsicht – nur ein vereinfachtes Prüfverfahren eingesetzt, das Risse nicht zuverlässig erkennen kann. Das Umweltministerium lässt den Reaktor demnach mit einer unbekannten Anzahl unentdeckter Risse wieder ans Netz – ein klarer Verstoß auch gegen Maßgaben der Reaktorsicherheitskommission.

27.04.2022: Nach zehn Monaten schriftlichem Hin und Her lehnt der Verwaltungsgerichtshof den Eilantrag von .ausgestrahlt auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab, ohne sich inhaltlich mit den Vorwürfen zu beschäftigen. Das Hauptsacheverfahren ist weiter anhängig.

01.12.2021: Das Umweltministerium beantragt beim Gericht eine Fristverlängerung für eine weitere Stellungnahme. Das Eilverfahren ist inzwischen seit sechs Monaten bei Gericht anhängig …

12.11.2021: In einer kurzen Stellungnahme an das Gericht listet .ausgestrahlt lediglich Widersprüche in den Stellungnahmen von EnBW und Umweltministerium auf und regt eine kurzfristige mündliche Erörterung eventuell noch offener Sachfragen an.

09.11.2021: Fünf Monate nach dem Start des Eilverfahrens beantragt EnBW bei Gericht Einsicht in die Behördenakten. .ausgestrahlt protestiert: Alle Gutachten und Stellungnahmen in den Akten liegen EnBW als Anlagenbetreiber bereits vor, EnBW geht es nur um Prozessverzögerung.

29.10.2021: Das Umweltministerium übersendet weitere Behördenakten zur Einsicht. Daraus geht hervor, dass EnBW und Ministerium als Reaktion auf die Klage eigens mehrere Gutachten und Untersuchungen in Auftrag gegeben haben, welche die Tragfähigkeit der rissigen Rohre nachweisen sollen – was allerdings misslingt.

14.10.2021: Das Umweltministerium stuft die von EnBW angewandte Methode des Flachrechnens tiefer Risse in seiner Stellungnahme ans Gericht als „nicht sachgerecht“ ein.

20.09.2021: EnBW beantragt beim Gericht eine nochmalige Fristverlängerung bis zum 22.10.2021.

15.09.2021: Das Umweltministerium beantragt beim Gericht eine Fristverlängerung bis 15.10.2021, um auf die Zusammenfassung von .ausgestrahlt vom 03.08.21 zu antworten.

18.08.2021: EnBW beantragt beim Gericht Fristverlängerung bis 22.09.2021 für eine weitere Stellungnahme.

03.08.2021: .ausgestrahlt fasst in einem weiteren Schreiben ans Gericht zusammen, wie die Einlassungen von EnBW und Umweltministerium die Vorwürfe nicht etwa entkräften, sondern sogar noch untermauern, und zeigt an Beispielen anschaulich auf, warum die angeblichen Sicherheitsnachweise nicht gültig sind.

02.07.2021: EnBW räumt in einem Schreiben ans Gericht ein, tiefe und lange Risse nach einer selbst erfundenen Methode flachgerechnet und nur für Rohre mit solch flachen Rissen dann einen Tragfähigkeitsnachweis geführt zu haben. Auf einen Nachweis, inwiefern dieses vom kerntechnischen Regelwerk massiv abweichende Vorgehen zulässig und korrekt sein solle, habe man „verzichtet“.

22.06.2021: Der Artikel „Je älter, desto rostiger“ auf zeit.de thematisiert die Alterungsschäden von AKW, unter anderem am Beispiel der Risse in Neckarwestheim.

Juni 2021: Bei den Kontrollen der Rohre während der Jahresrevision 2021 werden – trotz jahrelanger Gegenmaßnahmen – zum fünften Mal in Folge Korrosionsschäden an den Rohren entdeckt. Das grüne Umweltministerium schwadroniert: „Die Anzahl der sicherheitstechnisch relevanten Befunde ist (...) rund 0,6 Promille höher als im Vorjahr.“ Das ist mathematischer Unsinn und Irreführung der Öffentlichkeit. Tatsächlich ist die Zahl der neu entstandenen Risse nämlich zweieinhalb mal so hoch wie im Jahr zuvor. Erstmals ist zudem auch das „kalte Ende“ der Rohre von Rissen betroffen. Das beweist aufs Neue, dass „Betriebserfahrungen“ keine Sicherheitsnachweise ersetzen können – was nicht nur für das AKW Neckarwestheim, sondern auch für das AKW Lingen/Emsland Konsequenzen haben müsste.

09.06.2021: Gemeinsam mit Anwohner*innen des AKW und unterstützt vom Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar (BBMN) stellt .ausgestrahlt beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, den weiteren Betrieb des AKW Neckarwestheim zu untersagen.

04.06.2021: Sieben Monate nach Einreichung der Klage gewährt das Umweltministerium den Klägern erstmals Akteneinsicht. Aus den Akten geht unter anderem hervor, dass zwei vom Ministerium selbst eingesetzte Gutachterausschüsse schon 2017, beim ersten Nachweis von Lochkorrosion, davor warnten, dass in den Dampferzeugern korrosive Bedingungen vorherrschen könnten, die auch gefährliche Risse (Spannungsrisskorrosion) verursachen könnten – so wie es tatsächlich der Fall war und ist. Die Atomaufsicht ignorierte diese Warnungen.

April 2021: Zwei vom Umweltministerium selbst in Auftrag gegebene Gutachten des Physikerbüros Bremen und der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) räumen unabhängig voneinander und explizit ein, dass kein Nachweis vorliegt, der ein durch Korrosion verursachtes Brechen von Rohren ausschließen würde. Sie bestätigen somit die von .ausgestrahlt und dem ehemaligen Bundes-Atomaufseher Dipl.-Ing. Dieter Majer erhobenen Vorwürfe.
 

07.03.2021: Zehn Jahre nach dem Super-GAU im AKW Fukushima fordern 500 Atomkraftgegner*innen mit einer Demonstration zum AKW Neckarwestheim‑2 dessen sofortige Stilllegung. Auch in Fukushima waren die Gefahren lange bekannt, wurden aber ignoriert – bis es schließlich zur Katastrophe kam.

 

10 Jahre Fukushima - Demo in Neckarwestheim


05.03.2021: Dipl.-Ing. Dieter Majer, Ministerialrat a.D. und einst einer der höchsten Atomaufseher im Bundesumweltministerium, belegt in einer gutachterlichen Stellungnahme im Auftrag von .ausgestrahlt, dass das Umweltministerium den Weiterbetrieb des Reaktors auf fehlerhafte und nichtige Sicherheitsnachweise („Leck-vor-Bruch-Nachweis“) stützt. Er bestätigt die akute Gefahr eines schweren Unfalls, vor der .ausgestrahlt seit Jahren warnt. Das SWR-Politmagazin „Zur Sache Baden-Württemberg!“ berichtet. Ein Vorabbericht erscheint auf swr.de, .ausgestrahlt kommentiert mit einer Pressemitteilung.

11.12.2020: Gemeinsam mit zwei Anwohner*innen des AKW reichen .ausgestrahlt und der Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar (BBMN) Klage beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim gegen den Ablehnungsbescheid ein und verlangen die Offenlegung des angeblichen Sicherheits-Nachweises.

09.11.2020: Das Umweltministerium lehnt den im Juni gestellten Antrag auf vorläufige Stilllegung des Reaktors ab. Zwar sind auch nach Ansicht der Atomaufsicht weitere Risse nicht ausgeschlossen. Es bestehe jedoch keine Gefahr, weil rissige Rohre immer zunächst ein Leck bilden würden, bevor sie abreißen würden („Leck-vor-Bruch“-Verhalten); ein solches Leck könne detektiert und der Reaktor dann noch rechtzeitig abgeschaltet werden. Einen Beleg für ein solches „Leck-vor-Bruch“-Verhalten bleibt das Ministerium schuldig.

17.07.2020: Anti-Atom-Aktivist*innen erklettern die EnBW - Zentrale in Karlsruhe. Robin Wood eV und .ausgestrahlt fordern: „Schrott-Reaktor Neckarwestheim abschalten! Jeder Riss ist einer zu viel!“

 

 

08.07.2020: In der Nacht zum 08. Juli 2020 projizierten Atomkraftgegner*innen einen großen Riss auf die Reaktorkuppel.

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Foto: Kristoffer Schwetje

05.07.2020: Sonntagsspaziergang zum AKW Neckarwestheim – das Aktionsbündnis CASTOR-Widerstand Neckarwestheim ist zum AKW Neckarwestheim gezogen und fordert, das AKW nicht mehr in Betrieb zu nehmen. Mit flatternden 'Airtubes' vor dem Neckarwestheimer AKW sollte die die enorme und zerstörerische Wucht symbolisiert werden, die in einem Dampferzeuger beim Abriss auch nur eines einzigen Rohres entstehen würde.

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Foto: Hanno Polomsky

03.07.2020: „Jeder Riss ist einer zu viel – Schrottreaktor Neckarwestheim abschalten“  - Mit tanzenden Rohren haben Atomkraftgegner*innen vor dem Umweltministerium in Stuttgart gegen den Betrieb des Reaktors mit verrotteten Dampferzeugern protestiert.

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Foto: Julian Rettig

19.06.2020: Zu Beginn der jährlichen Revision beantragen der BUND Baden-Württemberg, der Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar e.V. (BBMN) und .ausgestrahlt gemeinsam den Austausch aller vier Dampferzeuger im AKW Neckarwestheim II. In mehr als 300 Rohren wurden bisher Risse entdeckt. Der Reaktorsicherheitsexperte Prof. Dr.-Ing. habil. Manfred Mertins stellt in einer Bewertung fest, dass das Vorgehen von EnBW die deutschen Sicherheitsanforderungen missachtet.

21. September 2019: Mit einer überdimensionalen atomaren Geburtstagstorte empfängt .ausgestrahlt gemeinsam mit Atomkraftgegner*innen aus der Region die Delegierten des Jubiläumsparteitages der Grünen in Sindelfingen.

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Foto: Julian Rettig
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Foto: Julian Rettig

13. September 2019: .ausgestrahlt organisiert gemeinsam mit Initiativen vor Ort spontan eine Protestaktion vor dem AKW in Neckarwestheim, an der rund 50 Atomkraftgegner*innen teilnehmen.

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Foto: Julian Rettig

4. September 2019: Zur Behauptung von EnBW, die getroffenen Maßnahmen gegen die Rissbildung im AKW Neckarwestheim-2 zeigten bereits „erste Erfolge“, erklärt  .ausgestrahlt: EnBW täuscht Öffentlichkeit über den Zustand des AKW.

3. September 2019: Im AKW Neckarwestheim‑2 sind im dritten Jahr in Folge Korrosionsschäden an den Heizrohren in den Dampferzeugern entdeckt worden, darunter bisher insgesamt 292 zum Teil tief gehende Risse. Ursache der Risse ist nach Annahme von EnBW und Behörden die gefährliche Spannungsrisskorrosion, die Risse unvorhergesehen entstehen und schnell wachsen lässt. Durch die Heizrohre strömt unter hohem Druck stehendes heißes radioaktives Wasser aus dem Reaktorkern. Ein Abriss von Heizrohren kann zu einer Kernschmelze führen. .ausgestrahlt reagiert mit einer Pressemitteilung: Atomkraftgegner*innen fordern endgültige Abschaltung.

26. Oktober 2018: "Wir flicken bis zum Super-GAU – EnBW“ ist in der Nacht zum 26.10. in großen Lettern auf der Reaktorkuppel des AKW Neckarwestheim‑2 zu lesen. .ausgestrahlt erklärt: EnBW darf die Sicherheit der Bevölkerung nicht weiter aufs Spiel setzen.

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Foto: Stefan Mayer

25. Oktober 2018: Zum wiederholten Mal fallen im AKW Neckarwestheim‑2 Schäden an den Heizrohren der Dampferzeuger auf. Ein Leck dort, warnt ein ehemaliger AKW-Betriebsleiter, könnte unter Umständen eine nicht mehr beherrschbare Kettenreaktion im Reaktor nach sich ziehen.

Hintergrund

Unbekannt und unerkannt

Aufsichtsbehörden und Sachverständige sollen die Sicherheit der AKW garantieren – doch längst nicht alle ihre Annahmen erweisen sich als richtig. Das zeigen die zahlreichen neuen Rissfunde im AKW Neckarwestheim‑2

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Foto: Julian Rettig

Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) war sich seiner Sache sicher. Die Probleme mit den rissigen Rohren im AKW Neckarwestheim‑2 seien „behoben“, verkündete er beim Redaktionsbesuch in der „Heilbronner Stimme“. Das war im Mai. Vier Monate später holt die Realität den Minister ein. Die erneute Untersuchung der seit Jahren von Korrosion betroffenen Dampferzeuger des Reaktors hat 209 weitere Risse an 191 Rohren offenbart, dazu mindestens 66 neue Fälle von Lochkorrosion.

Die Schäden an den so genannten Dampferzeugerheizrohren sind keine Lappalie. Die Rohre sind Teil des Primärkreislaufs des Reaktors, durch sie strömt das heiße, unter hohem Druck stehende radioaktive Wasser aus dem Reaktorkern. Ein Bruch auch nur eines der mehr als 16.000 Rohre wäre bereits ein nur schwer zu beherrschender Kühlmittelverluststörfall. Würde noch ein weiteres Rohr beschädigt, wäre der Störfall bereits auslegungsüberschreitend – eine Kernschmelze droht.

Es ist das dritte Jahr in Folge, dass im AKW Neckarwestheim‑2 Korrosionsschäden an den Rohren in den Dampferzeugern auftauchen. EnBW, die Untersteller unterstellte baden-württembergische Atomaufsicht und die von ihr hinzugezogenen Sachverständigen haben jedes Mal Annahmen zum Zustand des Reaktors, zum Umfang der Schäden und zum Schadensmechanismus getroffen und den Reaktor auf Basis dieser Annahmen wieder ans Netz gelassen. Diese aber stellten sich mehrfach als falsch heraus.

Falsch eingeordnet

2017 fallen bei Routinekontrollen erstmals muldenförmige Wanddickenschwächungen an einigen Dampferzeuger-Rohren auf. Die Atomaufsicht schließt Lochkorrosion als Ursache zunächst aus: Diese sei angesichts des hoch korrosionsfesten Werkstoffs und der angenommenen Zusammensetzung des Wassers physikalisch-chemisch unmöglich. Tatsächlich sind beide Annahmen falsch: Das Wasser ist, obwohl es die geltenden Grenzwerte einhält, so aggressiv, dass es die Rohre angreift und diese in einem so schlechten Zustand, dass sie eben doch anfällig für Lochkorrosion sind.

Hätten Betreiber, Sachverständige und/oder Atomaufsicht das erkannt, hätten sie auch auf die Idee kommen können (und müssen), dass möglicherweise noch andere Korrosionsmechanismen am Werk sind. Lochkorrosion nämlich hat dieselben chemischen Voraussetzungen wie die weitaus brisantere Spannungsrisskorrosion – mit dem einzigen Unterschied, dass für das Auftreten von Spannungsrisskorrosion zusätzlich noch Materialspannungen nötig sind. Dass solche Spannungen an bestimmten Stellen der Dampferzeuger-Rohre auftreten, ist seit Langem bekannt. Folglich hätte bei korrekter Einordnung der ersten Korrosionsbefunde sofort der Verdacht im Raum stehen müssen, dass auch die Gefahr von Spannungsrisskorrosion besteht und entsprechende Untersuchungen erfolgen müssen. So aber kommt niemand auf den Gedanken, die Rohre auf Risse zu untersuchen. Stattdessen darf der Reaktor mit Zustimmung der Behörde und der Sachverständigen wieder ans Netz, ohne dass die Ursache für die entdeckte Korrosion geklärt ist – und mit mutmaßlich zahlreichen, auch damals schon tiefen, aber noch unerkannten Rissen.

2018, nach weiteren Funden volumenförmiger Vertiefungen, lässt die Behörde dann endlich sämtliche Rohre aller vier Dampferzeuger in Neckarwestheim untersuchen. Und siehe da: 101 weisen Risse auf, stellenweise ist die Rohrwand schon bis auf einen 0,1 Millimeter dünnen Rest durchgefressen. Lochfraß und Spannungsrisskorrosion lautet nun die Diagnose, als Ursache benennt der Betreiber Oxidationen aufgrund der 2010 begonnenen Einspeisung von Sauerstoff in den Dampfkreislauf und Sulfate, die aus dem dreckigen Neckarwasser über seit 2013 auftretende Leckagen in den Dampfkreislauf gelagen. Die Sauerstoffeinspeisung geschah mit Billigung von Aufsichtsbehörde und Sachverständigen, die Kondensator-Leckagen sind offenbar ebenfalls seit Jahren bekannt. Die dadurch hervorgerufenen Gefahren jedoch hatte keine*r der für die Sicherheit des AKW Zuständigen im Blick.

Blinde Messonde

Bei den Untersuchungen der Rohre im Herbst 2018 unterläuft Prüfer*innen, Aufseher*innen, Betreiber und Sachverständigen der nächste Fauxpas: Niemand kommt auf den Gedanken, dass die als Ursache der Korrosion benannten Ablagerungen von Eisenoxiden und Sulfaten am unteren Ende der Rohre unter Umständen auch die Messsignale der zur Untersuchung der Rohre eingesetzten Sonden verfälschen. Genau das aber ist der Fall: Die Störsignale der Ablagerungen überlagern in zahlreichen Fällen die Riss-Signale – und das genau an der Stelle, wo die Risse auftreten, nämlich am unteren Ende der Rohre.

Betreiber, Sachverständige und Behörden erliegen somit erneut einer gravierenden Fehlannahme. Sie alle gehen davon aus – und bestätigen das in ihren Testaten – dass nach Untersuchung aller Rohre auch alle Risse entdeckt und somit alle rissigen Rohre verschlossen wurden. Der angeblich „rissfreie“ Zustand des Reaktors ist Voraussetzung für die Wiederinbetriebnahmegenehmigung und eine der Grundlagen des angeblichen „Integritätsnachweises“ der Rohre für den bevorstehenden Betriebszyklus. „Die defekten Heizrohre sind verschlossen und nicht mehr in Betrieb“, begründet Umweltminister Untersteller damals seine Zustimmung zum Wiederanfahren des Reaktors. Wie wir heute wissen, war dieser alles andere als rissfrei. In dem Zustand, in dem das AKW Neckarwestheim‑2 im November 2018 tatsächlich war, hätte es nach den von der Behörde, den Sachverständigenorganisationen und der Reaktorsicherheitskommission selbst gesetzten Maßstäben niemals ans Netz gehen dürfen.

Der Fehler fällt erst Monate später auf. Infolge der Rissfunde in Neckarwestheim hat das Bundesumweltministerium verstärkte Risskontrollen auch in allen anderen AKW gefordert. Bei Untersuchungen der Dampferzeuger im AKW Lingen/Emsland schöpft der mit den Prüfungen betraute AKW-Hersteller Framatome Verdacht. Eine daraufhin eingesetzte weitere Sonde weist dort schließlich einen zuvor unentdeckten Riss nach, der 58 Prozent der Wandstärke bereits durchdrungen hat. In der Folge kommt diese Sonde auch in Neckarwestheim‑2 zum Einsatz – und wird fündig. 95 der 209 im Sommer 2019 entdeckten Risse waren demnach schon 2018 vorhanden, wurden aber übersehen. EnBW verkauft diesen Skandal als Fortschritt bei der Messtechnik.

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Foto: Julian Rettig

Atomaufsicht und Gutachter*innen verlieren über ihre Fehlannahmen 2018 kein einziges Wort. Dafür halten sie an einer weiteren Annahme fest: Der nämlich, dass ein Riss in einem der Rohre sowohl beim Weiterwachsen als auch unter Belastung zwingend immer zuerst ein Leck verursache, das Rohr also nicht einfach abreiße. Ein Leck jedoch, so die Argumentation, könne zeitnah detektiert werden, der Reaktor müsse dann – eine Auflage seit 2018 – umgehend herunterfahren. Untersuchungen der Materialprüfungsanstalt Stuttgart an Original Dampferzeuger-Heizrohren, wie sie auch im AKW Neckarwestheim‑2 verbaut sind, kamen allerdings zu einem anderen Ergebnis: Ein Leck bildete sich nur, wenn der Riss längs zur Rohrachse verlief. Bei umlaufenden Kerben, wie sie die Risse in Neckarwestheim verursachen, brach das Rohr unter Belastung spontan ab.

Grüne halten an AKW-Betrieb fest

Würden Risse wie in Neckarwestheim in einem ausländischen AKW, etwa in Tihange auftreten, wäre die Aufregung quer durch alle Parteien groß. In Neckarwestheim hingegen akzeptiert die Politik das Atom-Risiko – sogar die grün geführte Landesregierung. EnBW ist de facto ein Staatskonzern, das Land Baden-Württemberg Hauptanteilseigner. Der frühere CDU-Ministerpräsident Mappus brauchte nach Fukushima ganze vier Tage, um mit dem damaligen EnBW-Chef das endgültige Aus des AKW Neckarwestheim‑1 zu vereinbaren, für dessen Laufzeitverlängerung der Konzern zuvor jahrelang gekämpft hatte; der Meiler ging nie wieder ans Netz. Die baden-württembergischen Grünen hingegen, hervorgegangen aus den Anti-Atom-Protesten in Whyl und anderswo, und ihr Regierungspersonal halten seit mehr als acht Jahren am Weiterbetrieb der AKW Neckarwestheim‑2 (und Philippsburg‑2) fest. Ein schwerer Atomunfall in Neckarwestheim, so urteilte 2018 der Leiter der baden-württembergischen Atomaufsicht in der Debatte über die Risse, sei „vollkommen unwahrscheinlich“. Das jedenfalls war die Annahme.

Armin Simon

Dieser Artikel erschien ursprünglich im .ausgestrahlt-Magazin Nr. 45 (Oktober 2019)
 

Von Rissen wissen

Gefährliche Risse in den Heizrohren der Dampferzeuger des AKW Neckarwestheim sorgen im Herbst 2018 für Schlagzeilen und für einen Disput zwischen .ausgestrahlt und der Atomaufsicht in Stuttgart, die den Reaktor trotz allem wieder ans Netz lässt. Ein Sachstand

Mehr als hundert von heißem radioaktivem Wasser durchströmte und unter hohem Druck stehende Heizrohre in den Dampferzeugern des AKW Neckarwestheim‑2 weisen teilweise tiefgehende Risse auf. Die Risse, die unvorhersehbar und schnell wachsen können, haben an einzelnen Stellen schon bis zu 91 Prozent der Rohrwand durchdrungen, das Metall ist dort nur noch 0,1 Millimeter dick. Als .ausgestrahlt diese Informationen aus dem Umweltministerium im Oktober öffentlich macht, ist die Aufregung groß. Denn der Abriss eines oder mehrerer der rund 16.000 Heizrohre, schreibt Reaktorsicherheitsexperte Manfred Mertins in einer Stellungnahme für .ausgestrahlt, kann bereits einen schwerwiegenden, unter Umständen sogar auslegungsüberschreitenden Störfall auslösen. Davor hatte – unter Verweis auf ein weiteres mögliches Unfallszenario – auch der ehemalige Betriebsleiter des AKW Biblis‑B, Helmut Mayer, im .ausgestrahlt-Magazin Nr. 41 gewarnt.

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Foto: Stefan Mayer Projektion am AKW Neckarwestheim im Oktober 2018

In den vier Dampferzeugern des AKW strömt das mehr als 300 Grad heiße radioaktive Wasser des Primärkreislaufs, das aus dem Reaktorkern kommt, durch jeweils 4.000 etwa 13 Meter lange, u-förmig gebogene Rohre, die sogenannten Heizrohre. Diese geben die enorme Hitze an das sie umströmende Wasser des Sekundärkreislaufs ab, das dabei verdampft; der unter hohem Druck stehende Dampf treibt schließlich die Turbinen, diese wiederum die Generatoren an – fertig ist der Atomstrom.

In seiner eigenen Mitteilung hatte das Umweltministerium zunächst nur von einer „größeren Anzahl“, EnBW sogar nur von „einzelnen“ betroffenen Heizrohren gesprochen. Weder EnBW noch die Atomaufsicht hatten zudem darauf hingewiesen, dass es sich bei den Rissen um die besonders gefährliche Spannungsrisskorrosion handelt (dazu unten mehr), noch hatten sie erwähnt, dass neben den Rissen auch muldenförmige Korrosionen an den Heizrohren aufgetreten sind.
Letzteres ist deswegen beachtlich, weil EnBW bereits während der Revision im Herbst 2017 „muldenförmige Vertiefungen“ an der Außenseite von 32 Heizrohren des Dampferzeugers Nr. 10 melden musste (der ebenfalls stichprobenweise untersuchte Dampferzeuger Nr. 30 war ohne Befund). Die damals in Absprache mit der Atomaufsicht eingeleiteten Gegenmaßnahmen konnten den Schadensmechanismus aber offensichtlich nicht abstellen: Im Laufe des
Betriebszyklus 2017/2018 vergrößerten sich bereits vorhandene Befunde, neue kamen hinzu.

Gefährliche Fehleinschätzungen

Die dem grünen Umweltminister Untersteller unterstehende Atomaufsicht in Stuttgart nahm die Wanddickenschwächungen 2017 auch nicht zum Anlass, sofort alle vier Dampferzeuger des AKW überprüfen zu lassen – andernfalls hätte EnBW den Reaktor nicht so schnell wieder in Betrieb nehmen können. Vielmehr ordnete sie eine Überprüfung der beiden anderen Dampferzeuger erst für die Revision 2018 an. Damit sei man bereits über die Anforderungen des kerntechnischen Regelwerks hinausgegangen, argumentiert die Behörde. Ohne dass die Ursache der Korrosion geklärt wäre, darf der Reaktor am 28. September 2017 schließlich wieder ans Netz. Lochkorrosion allerdings, das teilt die Behörde damals auf Anfrage mit, sei an den Heizrohren schon aus physikalisch-chemischen Gründen unmöglich.

Inzwischen ist klar, dass diese Einschätzung falsch war: Bei den muldenförmigen Vertiefungen handelte und handelt es sich um Lochkorrosion. Was sowohl EnBW als auch die Aufsichtsbehörde hätte stutzig machen müssen. Denn die Heizrohre in den Dampferzeugern sind aus einem eigentlich besonders korrosionsbeständigen Material gefertigt. Korrodiert dieses trotzdem, ist das ein Hinweis darauf, dass die schützende chromhaltige Schicht an der Oberfläche stellenweise beschädigt ist.

An dieser Stelle kommen die oben erwähnten und weitaus gefährlicheren Risse ins Spiel: Denn an den beschädigten Oberflächen können sich Sulfite und Chloride aus dem Wasser des Sekundärkreislaufs absetzen. Damit wiederum sind an den herstellungsbedingt unter Zugspannungen stehenden Heizrohren die Voraussetzungen für Spannungsrisskorrosion gegeben – die Ursache der 2018 schließlich entdeckten 101 Risse.

Spannungsrisskorrosion sagt die Materialwissenschaftlerin Ilse Tweer, die sich lange mit dem Phänomen beschäftigt hat, sei deshalb so gefährlich, weil man sie „nicht vorhersagen“ könne. Lägen die entsprechenden Randbedingungen vor, könnten solche Risse unerwartet auftreten und unvorhersehbar schnell fortschreiten.

Wann genau die Risse im AKW Neckarwestheim‑2 entstanden und in welchem Tempo sie gewachsen sind, ist unbekannt: Die betroffenen Dampferzeuger Nr. 20 und 40 waren zuletzt 2014 und auch damals nur stichprobenweise kontrolliert worden. Die Reaktorsicherheitskommission hält nach Erfahrungen in anderen AKW fest, dass bei Spannungsrisskorrosion schon innerhalb von 1,5 bis 2 Jahren „mit einem wanddurchdringenden Riss gerechnet werden müsse“.

Dass sich überhaupt so viele korrosive Substanzen im Wasser des Sekundärkreislaufs befinden, ist, wie auf Nachfrage von .ausgestrahlt herauskommt, wiederum auf Fehleinschätzungen von Betreiber und Aufsichtsbehörde zurückzuführen. So gibt es im AKW Neckarwestheim‑2 offenbar erstens seit vielen Jahren Lecks in den Kondensator-Rohren, durch die zur Kühlung genutztes sulfathaltiges Neckarwasser in den Sekundärkreislauf eindringt. Zweitens speist EnBW, und zwar mit Billigung der Aufsichtsbehörde, seit 2010 absichtlich Sauerstoff in das Wasser des Sekundärkreislaufs ein, um Ablagerungen in den Zwischenüberhitzern zu bekämpfen. Wie der TÜV jetzt in einer Stellungnahme festhielt, führte diese Sauerstoffdosierung allerdings auch dazu, dass sich vermehrt Eisenoxid bildete. Die Rostpartikel lagerten sich unter anderem an den Enden der Dampferzeuger-Heizrohre ab, wo sie wie ein Schwamm für im Wasser enthaltene Chloride und Sulfate wirkten und so besonders korrosive Bedingungen schufen. Acht Jahre lang hatte diese Gefahr offenbar niemand auf dem Schirm.

Weitere Risse nicht ausgeschlossen

Nach Entdeckung der Risse stoppte EnBW notgedrungen die Sauerstoffeinspeisung wieder und dichtete die Kondensator-Leckagen teilweise ab. Zudem bemühte sich der Konzern, mit Spülungen möglichst viel der korrosionsfördernden Ablagerungen an den Enden der Heizrohre zu entfernen. Nach Aussage des TÜV können all diese Maßnahmen eine weitere Spannungsrisskorrosion aber „nicht ausschließen“. Auch die Atomaufsicht hält in ihrem abschließenden Bericht weitere Risse, selbst wanddurchdringend, für möglich.

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Reaktorsicherheitsexperten Manfred Mertins forderte .ausgestrahlt am 6. November, den Reaktor nicht wieder ans Netz zu lassen, „solange das Auftreten weiterer schnell wachsender Risse in den Dampferzeugern nicht hundertprozentig ausgeschlossen ist“. Die baden-württembergische Atomaufsicht, kurz davor, dem Wiederanfahren des Reaktors zuzustimmen, zeigte sich darüber not amused. Mit Blick auf die entdeckten Risse vor der Gefahr eines schweren Störfalls in Neckarwestheim zu warnen, sei unseriös, warf der Leiter der Atomaufsicht, Gerrit Niehaus, .ausgestrahlt öffentlich vor. EnBW, argumentiert er, habe die rissigen Rohre verschlossen und Maßnahmen getroffen, die die Gefahr weiterer Korrosionen verringern sollen. Es sei daher davon auszugehen, dass zumindest bis zur nächsten Revision kein Heizrohr leck schlage. Für den Fall, dass es doch dazu komme, habe man EnBW auferlegt, den Reaktor sofort abzufahren, damit das Leck sich nicht zum Bruch ausweiten könne. Rechtlich seien somit alle Voraussetzungen erfüllt, den Reaktor für zunächst neun Monate wieder in Betrieb zu nehmen. Die von Mertins in seiner Expertise beschriebenen Szenarien, so Niehaus, seien zwar möglich, in Neckarwestheim aber sehr „unwahrscheinlich“.
Das jedoch gilt für so ziemlich jedes Szenario, welches bisher zu einem Atomunfall geführt hat.

Armin Simon

FAQ

Rissige Rohre

Fragen und Antworten zur Korrosion der Dampferzeuger-Heizrohre im AKW Neckarwestheim‑2 und zu den möglichen Folgen eines Dampferzeuger-Heizrohrlecks

Untersuchungen im AKW Neckarwestheim‑2 haben im Juni 2020 zum vierten Mal in Folge Schäden in den Dampferzeugern aufgedeckt. Mehr als 300 Rohre weisen zum Teil tiefgehende und lange Risse auf. Die Ursache ist bis heute nicht behoben. Damit besteht die akute Gefahr, dass weitere Risse entstehen und Rohre spontan abreißen. Expert*innen warnen, dass ein solcher Bruch einen Störfall bis hin zur Kernschmelze auslösen könnte.

Stand: 04.03.2021

 

Fragen zu Dampferzeuger-Heizrohrlecks allgemein
  • Dampferzeuger sind gigantische Wasserkocher und ein sicherheitstechnisch entscheidendes Bauteil von Druckwasserreaktoren wie Neckarwestheim‑2. Sie übertragen die Hitze des radioaktiven Reaktorkreislaufs an den nicht-radioaktiven Wasser-Dampf-Kreislauf. In den Dampferzeugern strömt das mehr als 300 Grad heiße, radioaktive Kühlwasser aus dem Reaktorkern mit einem Druck von ca. 160 bar durch gut 4.000 fingerdicke, u-förmig gebogene Heizrohre. An ihrer Außenseite fließt das nicht-radioaktive Wasser des Sekundärkreislaufs vorbei, das die Hitze aufnimmt und dabei – weil der Druck im Sekundärkreis mit 65 bar deutlich niedriger ist – verdampft. Dieser Dampf treibt dann die Turbinen an, die wiederum den Generator in Bewegung setzen, der den Strom erzeugt.
    Mit Ausnahme von Gundremmingen C sind alle noch laufenden AKW in Deutschland Druckwasserreaktoren und haben jeweils vier Dampferzeuger.

  • Die Heizrohre sind Teil der druckführenden Umschließung, die den radioaktiven vom nicht-radioaktiven Teil des Reaktors trennt, und damit eine der sicherheitstechnisch entscheidenden Barrieren gegen den Austritt von Radioaktivität. Ein Leck eines Heizrohrs ist ein Leck im Primärkreislauf und damit ein Kühlmittelverluststörfall.

  • Das heiße, radioaktive und unter hohem Druck stehende Wasser des Reaktorkreislaufs schießt durch das Leck in den Sekundärkreislauf. Der Druck im Dampferzeuger steigt dadurch schnell an. Die Betriebsmannschaft muss den Druck im Reaktor schnell herunterfahren, um ein weiteres Ausströmen von radioaktivem Kühlwasser zu verhindern. Unter anderem aufgrund der dafür nötigen komplizierten und fehleranfälligen Prozeduren gilt ein Dampferzeugerheizrohrleck als kompliziertester aller Kühlmittelverluststörfälle. Als Folge der bei einem solchen Störfall ausgelösten Reaktorschnellabschaltung und Turbinenschnellabschaltung kann es zudem zum Notstromfall kommen. Die Hauptkühlmittelpumpen könnten dann nicht mehr betrieben werden, was weitere Probleme und Risiken nach sich zieht.

  • Steigt der Druck im Dampferzeuger – auf der Außenseite der Heizrohre, also im Sekundärkreis – aufgrund des hereindrückenden Reaktorwassers von den ursprünglichen 65 bar auf mehr als 88 bar an, öffnen die Sicherheitsventile des Dampferzeugers, um dessen Explosion zu verhindern. Der radioaktive Dampf wird dann ungehindert in die Umgebung abgeblasen. Dies kann schon beim Abriss eines einzigen Heizrohrs passieren.
    Ist mehr als ein Heizrohr beschädigt, kann entsprechend mehr Reaktorwasser in den Sekundärkreislauf strömen und der Druck im Dampferzeuger steigt entsprechend schneller an. Ein Ansprechen der Sicherheitsventile ist dann kaum noch zu verhindern – der Störfall wird zu einem der gefürchteten „Bypass-Ereignisse“. Selbst eine Kernschmelze ist dann nicht mehr ausgeschlossen.

     

  • Bei einem „Bypass-Ereignis“ besteht eine direkte Verbindung vom Reaktorkern in die Umwelt – ein Bypass des Sicherheitsbehälters also. Damit kann Radioaktivität ungehindert in die Umgebung entweichen. Zugleich kann der Reaktor über einen solchen Bypass große Mengen seines Kühlwassers verlieren, so dass die Kühlung der Brennelemente im Reaktorkern nicht mehr sicher gewährleistet ist. Beschädigungen der Brennstäbe bis hin zu einer Kernschmelze sind dann möglich.

  • Ja – allerdings nur gegen den Abriss eines einzigen Heizrohrs (Leckquerschnitt ≤ 2 F). Bei einem größeren Leck (Leckquerschnitt > 2 F), etwa weil mehrere Rohre reißen, ist der Störfall auslegungsüberschreitend.
    Auch ein Auslegungsstörfall kann sich jederzeit zu einem auslegungsüberschreitenden Störfall entwickeln – etwa, wenn das umherschlagende erste beschädigte Rohr oder das daraus mit hohem Druck ausströmende Wasser weitere Rohre beschädigt oder es nicht gelingt, den Druck im Primärkreislauf schnell genug zu senken.
    Betreiber und Aufsichtsbehörde dürfen auch einen Auslegungsstörfall nicht billigend in Kauf nehmen. Gemäß Atomgesetz und Strahlenschutzverordnung müssen sie vielmehr dafür Sorge tragen, dass ein solcher Störfall sicher nicht eintritt.

  • Dafür gibt es viele Möglichkeiten, unter anderem:

    • An mehreren Dampferzeuger-Heizrohren kann es aufgrund von Korrosionsmechanismen gleichzeitig zu einem Leck kommen.

    • Mehrere Verschlussstopfen beschädigter Heizrohre können sich gleichzeitig lösen.

    • Das Leck eines Heizrohrs kann zu Folgeschäden an benachbarten Heizrohren führen, etwa durch nach einem Heizrohrbruch umherschlagende lose Rohrenden oder unter hohem Druck austretendes Wasser. Solche Folgeschäden sind insbesondere zu befürchten, wenn die Nachbarrohre bereits vorgeschädigt sind, etwa durch Risse oder Lochkorrosion.

    • Störfälle wie Lecks und Brüche im Speisewasser- und Frischdampfbereich können zu extremen Belastungen führen, die Schäden an den Dampferzeuger-Heizrohren zur Folge haben. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Heizrohre bereits vorgeschädigt sind, etwa durch Risse oder Lochkorrosion.

    Mehr Informationen in der fachlichen Stellungnahme des Reaktorsicherheitsexperten Manfred Mertins zu „Risiken betrieblich bedingter Brüche von Dampferzeuger-Heizrohren infolge Spannungsrisskorrosion“.

  • Bei dem nach einem Dampferzeuger-Heizrohrleck erforderlichen Absenken des Reaktordrucks kann es passieren, dass der Druck im Reaktorkreislauf unter den im Sekundärkreislauf fällt. Dann kann kaltes, nicht boriertes Wasser aus dem Sekundärkreislauf in den Primärkreislauf fließen. Fallen die Hauptkühlmittelpumpen aus – was durchaus passieren kann – könnte sich dieses Wasser im Pumpenbogen vor dem Reaktordruckbehälter sammeln. Würde dieser Wasserpfropfen auf einen Schlag in den Reaktorkern gespült, hätte dies einen Leistungsblitz, also ein schnelles Ansteigen der Reaktorleistung, zur Folge. Dieses von einem ehemaligen Betriebsleiter des AKW Biblis‑B beschriebene Szenario stellt einen weiteren infolge eines Heizrohrlecks möglichen Störfall dar. Mehr Informationen im Experten-Interview mit Helmut Mayer.

Fragen zu den Schäden an den Dampferzeuger-Heizrohren im AKW Neckarwestheim‑2
  • Schlecht. Bei der Untersuchung aller Heizrohre in allen vier Dampferzeugern im September 2018 wiesen nach Angaben des Umweltministeriums 101 Heizrohre an der Außenseite Risse auf. Bei der nächsten Untersuchung im August 2019 fielen „sicherheitstechnische relevante“ Risse an weiteren 191 Heizrohren auf. Die 2018 endeckten Risse hatten die nur 1,2 Millimeter dicken Rohrwände schon bis zu 91 Prozent durchdrungen; die Wände waren also stellenweise nur noch 0,1 Millimeter stark. Bei den 2019 entdeckten Rissen betrug die Wanddickenschwächung bis zu 70 Prozent. In der Revision 2020 sind insgesamt sieben neue Risse entdeckt worden, 2021 dann 17 neue und 2022 36 neue. Weitere Risse wurden mutmaßlich übersehen, weil EnBW 2022 nur ein grobes Prüfverfahren angewendet hat. Seit 2020 treten die Risse auch an den zuvor nicht betroffenene „kalten“ Rohrenden („cold leg“) auf.

    Darüber hinaus waren bereits 2017 volumenartige Befunde (Löcher, Mulden, …) an 32 Heizrohren entdeckt worden, mit Wanddickenschwächungen von bis zu 61 Prozent. Bei Untersuchungen im Herbst 2018 fanden sich solche Schäden an weiteren 23, im Herbst 2019 an weiteren 67 und 2020 nochmals an 19 weiteren Rohren bzw. Rohrenden. Auch dies beweist, dass die Korrosion in den Dampferzeugern trotz aller Gegenmaßnahmen weiter voranschreitet.

  • Nach Angaben des Umweltministeriums wurden im Zuge der Revision des AKW im Herbst 2017 die Heizrohre in zwei der vier Dampferzeuger (Nr. 10 und Nr. 30) stichprobenweise (20 Prozent der Heizrohre) auf voller Länge kontrolliert. Dabei fielen in einem der beiden Dampferzeuger volumenartige Korrosionen auf.

  • Nein. Nur in dem einen Dampferzeuger, bei dessen stichprobenweiser Kontrolle im Herbst 2017 Schäden entdeckt worden waren, wurden daraufhin alle Heizrohre überprüft. Dampferzeuger Nr. 20 und 40 blieben 2017 sogar komplett unkontrolliert.

  • Nein. Die Atomaufsicht schloss 2017 Lochkorrosion als Ursache der Schäden vielmehr kategorisch aus – aufgrund der überwachten Wasserqualität im Sekundärkreislauf und der hoch korrosionsfesten Nickel-Chrom-Eisen-Legierung der Heizrohre trete Lochkorrosion an Dampferzeugerheizrohren „grundsätzlich nicht auf“. Diese Annahme war, wie die Behörde ein Jahr später einräumte, offensichtlich falsch.

  • EnBW musste 14 Heizrohre, die eine Wanddickenschwächung von mehr als 30 Prozent aufwiesen, mit einem Stopfen verschließen und damit außer Betrieb nehmen. Der AKW-Betreiber sollte daneben Verschmutzungen des Wassers im Sekundärkreislauf minimieren – diese Verschmutzungen galten als mutmaßlicher Auslöser der Korrosion. Außerdem ordnete die Behörde für die Revision 2018, also ein Jahr später, eine 100-Prozent-Kontrolle aller Heizrohre in allen vier Dampferzeugern an.

  • Nein.

    Das Umweltministerium erteilte EnBW vielmehr am 27.09.2017 die Genehmigung zum Wiederanfahren des Reaktors, ohne die Ursache der Korrosion zu kennen. Einen Monat später gestand es ein: „Die genaue Ursache für die erkannten Wanddickenschwächungen ist aktuell noch in Klärung.“ Dieser Blindflug hatte fatale Folgen: Weil die Atomaufseher*innen Lochkorrosion als Ursache zunächst ausschlossen, kamen sie erst gar nicht auf die Idee, dass die Heizrohre zusätzlich auch durch weitaus gefährlichere Spannungsrisskorrosion geschädigt sein könnten, welche dieselben chemischen Ursachen wie Lochkorrosion hat. Die aller Wahrscheinlichkeit nach schon 2017 vorhandenen Risse konnten so ein ganzes Jahr lang unbemerkt weiter wachsen und entstehen.

  • Nach Darstellung des Umweltministeriums waren sie „sicherheitsgerichtet und zielführend“. Expert*innen hingegen wundern sich, warum die Behörde nach den ersten Korrosionsfunden nicht sofort alle Heizrohre aller Dampferzeuger überprüfen ließ.

    Die Maßnahmen, die weitere Heizrohrschäden vermeiden sollten, verfehlten zudem ihre Wirkung. Die Untersuchungen im Herbst 2018 wiesen allein an den bereits 2017 überprüften Dampferzeugern Nr. 10 und Nr. 30 insgesamt 17 neue volumenartige Befunde nach. Zudem waren bereits 2017 entdeckte Löcher und Mulden weiter gewachsen.

    An den 2017 trotz der Korrosionsfunde nicht betrachteten Dampferzeugern Nr. 20 und Nr. 40 kamen 2018 die oben erwähnten Risse an 101 Heizrohren sowie volumenartige Befunde an sechs Heizrohren zum Vorschein. Wann diese Schäden entstanden sind, ist unbekannt. Angesichts der Tatsache, dass die Risse bereits bis zu 91 Prozent der Wandstärke durchdrungen hatten, kann man es nur als Zufall ansehen, dass es in den zurückliegenden Monaten oder Jahren nicht zu einem Heizrohrleck gekommen ist.

  • Bei den Löchern und Mulden geht sie inzwischen – anders als noch 2017 – von „Lochkorrosion“ aus. Die Risse sind nach Angaben des Ministeriums durch Spannungsrisskorrosion entstanden.

  • Spannungsrisskorrosion bezeichnet eine spezielle Form der Rissbildung in unter Spannung stehenden Werkstoffen. Damit sie auftritt, müssen drei Bedingungen erfüllt sein:

    •     Der Werkstoff muss empfindlich gegen Spannungsrisskorrosion sein,

    •     Zugspannungen müssen vorliegen,

    •     ein spezifisches Angriffsmittel – etwa Chloride – muss vorhanden sein.

    Alle diese Bedingungen sind bei den Dampferzeuger-Heizrohren gegeben.
    Die entsprechenden Randbedingungen vorausgesetzt tritt Spannungsrisskorrosion unvorhersehbar auf und die entstehenden Risse können sehr schnell wachsen. Das macht sie so gefährlich.

  • Das weiß weder EnBW noch die Atomaufsicht. Die betroffenen Dampferzeuger wurden nach übereinstimmenden Angaben von EnBW und Atomaufsicht zuletzt 2014 stichprobenartig kontrolliert – ohne Befund.

  • Auch das kann niemand sagen. Die Risse können sich irgendwann im Laufe der Jahre durch die Rohre gefressen haben, vielleicht auch erst in den vergangenen Monaten. Wenn die Hypothese von EnBW stimmt, dass korrosionsfördernde Inhaltsstoffe des Sekundärkreislaufes die Risse ermöglichten, könnten diese schon ab 2010 oder 2013 entstanden sein; 2010 begann EnBW, Sauerstoff in den Dampfkreislauf des Reaktors einzuspeisen, ab 2013 sind Leckagen im Kondensator nachgewiesen, durch die insbesondere Sulfate eindringen konnten. Ob die Risse allerdings Jahre oder doch nur nur Wochen brauchten, um die Rohrwand fast komplett zu durchdringen, ist ungeklärt. Spannungsrisskorrosion tritt bei entsprechenden Voraussetzungen spontan auf und schreitet unvorhersehbar schnell voran – mitunter sehr schnell.

  • Die Atomaufsicht behauptete, EnBW habe alle rissigen Rohre verstopft und so außer Betrieb genommen. Zudem habe EnBW mit der Reinigung der Dampferzeuger, der Abdichtung von Kondensator-Lecks und dem Stopp der 2010 begonnenen Einspeisung von Sauerstoff in den Dampfkreislauf die Ursachen der Korrosion „so weit wie möglich“ abgestellt. Weitere Risse nennenswerter Größe und Tiefe seien damit „unwahrscheinlich“, so EnBW. Selbst wenn neue Risse auftreten würden, wären diese der Atomaufsicht zufolge unproblematisch, weil EnBW nachgewiesen habe, dass ein spontaner Bruch der Heizrohre ausgeschlossen sei. Vielmehr würden die Risse in jedem Fall zunächst ein Leck verursachen, welches man rechtzeitig detektieren könne, um den Reaktor noch sicher herunterzufahren, bevor es zu einem Rohrbruch komme. Entsprechenden Auflagen habe EnBW zugestimmt. Damit sei der nötige „Integritätsnachweis“ der Heizrohre zumindest für den nur neunmonatigen nächsten Betriebszyklus erbracht.

  • Nein. Wie schon 2017 verfehlten die Maßnahmen ihr Ziel. Bei den Kontrollen 2019 tauchten weitere 191 Rohre mit Rissen sowie etliche lochkorrodierte Rohre auf. Auch bei den 2020 und 2021 durchgeführten Kontrollen wurden jedes mal neue Risse und neue bzw. fortschreitende Fälle von Lochkorrosion nachgewiesen. Die Zahl der neu entstandenen Risse stiegt dabei 2021 wieder deutlich an. Erstmals traten dabei auch Risse an den bisher rissfreien "kalten" Enden der Rohre auf.

  • Nein.

    Etwa die Hälfte (ca. 95) der 2019 neu entdeckten Risse war nach Angaben des Umweltministeriums schon 2018 vorhanden, ist damals aber schlicht nicht entdeckt worden. Keinem der mit den Untersuchungen in Neckarwestheim beschäftigten Expert*innen war aufgefallen, dass die verwendete Messsonde im unteren Bereich der Rohre – also genau dort, wo die Risse aufgetreten sind – gar nicht alle Risse erkennen kann. Dies fiel erst im Sommer 2019 bei Untersuchungen im AKW Lingen/Emsland auf. Das AKW Neckarwestheim ist deshalb, wie wir heute wissen, im November 2018 mit Zustimmung des grünen Umweltministers mit ca. 95 rissigen Rohren in Betrieb gegangen.

  • Nein. Die Heizrohre in den Dampferzeugern sind durch den jahrelangen Korrosionsangriff vorgeschädigt. Zudem haben sich korrosionsauslösende Substanzen in feinen Spalten festgesetzt, aus denen sie auch nicht mehr herauszubekommen sind. Allen Gegenmaßnahmen zum Trotz ist der Korrosionsmechanismus daher weiterhin wirksam. Neue Risse können jederzeit entstehen und sich durch die Rohre fressen. Das räumen sowohl der TÜV als auch das Umweltministerium ein.

    Eine Prognose, wann wie viele Risse neu entstehen und mit welcher Geschwindigkeit sie wachsen, ist bei Spannungsrisskorrosion nicht möglich. Das hat die Reaktorsicherheitskommission im November 2019 – nach dem erneuten Wiederanfahren des Reaktors – explizit festgehalte

  • Nein. Zwei vom Ministerium selbst in Auftrag gegebene Gutachten bestätigen beide, dass kein Nachweis vorliegt, der sicher ausschließen würde, das ein durch die in Neckarwestheim auftretenden Risse (Spannungsrisskorrosion) geschädigtes Dampferzeuger-Heizrohr auch ohne jede Vorwarnung brechen, abreißen oder bersten kann. Der eine Gutachter – das Physikerbüro Bremen – hält zudem fest, dass ein solcher Nachweis „rechnerisch nicht möglich“ ist. Nach den von EnBW selbst angestellten Berechnungen kann je nach Rissgröße schon eine einfache Betriebsstörung einen solchen Störfall auslösen.

Aktuelle Pressemitteilungen zum Thema:

Weiterlesen:

  • Artikel "Der unerkannte Störfall" vom 07.05.2021: Der ehemalige Chef-Atomaufseher im Bundesumweltministerium Dieter Majer fordert, das AKW Neckarwestheim‑2 sofort vom Netz zu nehmen: Nach allen vorliegenden Unterlagen bestehe die akute Gefahr eines schweren Atomunfalls. Die 2018 erstmals entdeckten Risse seien aufgrund der besonderen sicherheitstechnischen Bedeutung sogar als INES-2-Ereignis einzustufen, offiziell: „Störfall“.
  • Artikel "Im roten Bereich" vom 05.02.2021: Eine Berechnung der Materialprüfungsanstalt Stuttgart zeigt: Mindestens vier der Riss-Rohre im AKW Neckarwestheim waren schon so stark geschädigt, dass ihr Versagen unter Störfallbedingungen nicht auszuschließen war – und das völlig unbemerkt.
  • Interview mit Reaktorsicherheitsexperte Manfred Mertins über die immer neuen Risse im AKW Neckarwestheim‑2 und das bisherige Verhalten von EnBW und Atomaufsicht.
  • Antrag an das Umweltministerium Baden-Württemberg: Weiterbetrieb des AKW Neckarwestheim II mit irreversiben geschädigten bzw. vorgeschädigten Dampferzeugern untersagen
  • Mehr Informationen in der fachlichen Stellungnahme des Reaktorsicherheitsexperten Manfred Mertins zu „Risiken betrieblich bedingter Brüche von Dampferzeuger-Heizrohre infolge von Spannungskorrosion“