Das Glas vollmachen

25.02.2019 | Jochen Stay

Noch fast vier Jahre bis zum angekündigten Atomausstieg: Das ist einerseits ein großer Erfolg der Anti-Atom-Bewegung, andererseits eine gefährliche Beruhigungspille. Und jedenfalls kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen

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Foto: Karin Behr / PubliXviewinG
250.000 Menschen gehen am 26.3.2011, zwei Wochen nach Beginn der Atomkatastrophe von Fukushima, auf die Straße. Acht AKW gehen für immer vom Netz.

Für uns Atomkraftgegner*innen ist es nicht immer leicht, Erfolge und Herausforderungen in einem guten Maß abzuwägen. Wer nur die Erfolge sieht, ist für die Gefahren der Gegenwart und Zukunft blind. Wer nur die Herausforderungen sieht, kann aus den Teil-Erfolgen keine Energie für sein weiteres Engagement ziehen. Deshalb werfe ich hier einen Blick auf beide Seiten:

Das Glas ist halb voll: Die Anti-Atom-Bewegung hat hierzulande eine Menge erreicht. So waren ursprünglich deutlich mehr Reaktoren in Deutschland geplant, als dann wirklich gebaut wurden. Die Proteste haben also schon vielen Projekten vor Baubeginn ein Ende bereitet. Schon seit 1982, also bereits deutlich vor Tschernobyl, hat es kein Unternehmen mehr gewagt, den Bau eines Atomkraftwerks zu beginnen. Der letzte Meiler ging am 29.Dezember 1988 in Neckarwestheim in Betrieb.
Seither nimmt die Zahl der laufenden Reaktoren langsam ab. Selbst die Merkel’sche Laufzeitverlängerung von 2010 machten massive Proteste nach Fukushima wieder rückgängig. Zwar ist der Ausbau der Atomkraft auch in den meisten anderen europäischen Ländern – falls sie überhaupt jemals darauf setzten – gestoppt (siehe Grafik auf Seite 24). Doch Deutschland wird 2023 – nach Italien 1990 und Litauen 2009 – erst das dritte europäische Atom-Land sein, das alle seine AKW abgeschaltet hat – wenn es denn beim angekündigten Abschalt-Datum bleibt.

Das Glas ist halb leer: Seit die rot-grüne Bundesregierung 2001 das Abkommen zum „Atomkonsens“ mit den AKW-Betreibern unterschrieben hat, sind 18 Jahre vergangen. In dieser Zeit wurden zwölf Reaktoren abgeschaltet; sieben jedoch laufen noch immer, und zwar die sieben größten und leistungsfähigsten Meiler. Deshalb wird auch heute noch fast halb so viel Atomstrom in Deutschland produziert wie Anfang des Jahrhunderts – und damit auch weiterhin tagtäglich große Mengen ewig strahlender Abfälle. Da die Kraftwerke älter und störanfälliger werden und die Betreiber nicht mehr groß in die Sicherheit investieren, steigt das Risiko schwerer Störfälle immer mehr an. Ob das bis 2022 gut geht, wenn jeweils drei Reaktoren am Anfang und am Ende des Jahres abgeschaltet werden sollen, weiß niemand.
Dazu kommen die unbegrenzten Betriebsgenehmigungen für die Atomfabriken in Lingen und Gronau, die also auch nach dem Abschalten der deutschen AKW für den internationalen Markt weiter produzieren dürfen.

Das Risiko wächst

Weder durch den rot-grünen „Atomkonsens“ mit den Stromkonzernen 2001 noch durch den von Union, FDP, SPD und Grünen 2011 beschlossenen „halben Ausstieg“ nach Fukushima sind die weiter laufenden Atomkraftwerke weniger gefährlich geworden. Um das weiter bestehende Risiko zu verdeutlichen, benutze ich gerne einen Vergleich: Würde ein guter Freund mir seine Entscheidung verkünden, dass er Ende 2022 mit dem Rauchen aufhören möchte, dann würde ich ihn nicht beglückwünschen, sondern ihm sagen: „Hoffentlich erlebst Du das noch!“ Davon abgesehen, dass fast vier Jahre lang noch die Gefahr bestünde, dass er es sich doch noch einmal anders überlegt.
Ähnliches droht in Sachen Atomkraft: Wird der Kohleausstieg eingeleitet und der Strombedarf steigt, etwa durch den Ausbau von Elektromobilität und Wärmepumpen, könnten manche auf die Idee kommen, die Atomkraftwerke länger zu betreiben, statt die Erneuerbaren Energien konsequent auszubauen, kluge Speicher-Technologien weiterzuentwickeln und die Energieeffizienz zu steigern. Schon werden wieder erste Stimmen laut, die die vermeintlich saubere Atomkraft als Heilmittel gegen den Klimawandel propagieren. Apropos Heilmittel: Hätte ich bei einer Erkrankung die Wahl zwischen einem Medikament mit möglicherweise tödlichen Nebenwirkungen und einem mindestens genauso wirksamen ohne diese, dann wäre meine Entscheidung nicht schwer.
Aber ist denn überhaupt denkbar, dass sich die Bevölkerung hierzulande noch einmal längere AKW-Laufzeiten bieten lässt? Nun, wahrscheinlich würde die Regierung nicht von Laufzeitverlängerungen sprechen, sondern die Sprachregelung wäre: „Es bleibt beim Atomausstieg – er dauert nur ein bisschen länger“. Schon einmal, nach dem rot-grünen „Atomkonsens“, wiegten sich zu viele Atomkraftgegner*innen in Sicherheit, dass das Thema nun erledigt sei. So konnten die AKW-Betreiber gemeinsam mit Schwarz-Gelb 2010 das Abkommen kippen. Wir haben keine Garantie, dass Ähnliches nicht noch einmal versucht wird.

Atomausstieg jetzt!

Es gibt einen Weg, sowohl eine Debatte um Laufzeitverlängerungen zu verhindern als auch die Gefahren der Atomkraftwerke deutlich zu reduzieren. Dieser Weg lautet: Atomausstieg jetzt!
Leider steht es derzeit nicht gut um die gesellschaftlichen Kräfte, die sich gegen den Weiterbetrieb der alten Reaktoren stellen.
In der Bevölkerung, in den Medien und in den Parteien ist Atomkraft kaum ein Thema. Selbst Störfälle und Skandale führen nicht zu einem größeren Wiederaufflammen des Atom-Konflikts. Zwar wollen viele Menschen einen schnelleren Ausstieg als derzeit geplant. Aber je näher die angekündigten Abschaltdaten rücken, umso geringer wird die Motivation, sich aktiv für ein früheres Aus der Meiler einzusetzen.

Die aus der Anti-Atom-Bewegung entstandenen Grünen helfen beim Abschalten derzeit nicht weiter. Selbst die grünen Atomaufsichten in Baden-Württemberg, Niedersachsen (bis Ende 2017) und Schleswig-Holstein haben es in den vergangenen Jahren nicht geschafft, den dort laufenden AKW relevant Schwierigkeiten zu machen (kleine Ausnahme: Brokdorf stand ein halbes Jahr still).
Einige konfliktträchtige Atomthemen wie Brennelementesteuer, Schadenersatz für abgeschaltete AKW, Finanzierung der Atom-Folgekosten und das Suchverfahren für ein Atommüll-Lager wurden in den letzten zwei Jahren gesetzlich oder gerichtlich geregelt und damit politisch entschärft – obwohl die Probleme bleiben.

Der Konflikt um die Kohle überdeckt inzwischen das Atomthema. Vielen Akteur*innen aus der Umweltbewegung ist es derzeit wichtiger, den Kohleausstieg einzuleiten, als den Atomausstieg zu beschleunigen – obwohl beides parallel möglich wäre. Das alles zusammengenommen führt zu einem gefährlichen Vakuum, das diejenigen ausnutzen könnten, die weiter auf Atomkraft setzen. Um dem zu begegnen, setzt .ausgestrahlt auf Dich! Mit der Aussage „Ihr steigt schon mein ganzes Leben lang aus“ und der Forderung „Atomausstieg jetzt!“ wendet sich eine neue Generation an die Öffentlichkeit: Diejenigen, die schon ihr ganzes Leben lang einen „Atomausstieg“ versprochen bekommen. Sorge mit dafür, dass ihre Botschaft weite Kreise zieht! 

Mehr:

  • Mitmachaktion: Zora, Lenny, Pina und Kilian. Vier junge Menschen, eine Botschaft: "Ihr steigt schon mein ganzes Leben lang aus." Atomausstieg Jetzt! Unterstütze die vier mit ihrer Forderung, indem Du dafür sorgst, dass diese im ganzen Land sichtbar wird.
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  • Atomkraft ist kein Klimaretter - Die Diskussion um Klimawandel und Kohleausstieg bringt auch diejenigen wieder auf den Plan, die es für eine gute Idee halten, mit Atomkraftwerken das Klima zu retten. 
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Jochen Stay

Jochen Stay, Jahrgang 1965, ist seit seinem 15. Lebensjahr aktiv in außerparlamentarischen Bewegungen, seit Wackersdorf 1985 in der Anti-Atom Bewegung und seit 2008 Sprecher von .ausgestrahlt.

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