Alte AKW: Europa, Du hast ein Problem!

08.03.2019 | Jan Becker

Wissenschaftler haben festgestellt: Keiner der 125 Atomreaktoren in Europa würde nach den heutigen Sicherheitsstandards bei einem Neustart überhaupt eine Betriebserlaubnis erhalten.

AKW Beznau / Schweiz
Foto: Roland Zumbühl
Seit 45 Jahren in Betrieb: Das älteste AKW der Welt steht in der Schweiz

Fachleute der International Nuclear Risk Assessment Group (INRAG) haben unter Mitarbeit von 15 Top-Expert*innen aus sechs Ländern im Auftrag der „Allianz der Regionen für einen europaweiten Atomausstieg“ in den vergangenen Monaten die Bedeutung der Alterung von Atomkraftwerken, den Umgang mit den Risiken gealterter Anlagen und die geforderte kontinuierliche Erhöhung des Sicherheitsniveaus von Atomkraftwerken in Europa untersucht. Generell und anhand einzelner Fallbeispiele. Erstmals wurde so eine internationale Studie über die Risiken der Laufzeitverlängerungen alter Atomkraftwerke erstellt.

Kürzlich stellten Vertreter*innen der Allianz, die 2016 maßgeblich von den Grünen gegründet wurde und der auch mehrere deutsche Bundesländer angehören, in Brüssel erste Zwischenergebnisse der Studie vor. So wurde zum Beispiel ermittelt, dass die 125 Reaktoren ein Durchschnittsalter von 33,4 Jahren haben. Ein Drittel davon ist bereits 40 Jahre oder älter, keiner von ihnen ist jünger als zehn Jahre. Alternde Atomreaktoren sind sehr anfällig für Unfälle. Die Menschen in Europa sind diesen steigenden Risiken täglich ausgesetzt.

„Jedes Jahr zusätzlichen Betriebs bei einem AKW dieses Alters steigert das Risiko für Störfälle um bis zu 15 Prozent“, warnt der britische Atomphysiker Paul Dorfman. „Es tut mir leid, wenn ich sie beunruhige“, so Dorfman, „aber es beunruhigt mich selbst“.

„Wir akzeptieren bei alten Anlagen ein höheres Risiko.“

Bei der Präsentation der Studienergebnisse klassifizierte Atomexperte Nikolaus Müller von der University of Natural Resources and Life Sciences Vienna „physische Alterung“ der Anlagen gegenüber „technischer Veralterung“.

Im ersten Fall gehe es um den normalen Abnutzungs- und Alterungsprozess. Dem könne man zwar in vielen Bereichen mit Wartung und Austausch begegnen. Bei Reaktoren aber gebe es vor allem im Zentralbereich Sektoren, zu denen man wegen der hohen Strahlung gar nicht vordringen könne. Dort sind keine Erneuerungen möglich. Ein 50 Jahre altes AKW könne man technisch gar nicht auf den neuesten Stand bringen, „Es gibt Grenzen der Nachrüstung“, so Müller. Ein 50 Jahre altes Auto könne man besser ausstatten - und gleichzeitig wird es niemals ein Neues sein. Konkret bedeute das: „Wir akzeptieren bei alten Anlagen ein höheres Risiko.“

Die „technische Veralterung“ stehe in direktem Zusammenhang mit dem Fortschritt der Wissenschaft. Heißt: Was vor 30 Jahren Stand der Technik gewesen ist, sei heute oft nicht mehr genehmigungsfähig.

Müllers Fazit: Keiner der 125 Atomreaktoren würde nach den heutigen, viel strengeren Sicherheitsstandards bei einem Neustart überhaupt eine Betriebserlaubnis erhalten.

Neubauten sind extrem teuer

Der Neubau von Atomkraftwerken ist heutzutage dank hoher Sicherheitsauflagen, die auch auf den Super-GAU von Fukushima zurückzuführen sind, extrem teuer geworden. Stattdessen setzt die Atomindustrie auf Laufzeitverlängerungen für alte AKWs - etwa in Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Schweden, Belgien und anderen Ländern. Die EU-Kommission geht davon aus, dass die Laufzeit vieler Reaktoren auf 60 Jahre erhöht werden könne.

Die vier Blöcke des tschechischen AKW Dukovany, der erste ist seit 1985 in Betrieb, haben zum Beispiel vor wenigen Jahren Laufzeitverlängerungen genehmigt bekommen – unbefristet und ohne, dass ein Nachbarland, das von einem Stör- oder Unfall betroffen wäre, auch nur das geringste Mitspracherecht hatte.

„Angesichts der Risiken, die mit Laufzeitverlängerungen verbunden sind, ist es unverantwortlich, dass die europäische EU-Kommission in ihrer Klimastrategie auch in der Zukunft stark auf die Atomkraft setzt“, warnt Rebecca Harms, Mitglied des Europäischen Parlaments und Ko-Initiatorin der Allianz der Regionen für einen europaweiten Atomausstieg. Die Strategie ist sehr gefährlich und sehr teuer. Die Kosten von notwendigen Sicherheitsnachrüstungen würden von der Kommission aber bewusst zu niedrig kalkuliert.

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  • Atomkraft ist kein Klimaretter - Die Diskussion um Klimawandel und Kohleausstieg bringt auch diejenigen wieder auf den Plan, die es für eine gute Idee halten, mit Atomkraftwerken das Klima zu retten. 

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    25.02.2019 - Noch fast vier Jahre bis zum angekündigten Atomausstieg: Das ist einerseits ein großer Erfolg der Anti-Atom-Bewegung, andererseits eine gefährliche Beruhigungspille. Und jedenfalls kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen.

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    11.10.2018 - Risikoforscher weisen darauf hin, dass Atomkraftwerke am Anfang und am Ende ihres Betriebes riskanter sind. Eine ganze Reihe von Defekten in verschiedenen Anlagen untermauern diese These.

Quellen (Auszug): kurier.at, nachrichten.at, anschober.at

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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