„An die Physik anpassen“

09.08.2019 | Armin Simon

Energiesystemexperte Andreas Jahn über Atom- und Kohleausstieg, Versorgungssicherheit bei steigendem Anteil erneuerbarer Energien und den Zusammenhang zwischen Stromleitungen und Strommarkt.

Erdkabelbau bei Raesfeld
Foto: Frank Peterschroeder / Amprion

Herr Jahn, es mehren sich die Stimmen, die vor einer Überforderung des Stromnetzes warnen, wenn wir neben den AKW bald auch noch etliche Kohlekraftwerke abschalten. Teilen Sie diese Bedenken?

Nein, wir haben heute genug Überkapazitäten im deutschen wie auch im europäischen System. Wir brauchen jedoch einen belastbaren Abschaltplan, so dass an wenigen entscheidenden Stellen mittelfristig Ersatzinvestitionen in Form von flexibler Erzeugung, Speichern oder Lastmanagement erfolgen können.

Die Übertragungsnetzbetreiber, die das Höchstspannungsnetz in Deutschland steuern, müssen allerdings inzwischen regelmäßig eingreifen, um eine Überlastung von Leitungen zu verhindern.

Diese sogenannten Redispatchmaßnahmen sind eine Folge dessen, dass unser Strommarkt nicht die physikalischen Grundlagen des Stromnetzes widerspiegelt. Der Markt geht davon aus, dass wir in Deutschland eine riesige Kupferplatte haben, dass also jedes Elektron überall erzeugt und überall verbraucht werden kann. Das ist natürlich in der Realität nicht so: Wir haben nicht unbegrenzt leistungsfähige Stromleitungen. Weil unser Strommarkt das ignoriert, braucht es diese „Notmaßnahme“ Redispatch.

Das müssen Sie erklären.

Wenn etwa viel Wind weht, gibt es besonders im Norden viel Windstrom, weil dort die meisten Windkraftanlagen stehen. Aufgrund des Marktmechanismus laufen aber unter Umständen auch konventionelle Kraftwerke im Norden noch, weil sie den Strom vielleicht billiger produzieren können als Kraftwerke im Süden. In solchen Situationen kaufen also auch Stromkunden aus Süddeutschland oder dem südlichen Ausland verstärkt in Norddeutschland erzeugten Strom ein. Entsprechend müsste dann auch deutlich mehr Strom nach Süden transportiert werden – und das ist eben bisweilen mehr, als die vorhandenen Leitungen verkraften.

Und dann?

Dann greifen die Übertragungsnetzbetreiber ein und ordnen an, dass Kraftwerke im Norden runter- und Kraftwerke im Süden, hinter dem Leitungsengpass, hochgefahren werden – egal, was der Strommarkt aus Preisgründen zuvor entschieden hat.

Sie korrigieren also bloß, was der Markt nicht richtig organisiert hat?

Ja. Dadurch entstehen Mehrkosten, weil sowohl die runter- als auch die raufgeregelten Kraftwerke eine Entschädigung bekommen. Diese wird dann auf die Netzgebühren umgelegt. Das ist der Redispatch. Von den Kosten abgesehen ist der aber nicht wirklich dramatisch, weil ja ausreichend Kraftwerkskapazitäten dafür zur Verfügung stehen.

Wozu braucht es dann noch die sogenannte Netzreserve?

Reservekraftwerke sind Kraftwerke, die nicht am Markt teilnehmen, sondern extra vorgehalten werden, um in bestimmten Situationen unterstützend Strom einzuspeisen. Das ist für Notsituationen wie Kraftwerksausfälle und Ähnliches; für Redispatch nur, wenn dafür zu wenig andere Kraftwerke verfügbar sind.

Die Bundesnetzagentur hat vor einigen Monaten den Stromexport nach Österreich begrenzt – unter anderem, um den Redispatch und den Bedarf an Reservekraftwerken einzudämmen. Den innerdeutschen Leitungsengpass hat das spürbar entlastet.

Schon. Man muss aber sagen, dass das eigentlich ein bisschen widersinnig ist, im Strommarkt wieder Nationalstaatsgrenzen hochzuziehen, obwohl wir einen gemeinsamen europäischen Strommarkt beschlossen haben, wovon Deutschland im Übrigen auch kräftig profitiert.

Keine Grenze zu ziehen wäre besser?

Nein. Auch in einem europäischen Strommarkt ist es richtig, Engpässe zu definieren, wo tatsächlich welche sind. Die sind aber nun mal nicht entlang der bayerisch-österreichischen Grenze, sondern auf einer Ost-West-Linie nördlich von Frankfurt zu finden. Süddeutschland könnte dann vielleicht sogar wieder mit Österreich und Norddeutschland mit den Niederlanden oder Polen eine Zone bilden.

Das Wirtschaftsministerium hat den Vorschlag schon einmal gemacht: Deutschland in zwei Strompreiszonen aufzuteilen, eine im Norden und eine im Süden.

Das wäre auch logisch. Wenn der Markt mit der Physik nicht klarkommt, muss man den Markt anpassen an die Physik. Das ist auch die Forderung aus Brüssel.

Nimmt man die ernst, ist die einheitliche Strompreiszone in Deutschland nicht mehr zu halten – ein Politikum!

Das Absurde ist doch, dass die Strompreisunterschiede, die dann zwischen Flensburg und Garmisch drohen könnten, vielleicht 1,5 Cent ausmachen. Das ist viel weniger als die bisherigen regionalen Unterschiede bei den Netzentgelten: Zwischen Berlin und der Uckermark etwa liegen die bei 5 Cent, und da kümmert sich fast niemand drum.

Andreas Jahn, Leiter der deutschen Arbeit des Regulatory Assistance Project (RAP)
Foto: privat
Andreas Jahn, 48, ist Diplom-Ingenieur und Leiter der deutschen Arbeit des Regulatory Assistance Project (RAP) – einer Nichtregierungsorgani- sation, welche die Energiewende in den vier größten Strommärkten weltweit mit Fachexpertise unterstützt und insbesondere die Politik zu regulatorischen und Strommarkt-Fragen berät. - raponline.org

 

Welche Auswirkungen hätte eine solche Strommarkt-Grenze entlang der physikalischen Leitungsengpässe auf den Kraftwerkspark?

Windräder, Gaskraftwerke, Lastmanagement und perspektivisch auch Speicher würden sich da lohnen, wo sie gebraucht werden, auch in Süddeutschland …

… und unflexible Kraftwerke in Norddeutschland würden unwirtschaftlicher – denn sie könnten dann nicht mehr beliebig viel Strom aus Norddeutschland exportieren, sondern eben nur so viel, wie auch Leitungen verfügbar sind?

Ja. Diese Kraftwerke würden zusätzlich unter wirtschaftlichen Druck geraten und früher aus dem Markt gedrängt, als es mit einer nationalen Preiszone der Fall wäre. Mit der Aufspaltung der Preiszone sinkt auch der Bedarf für Redispatch dramatisch. Auch Reservekapazitäten könnten reduziert werden. Im angelsächsischen Raum gibt es statt Preiszonen sogar ein Knoten-Modell, das alle Erzeugung entsprechend der tatsächlichen und augenblicklichen Leitungs- und Umspannwerkskapazitäten berücksichtigt.

Die Übertragungsnetzbetreiber prognostizieren einen steigenden Bedarf an Reservekraftwerkskapazitäten im Winter 2022/23, wenn nach bisherigen Plänen die letzten AKW in Deutschland vom Netz gehen. Ist das vom Blickpunkt der Versorgungssicherheit her eine bedenkliche Entwicklung?

Nein. Das ist alles gut verkraftbar. Der steigende Reservekraftwerksbedarf ist einfach die Folge davon, dass wir keine passenden marktlichen Mechanismen haben, deshalb regeln wir das auf diese Weise. An der Versorgungssicherheit wird das aber nichts signifikant ändern.

Diese Reservekapazitäten zu finden, ist kein Problem?

Es gibt genug Kraftwerke, die da noch sind. Die sind bloß nicht mehr am Markt, weil sie sich da unter den derzeitigen Bedingungen nicht rechnen. Also halten wir sie eben als Reserve vor. Das kann auch eine Kaltreserve sein, die man nur dann, wenn man sie wirklich braucht, mit einer gewissen Vorwarnzeit aktiviert.

Wie oft kommen Reservekraftwerke bisher zum Einsatz?

Die meisten ziemlich selten oder sogar fast gar nicht. Den größten Teil des Redispatch erledigen Kraftwerke, die normal im Markt arbeiten.

Mit der Perspektive, dass baldmöglichst auch die Kohlekraftwerke vom Netz gehen sollen …

… haben wir weiteren Zubaubedarf an ökologischen Stromerzeugungsanlagen im System. Da ist die Frage, ob wir das alles regulatorisch lenken wollen oder ob wir marktliche Anreize schaffen, diese Kapazitäten an den bestmöglichen Plätzen zu schaffen.

Ein Ausbau der erneuerbaren Energien in Süddeutschland löst aber nicht das Problem, dass das fluktuierende Energien sind.

Keine Frage: Es braucht dann auch dort flexible Ergänzungskraftwerke, Speicher und Lastmanagement. Das alles ist bisher ebenfalls nur regulativ zu erreichen. Besser wäre es, ökonomische Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich solche volkswirtschaftlich sinnvollen Anlagen auch betriebswirtschaftlich aus dem Markt heraus rechnen.

Die Befürchtung, dass die Industrie aus Süddeutschland abwandert, weil der Strom dort etwas teurer wird, teilen Sie nicht?

Das wird gerne angeführt, aber ich halte das für eine Mär. Für eine Standortentscheidung sind sehr viele Argumente ausschlaggebend.

Höhere CO2-Preise würden Atomkraft einen Vorteil verschaffen. Wie verhindern wir, dass dann Atomstrom die Märkte flutet?

Diesen ebenso zu bepreisen, wird europaweit kaum möglich sein. Allerdings werden AKW mit zunehmendem Ausbau der erneuerbaren Energien ökonomisch noch weiter unter Druck geraten. Wenn man sich die Angebotskurven der Nachbarländer anschaut, stellt man fest, dass schon heute kaum noch Atomstrom importiert wird.

Was heißt das?

Parallel zum Atom- und Kohleausstieg müssen wir die Erneuerbaren weiter ausbauen. Im Moment passiert da viel zu wenig. Der Windkraftausbau ist sehr stark eingebrochen, der Photovoltaik-Deckel droht auch diesen Ausbau abzuwürgen. Da müssen wir gegensteuern. Wenn das gelingt, wird es auch nicht zu vermehrten Atomstromimporten kommen.

 

Dieser Artikel erschien ursprünglich im .ausgestrahlt-Magazin Nr. 44 / Juli 2019.

 

weiterlesen:

  • Unter der Kupferplatte – Die Abschaltung der AKW steht einem zügigen Kohleausstieg nicht im Weg. Das realitätsferne Strommarktmodell aber treibt den Bedarf an kaum benötigten Reservekraftwerken unnötig in die Höhe

  • Atomstrom ist kein Klimaretter – Vielmehr bremst der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke die Energiewende. Deutschland könnte seinen Energiebedarf schon heute komplett ohne AKW decken.

  • „Jeder Tag mehr kostet die Gesellschaft Geld“ – Der Wirtschaftswissenschaftler Christian von Hirschhausen über die Laufzeiten von AKW, über Kohlefans, die für Atomkraft werben, und über effektiven Klimaschutz.

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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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