Endlich aus

05.06.2023 | Armin Simon
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Foto: Lars Hoff

Das Abschalten der AKW ist ein historischer Erfolg. Doch wir sollten uns nicht auf ihm ausruhen. Denn die Auseinandersetzung um Atomkraft und Energiewende ist noch nicht ausgestanden.

Eine Minute vor Mitternacht ist dann wirklich Schluss. Um 23:59 Uhr geht der Riss-Reaktor Neckarwestheim‑2 als letztes deutsches AKW vom Netz, sieben Minuten nach dem AKW Isar‑2. Das AKW Emsland in Lingen hat seinen Stecker schon anderthalb Stunden zuvor gezogen. Damit ist die Ära der Atomstromproduktion in Deutschland zu Ende.

In Neckarwestheim versammeln sich Atomkraftgegner*innen schon am Nachmittag vor dem AKW. Kundgebung und Abschaltfest, Protest und Erinnerung, Wiedersehen und Abschiednehmen, es ist irgendwie alles zusammen. Er habe, erzählt ein Mann, 1975 den Bauplatz des AKW Wyhl mit besetzt. Die Aktion gilt gemeinhin als Startschuss der Anti-Atom-Bewegung in Deutschland. Das AKW dort wurde nie gebaut, etliche andere schon. Deshalb sei er heute gekommen, sagt der Bauplatzbesetzer: um den Sieg zu feiern. Er ist inzwischen im Rentenalter.

Erfolge feiern, Rückschläge vermeiden

Die Auseinandersetzung um die Atomkraft hat Jahrzehnte gedauert, die Atomkraftgegner*innen haben sie gewonnen. Und trotzdem ist die Feierlaune ein wenig verhalten, bedeckt wie der Himmel über dem Neckartal, als ob der Sache noch nicht ganz zu trauen sei. Die Monate zuvor haben deutlich gemacht, wie schnell das Atom-Risiko, nach dem Super-GAU von Fukushima 2011 allen überdeutlich vor Augen, wieder in Vergessenheit geraten ist. Wie stark das Märchen von angeblich drohenden Stromausfällen noch immer verfängt. Und wie selbst Grünen-Spitzenpolitiker*innen bereit sind, Fake-News von angeblichen „Netzinstabilitäten“ zu verbreiten, um einen längeren Betrieb der Reaktoren durchzudrücken.

Das Abschalten der letzten AKW ist ein historischer Erfolg (siehe auch Interview „Man musste sie ernstnehmen“). Diesen sollten wir feiern und nicht vergessen! Aber wir sollten uns nicht auf ihm ausruhen. Ohne eine atomkritische Öffentlichkeit drohen Rückschläge nicht nur beim Umgang mit dem Atommüll. In der EU, die heftig um Atomkraft ringt, ist die Stimme der Bundesregierung von großem Einfluss. Ihr Wille, sich atomfreundlichen Kompromissen zu widersetzen, hängt auch vom politischen Druck ab, den sie zuhause erfährt. Gleiches gilt für Export- und Transportgenehmigungen von Atomtechnik und Brennstoffen, den Ausbau von Uranfabriken, Sanktionen gegen den russischen Atomsektor und vieles mehr. All das wiederum hat Auswirkungen auf AKW-Projekte in Europa und weltweit.

Torschlusspanik bei Atom-Fans

Unter den Atomkraft-Fans macht sich in den Wochen um den 15. April erst Torschlusspanik, dann Frust breit. Irgendwann ist klar: Das Aus für die AKW, von Hunderttausenden in jahrzehntelangen Auseinandersetzungen erkämpft, 2002 im Bundestag beschlossen, 2011 um konkrete Abschaltdaten ergänzt und Ende 2022 um dreieinhalb Monate hinausgeschoben, ist nicht mehr aufzuhalten. Umso mehr versuchen sie es wenigstens nach Kräften zu diskreditieren.

Argumentativ bleibt dabei einiges auf der Strecke. So etwa bei der immer wieder aufs Neue wiederholten, deswegen aber nicht weniger falschen Behauptung, der Atomausstieg schade dem Klima. Richtig ist das Gegenteil: Nichts hat den Klimaschutz entscheidender vorangebracht als der Atomausstieg. Denn es ist die Anti-Atom-Bewegung, die schon in den 1970er Jahren den Blick auf die erneuerbaren Energien lenkt und fordert, sie als ernstzunehmende Alternative weiterzuentwickeln. AKW- und Kohlekraftwerksbetreiber hingegen verkünden noch in den 1990er Jahren, die Erneuerbaren könnten „auch langfristig nicht mehr als vier Prozent unseres Strombedarfs decken“, was die damalige Umweltministerin Angela Merkel (CDU) dann wortwörtlich wiederholt.

Nicht von ungefähr entsteht der als Lehnwort in viele Sprachen eingegangene Begriff „Energiewende“ im Umfeld der Anti-AKW-Bewegung. Und nicht zufällig passiert noch während der Verhandlungen mit den AKW-Betreibern über den so genannten „Atomkonsens“ im Jahr 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) den Bundestag, das der Massenproduktion von Solarzellen und Windkraftanlagen den Weg ebnet. Es leitet einen – weltweiten! – Boom der Erneuerbaren ein. In Deutschland ersetzt dieser nicht nur den Atomstrom, sondern darüber hinaus fast ebenso viel Kohlestrom – siehe Infografik „Atomausstieg ist gut fürs Klima“. Dieser Effekt wäre umso stärker, hätten sich jene, die nun Krokodilstränen ums Klima vergießen, in den vergangenen Jahrzehnten nicht immer wieder mit Verve dafür eingesetzt, den Ausbau der Erneuerbaren zu bremsen – ganz so, als dürfe es bloß nicht zu viel davon geben. „Atmender Deckel“, „Ausbaukorridor“ und „Begrenzung des Gesamtausbauziels“ sind Schlagworte dieser Politik, die darauf abzielte, den fossilen Kraftwerken hohe Auslastung zu sichern, zulasten des Klimas und zum Schaden der Allgemeinheit. All die so verhinderten Erneuerbaren-Anlagen könnten heute schon unschlagbar günstigen Strom erzeugen.

Weiterhin gilt: Nicht realitätsfernes Gefasel von Fusionskraftwerken und das mentale Festhalten an unflexiblen AKW, sondern der zügige Ausbau der erneuerbaren Energien ist entscheidend dafür, wie schnell die fossile Stromproduktion zurückgeht. Und das kann sehr viel schneller gehen als in der Vergangenheit.

ARD bläst Isar‑2 auf

Auch namhafte Medien erliegen rund um den Abschalttag der Versuchung, sich mit plumpen Beiträgen, die den Ausstieg in Frage stellen, als angeblich „kritisch“ zu profilieren. So verbreitet die ARD das Märchen, das AKW Isar‑2 erzeuge selbst im Streckbetrieb mit nur 70 Prozent Leistung „an manchen Tagen“ mehr Strom „als alle 30.000 Windräder in Deutschland“. Was hanebüchener Unsinn ist, wie volksverpetzer.de dokumentiert. Tatsächlich gab es von 2018 bis 2023 keinen einzigen Tag, an dem diese Behauptung zutraf. Hängen bleibt allerdings, dass die Erneuerbaren angeblich nicht in der Lage seien, Atomkraft zu ersetzen. Ein Blick auf die Stromstatistik hätte genügt, sich vom Gegenteil zu überzeugen.

In den sozialen Medien dichtet die nukleare Frustgemeinde ab dem 16. April jede importierte Kilowattstunde Strom zum Versorgungssicherheitsproblem um. Das ist so schlau, wie jedem, der mal ’ne Tiefkühlpizza mit nach Hause nimmt, zu unterstellen, er würde verhungern, weil er nicht kochen kann. Richtig ist, dass Deutschland mit Beginn des Atomausstiegs aufgrund des Erneuerbaren-Ausbaus von einem Stromimport- zu einem Stromexportland geworden ist, das jedes Jahr weitaus mehr Strom ins Ausland verkauft, als es dort einkauft. 2022 belief sich der Exportüberschuss auf 30 Milliarden Kilowattstunden; 2023 wird er, so die Prognose, etwas sinken. Dass aktuell, wie jeden Sommer, etwas mehr Strom importiert wird als im Winter, hängt nicht mit den abgeschalteten AKW, sondern mit den fossilen Kraftwerken zusammen: Die fahren gerade reihenweise runter, weil europaweit niemand ihren Strom abnimmt. Importiert hat Deutschland in den letzten Jahren übrigens vor allem Strom aus Dänemark. Der ist garantiert atomkraftfrei und entsprechend günstig.

Atomausstieg – das ist gut so!

  1. Atom-Risiko drastisch reduziert
    Das tagtägliche Risiko eines schweren Atomunfalls in Deutschland ist seit dem 16. April drastisch reduziert. Eine Kernschmelze in einem AKW ist nicht mehr zu befürchten.
  2. Atommüllproduktion gestoppt
    Der Berg an hochradioaktivem Atommüll, den die Atomkraft in Deutschland produziert hat, wächst endlich nicht mehr weiter. Dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um einen gesellschaftlich akzeptierten und möglichst sicheren Lager-Ort dafür zu finden.
  3. Leitung frei für erneuerbare Energien
    Die unflexiblen AKW haben auch dann ihren Atomstrom ins Netz gedrückt, wenn mehr als genug Wind- und Solarstrom zur Verfügung stand. Damit verdrängen sie günstigen Öko-Strom und behindern den Ausbau der erneuerbaren Energien – physikalisch und wirtschaftlich. Damit ist jetzt Schluss.
  4. Energiewende mit ganzer Kraft
    Das Abschalten der AKW ist ein wichtiger und unverzichtbarer Schritt beim Umbau der Energieversorgung auf 100 Prozent erneuerbare Energien – wir haben ihn geschafft. Fortan wird keine Diskussion um AKW-Laufzeitverlängerungen den Kampf für Energiewende und Kohleausstieg mehr belasten.
  5. Mut für mehr
    Das Abschalten der AKW beweist: Wenn sich viele gemeinsam engagieren, können sie große Veränderungen bewirken und sich auch gegen sehr mächtige Interessen und Gegenspieler*innen durchsetzen. Das macht Mut für alle noch vor uns liegenden Herausforderungen.
Dieser Text erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 58 (Juni/Juli/Aug. 2023)

weiterlesen:

  • AKW-Pläne in Deutschlands Nachbarländern
    19.05.2023: Mit dem Abschalten der letzten Atomkraftwerke in Deutschland ist das Risiko eines großen Unfalls hierzulande deutlich gesunken. Doch Strahlung macht vor Grenzen keinen Halt. Von Schrottreaktoren, Laufzeitverlängerungen, Neubauplänen und Lobbyismus in Deutschlands Nachbarländern.
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    30.03.2023: Von „Atomausstieg“ kann im Lingener Brennelementewerk nicht die Rede sein. Während die letzten deutschen AKW vom Netz gehen, soll künftig von einem französisch-russischen Konsortium von Deutschland aus der atomare Weltmarkt beliefert werden. Lingen könnte zur Drehscheibe der west- und osteuropäischen Atomindustrie werden! Atomkraftgegner*innen antworten mit einer großen Demonstration am 15. April.
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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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