Der russische Atomriese Rosatom bleibt von westlichen Sanktionen weiter ausgenommen. Dabei ist er an der Besatzung des ukrainischen AKW Saporischschja maßgeblich beteiligt und verbreitet Atomkraft in der ganzen Welt.
Der Schock über den russischen Einmarsch in die Ukraine ist noch frisch, als russische Streitkräfte am 4. März 2022 das Atomkraftwerk Saporischschja einnehmen. Seitdem ist es besetzt, wird immer wieder Ziel von Angriffen. Mindestens sieben Mal war die Verbindung zum Stromnetz vollständig unterbrochen, nur Dieselgeneratoren lieferten den notwendigen Strom zur Kühlung der sechs Reaktoren und der Brennelemente-Lager im größten AKW Europas.
Ein Werkzeug Putins
Von Anfang an beteiligt an der kriegerischen Okkupation des AKW: der russische Atomkonzern Rosatom, eine Mischung aus Behörde und Staatskonzern mit mehr als 250.000 Mitarbeiter*innen. Das direkt dem Kreml unterstellte Konstrukt besteht aus über 300 Unternehmen und bündelt den gesamten Nuklearsektor Russlands, vom Uranabbau über AKW bis zu Atomwaffen. Fachleute der Rosatom-Tochter Rosenergoatom hielten sich in der Anlage in Saporischschja auf, bestätigt Rosatom-Generaldirektor Alexej Lichatschow Mitte März 2022.[1] Mit der völkerrechtswidrigen Annektion von Teilen der Ostukraine Anfang Oktober 2022 betrachtet Russland schließlich auch das AKW als sein Eigentum. Eigens für dessen Übernahme gründet Rosatom wenige Tage zuvor eine neue Tochtergesellschaft.[2] Und über eine Schutzzone rund um das AKW Saporischschja verhandelt der Chef der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEO), Rafael Grossi, im Dezember 2022 nicht etwa mit Regierungsvertretern, sondern mit Lichatschow.[3]
Während der Kreml in den ersten Monaten behauptet, die Anlage sei unter russischen „Schutz“ gestellt, sprechen Augenzeugenberichte eine andere Sprache: Demnach wissen die Rosatom-Mitarbeiter*innen von der gewaltsamen Behandlung der Belegschaft, sind an der Auswahl von Artillerie-Zielen rund um das Gelände beteiligt und wirken an der Festnahme Hunderter ukrainischer Mitarbeiter*innen mit.[4][5] Mit der Anlage vertraute Ukrainer*innen, die keinen neuen Vertrag mit Rosatom unterschreiben, werden verhaftet und durch Russ*innen ersetzt. Auch die Befehlsketten werden zunehmend intransparent.
Ohne seinen Staatskonzern wäre Russland nicht in der Lage gewesen, das AKW zu übernehmen und zu betreiben. Und durch seine Komplizenschaft bei der Besetzung gefährdet Rosatom dort tagtäglich mutwillig die nukleare Sicherheit.[6][7]
Nukleare Außenpolitik
Rosatom ist also nicht einfach irgendein AKW-Betreiber. Als einer der Global Player im Atombusiness ist Rosatom synonym mit der russischen Atomindustrie und übernimmt gleichzeitig auch staatliche Aufgaben. Ende 2021 war jedes sechste AKW der Welt von Russland gebaut, mehr als die Hälfte davon in anderen Ländern. Von 20 aktuellen Neubauprojekten liegen 17 außerhalb Russlands.
Wo selbst Staaten zuletzt nicht in der Lage waren, AKW zu finanzieren, sprang vielfach Rosatom in die Bresche – oft mit von der russischen Regierung garantierten Krediten, in manchen Fällen auch mit langfristigen Verträgen über die Lieferung von Brennstoff.[8] Die extremste Form dieser „nuklearen Außenpolitik“ ist das Modell „Build-Own-Operate“, das Rosatom beim türkischen AKW Akkuyu zum ersten Mal anwendet. Die Anlage baut und finanziert der Konzern nicht nur. Er hat sich auch verpflichtet, sie während ihrer gesamten Lebensdauer zu betreiben.[9] Diese Strategie der weltweiten Verbreitung der Atomenergie sichert Russland Einnahmen und geopolitischen Einfluss für Jahrzehnte.
Auf den ersten Blick ist kaum nachzuvollziehen, warum die IAEO Rosatoms Vorgehen im AKW Saporischschja nicht schärfer kritisiert, dem Unternehmen die Unterstützung bei der Expansion in andere Länder nicht aufgekündigt hat. Doch der Einfluss von Rosatom in der IAEO reicht bis in die höchsten Ebenen: Den Posten des stellvertretenden Generaldirektors etwa hat Mikhail Chudakov inne, seines Zeichens ehemaliger Manager von Rosenergoatom.[10]
Auch für die U-Boot-Flotte und die russischen Atomsprengköpfe ist Rosatom zuständig. Erst im Dezember 2022 hob Präsident Wladimir Putin in einer Ansprache an Rosatom den enormen Beitrag hervor, den das Unternehmen zur Entwicklung der neuesten Waffensysteme und militärischen Ausrüstung und deren Einsatz im Kampf leiste.[11] Möglicherweise unterstützt Rosatom zudem die russische Rüstungsindustrie auch dabei, westliche Sanktionen zu umgehen. Die „Washington Post“ berichtete im Januar von einem Brief, in dem es um ein Treffen zwischen Rosatom, dem russischen Verteidigungsministerium und Vertreter*innen der russischen Rüstungsindustrie ging. Offenbar hatte Rosatom angeboten, bestimmte Waren zu beschaffen, die sanktionierte Unternehmen im Westen nicht mehr kaufen können, darunter wichtige Komponenten für Raketentreibstoff und Batterien für Panzer und Raketenabwehrsysteme.[12]
Abhängigkeiten erschweren Sanktionen
Sanktionen gegen Rosatom, obwohl vielfach gefordert, fehlen jedoch auch im 11. Sanktionspaket der EU von Ende Juni 2023 – denn auch in Europa ist der Einfluss des russischen Atomkonglomerats groß. Ein Fünftel des in der EU verbrauchten Urans stammt aus Russland.[13] Außerdem reichert Rosatom ein Drittel des in der EU benötigten Urans an. Mehrere osteuropäische Staaten, die AKW russischer Bauart betreiben, sind auf Brennelemente von Rosatom angewiesen. Ungarn etwa, schärfster Gegner von EU-Sanktionen gegen Rosatom, deckt mehr als 40 Prozent seines Strombedarfs mit Reaktoren russischer Bauart – und hat mit Rosatom ganz aktuell noch den Bau von zwei weiteren Reaktoren vereinbart.[14]
Eine zentrale Rolle dürfte auch die „strategische Kooperation“ spielen, die der französische Staatskonzern Framatome mit Rosatom vereinbart hat.[15] Denn Frankreichs Wort hat in der Europa Gewicht. Erst kürzlich gründeten beide Staatsunternehmen ein Joint Venture zum Ausbau der Brennelementefabrik im niedersächsischen Lingen. Auch solche Kooperationen geht Rosatom gezielt ein, um sich Einfluss zu sichern – und bei möglichen Sanktionen weiter im Geschäft zu sein.
Die Abhängigkeiten sind dabei nicht auf die EU beschränkt. Die USA etwa, das Land mit den meisten AKW weltweit, bezieht ein Viertel seines Urans von Rosatom.[16] Tatsächlich verdiente Rosatom 2022 sogar mehr am Auslandsgeschäft als zuvor. Denn Rosatom hat sich strategisch in alle Bereiche der Lieferkette eingekauft. Durch die Übernahme des Bergbauunternehmens Uranium One ist Rosatom beispielsweise Eigner von Minen in Kanada, Südafrika, Australien, den USA und Kasachstan. Selbst von der Stilllegung und dem Rückbau der deutschen AKW profitiert Rosatom, denn auch Nukem Technologies in Alzenau (Bayern) gehört ist Teil des Konzerns.[17]
Nicht zur Untätigkeit verdammt
Angesichts der Rolle, die der russische Staatskonzern in der Ukraine spielt, und der Abhängigkeiten, die Russland mit Hilfe Rosatoms in zahlreichen Ländern aufbaut, muss Deutschland weiter Druck machen für EU-Sanktionen gegen Rosatom. Deutschland kann und sollte aber auch, ohne auf die EU zu warten, eigene Maßnahmen ergreifen, die den Einfluss Rosatoms zurückdrängen, Geschäftsbeziehungen mit Rosatom unterbinden und das Joint Venture zum Ausbau der Brennelementefabrik Lingen stoppen. Dies schließt ein, keine neuen Genehmigungen mehr zu erteilen für den Import von Rosatom-Uran und für den Export von Atomtechnik – etwa von Siemens Energy – für Rosatom-Projekte im Ausland. Ganz nebenbei würde dies auch dem Ausbau der Atomkraft weltweit einen merklichen Dämpfer verpassen.
Wirklich konsequent wäre allerdings die Schließung der Atomfabriken in Lingen und Gronau. Laut verschiedenen Gutachten ist das rechtssicher möglich. Damit wäre auch der deutsche „Atomausstieg“ endlich komplett.
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