Rumpelstilzchen und der Loslass-Schmerz

26.04.2024 | Armin Simon
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Foto: Lars Hoff

Die Erneuerbaren haben die AKW längst ersetzt, die Reaktoren sind im Rückbau. Selbst weltweit spielt Atomkraft nur noch eine marginale Rolle. Doch die Rechten wüten weiter gegen die Energiewende. Heute: die angeblichen #AKWfiles

Sondersitzungen, Rücktritts-Forderungen, Täuschungs-Vorwürfe: Mit großem Tamtam ziehen CDU, CSU, FDP, AFD und BSW wieder einmal gegen die Energiewende und ihre Protagonist*innen ins Feld. Wirtschafts- und Umweltministerium, so ihr Vorwurf, hätten bei der Abschaltung der letzten drei AKW massiv getrickst.

Vor 38 Jahren, am 26. April 1986, zerstörte eine gewaltige Explosion das AKW Tschernobyl in der Ukraine – und zugleich das Märchen von den angeblich sicheren Reaktoren. Die Position der Anti-Atom-Bewegung setzte sich nun auch in der Politik mehr und mehr durch. Kein AKW ging nach Tschernobyl in Deutschland mehr in Bau. 2001 stimmten die Energiekonzerne selbst im sogenannten „Atom-Konsens“ einem Ende der Atomkraft in Deutschland zu. Unter dem Eindruck des nächsten Super-GAUs – 2011 im AKW Fukushima im Hochtechnologieland Japan – schwenkte auch die schwarz-gelbe Bundesregierung bei. Sie beschloss einen festen Abschaltplan für alle AKW. Die letzten drei Reaktoren, schrieben CDU, CSU und FDP ins Gesetz, müssten spätestens Ende 2022 vom Netz gehen.

Wer mit dem Atom-Aus nicht einverstanden war, hatte also mehr als 30 Jahre Zeit, dagegen politisch anzugehen. Versuche gab es etliche, geklappt hat keiner. Weil eine stabile Mehrheit der Bevölkerung das unversicherte Risiko eines Super-GAUs und weiter wachsender Atommüllberge nicht länger tragen wollte. Weil sich Atomkraft im Vergleich zu erneuerbaren Energien nicht rechnet. Und weil der Ausstiegsbeschluss unterm Strich wertvolle Planungssicherheit brachte.

Den jahrzehntelangen Streit um die Atomkraft hat also die Anti-Atom-Bewegung gewonnen. Das hartnäckige Engagement Hunderttausender gegen Atomkraft hat zugleich die weltweite Energiewende mit losgetreten und ermöglicht.

Die Früchte dieses Engagements werden gerade erst so richtig sichtbar: ein weltweiter Boom der erneuerbaren Energien, der, was den Bau von Kraftwerken angeht, in einem einzigen Jahr alles in den Schatten stellt, was die Atomindustrie in 70 Jahren zuwege gebracht hat. Eine seit Jahrzehnten sinkende Bedeutung der Atomkraft, in Deutschland, in Europa und weltweit, mit einem Anteil an der Energieversorgung von gerade einmal um die zwei Prozent. Und, in Deutschland, seit Abschaltung der letzten drei AKW vor einem Jahr: Ein Einbruch der Kohleverstromung um die Hälfte (Steinkohle) bzw. um ein Drittel (Braunkohle), der fossilen Stromerzeugung insgesamt um ein Viertel. Die Atommüllproduktion gestoppt, die Abhängigkeit von russischem Uran beendet, das Risiko eines Super-GAUs in Deutschland drastisch reduziert. Der Anteil der erneuerbaren Energien am gesamten Stromverbrauch ist im ersten Quartal 2024 auf mehr als 56 Prozent gestiegen, ein neuer Rekord. Das ist Energiewende live.

Den Rechten aber passt das nicht. Ausgerechnet diejenigen, die mit ihrer eigenen Politik über Jahrzehnte den Ausbau der erneuerbaren Energien behindert und damit den Bau von vielen Hundert Gigawatt Solar- und Windkraftanlagen verhindert haben, erklären nun die Abschaltung von drei Atomkraftwerken vor einem Jahr zum Beinahe-Weltuntergang. Aus Ministeriumsvermerken dichten sie eine Verschwörung zusammen, von dunklen bzw. grünen Mächten, die aus vermeintlich unlauteren Motiven blindlings AKW vom Netz genommen hätten. Was umso absurder ist, als die Reaktoren ja letztlich sogar dreieinhalb Monate länger (!) liefen als es CDU, CSU und FDP einst beschlossen hatten – und das, obwohl selbst der Stromversorgungs-„Stresstest“ von Sommer 2022 keinerlei Begründung für diese Verlängerung hergab, wie .ausgestrahlt schon damals zeigen konnte.

Sei’s drum! Die letzten AKW sind aus, seit über einem Jahr. In allen dreien ist die sogenannte Primärkreisdekontamination inzwischen abgeschlossen – ein point of no return beim Rückbau der Anlagen.

Rumpelstilzchen aber möchte wütend sein. Und stampfen. Und sich über das Getrampel freuen. Die „geheimen Atomakten“, deren Einsicht Cicero erklagt hat, sind dafür nur ein willkommener Anlass.

Energiewende bedeutet Veränderung. Veränderung heißt Loslassen, in diesem Fall auch von Atomkraft. Loslassen kann wehtun.

Aber wer partout nicht loslässt, fällt am Ende auf die Nase.

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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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