Zweifache Notbremse im AKW Leibstadt

14.05.2019 | Jan Becker

Eine „Schnellabschaltung“ in einem Atomkraftwerk ist eine Notfallmaßnahme, die alle betroffenen Komponenten aufs Äußerste beansprucht. Das AKW Leibstadt musste jetzt gleich zwei Mal in Folge diesen Belastungen standhalten. Atomkraftgegner*innen sprechen vom „unzuverlässigsten AKW mit den größten nuklearen Risiken“.

AKW Leibstadt / Schweiz
Foto: Nawi112 / Wikimedia

Eine Notabschaltung ist ein vollautomatischer Vorgang, der vom Sicherheitssystem des Reaktors aus unterschiedlichsten Gründen angeregt werden kann. Dr. Christoph Pistner, stellvertretender Bereichsleiter Nukleartechnik & Anlagensicherheit beim Öko-Institut e.V. in Darmstadt, spricht von einem „stark verändernden Zustand“ gegenüber des „Normalbetriebs“: Es gebe Belastungen, Ventile und Pumpen und dergleichen treten in Aktion. Um das Kraftwerk vor „weiteren Schäden zu schützen“, wird die Anlage zügig abgeschaltet. Moderatorenstäbe werden in den Kern geschoben, die Kettenreaktion kommt zum Erliegen. Während die planmäßige Außerbetriebnahme eines Atommeilers in der Regel viele Stunden braucht, weil die Leistung langsam gedrosselt wird, ist die „Schnellabschaltung“ mit einer Vollbremsung bei einem Auto vergleichbar. Ein Ausfall dieser Funktionen kann zu einem schweren Unfall führen.

AKW sind zwar darauf ausgelegt, doch bedeuten diese automatischen Vorgänge immer eine hohe Belastung für das System, vor allem im radioaktiven Primärkreislauf. Innerhalb von Sekunden schließt die Turbine, gigantische Wärmemengen und hohe Drücke müssen kompensiert werden. Um diese Belastungen auf die alten Reaktoren zu reduzieren, damit zum Beispiel keine Rohre bersten, werden in manchen Kraftwerken Notkühlwasservorräte ständig vorgeheizt.

Zwei Notbremsen in Folge

Das Atomkraftwerk Leibstadt ist das „jüngste, größte und teuerste“ AKW der Schweiz, beschreiben Kritiker*innen die Anlage. Nach 36. Betriebsjahren ist sie bezüglich Betriebssicherheit „nicht unter Kontrolle“, so Professor Walter Wildi im Blog „Nuclear Waste”. Leibstadt sei „das unzuverlässigste AKW mit den größten nuklearen Risiken“.

  • Im schweizerischen AKW Leibstadt kam es am 24. April zur ersten Notabschaltung. Ursache war eine Störung an einem Vordruckregler. Nach 36 Stunden Stillstand für die nötigen Reparaturen ging das Kraftwerk wieder ans Netz.
  • Am 12. Mai ging der Meiler erneut vom Netz, wieder per automatischer Schnellabschaltung. Als Ursache nennt die Atomaufsicht ENSI wieder eine Störung am Vordruckregler.

Bis zum GAU

Expert*innen haben sich mit dem Altern der Kraftwerke beschäftigt und kommen zu dem Schluss, dass mit jedem Tag das Risiko eines schweren Unfalls steigt. 36 Jahre Dauerbeschuss mit radioaktiver Strahlung nutzt Materialien ab, sie verspröden und halten den Belastungen (vor allem im Extremfall) nicht mehr stand. Während der Betreiber dabei auf umfangreiche Reparaturen verweist, können bestimmte Komponenten in einem Reaktor gar nicht ersetzt werden.

„Der Weiterbetrieb von Altanlagen birgt ein deutlich erhöhtes Risiko für Zwischenfälle”, warnte Wolfgang Renneberg, früherer Chef der deutschen Atombehörde, erst vergangene Woche auf der „Nuclear Energy Conference“ in Linz. Die Defizite alter Atomkraftwerke „liegen klar auf der Hand”. Die Sicherheitsreserven dieser Anlagen „werden mit der Zeit aufgebraucht und deutlich kleiner“. Die Zahl der Zwischenfälle bei diesen Anlagen verdoppele sich, so Renneberg.

„Unkontrollierter Betriebszustand“

Im AKW Leibstadt wurden während der jährlichen Revision im August 2016 zahlreiche korrodierte Brennstäbe entdeckt. Expert*innen vermuteten für die gravierende Korrosion an den Brennstabhüllen sogenannte „Dryouts“: Bestimmte Stellen im Reaktorkern werden so heiß, dass die Brennstäbe dort nicht mehr mit einem Wasserfilm bedeckt sind, weswegen sie stark korrodieren. Im deutschen AKW Brokdorf sind ähnliche Beschädigungen gefunden worden. Letztlich können die Hüllen bersten und das radioaktive Inventar wird in den Kühlkreislauf freigesetzt. „Dryout“ ist ein unkontrollierter Betriebszustand, warnt Professor Wildi. Er könnte zu Schäden in der Geometrie der Brennstäbe und Brennelemente führen. Bei gestörter Geometrie ist die Möglichkeit, den Reaktor abzuschalten, gefährdet.

Das AKW stand sechs Monate still. Anfang 2017 durfte es entgegen aller Kritik den Betrieb wieder aufnehmen, allerdings mit leicht verminderter Leistung.

Jetzt berichtet die ENSI, dass diese Begrenzung der Leistung und damit auch der Menge Wasser, die pro Zeiteinheit durch den Reaktorkern strömt, „die erwartete Wirkung“ erzielt habe: Die Probleme an den Hüllrohren seien „nicht mehr aufgetreten“. Untersuchungen hätten ergeben, dass es sich um „wesentlich unproblematischere lokale Ablagerungen“ handle, welche die Schutzfunktion der Hüllrohre „nicht unmittelbar beeinträchtigten“. Deshalb habe die Aufsichtsbehörde dem Betreiber genehmigt, die Leistung bis zur Jahresrevision im Juni zu erhöhen...

Neue Studie untersucht GAU-Folgen

Doch was sind die tatsächlichen Gesundheits- und Umweltfolgen, sollte es zu einem nuklearen Unfall in der Schweiz kommen? Im Rahmen einer Studie haben Wissenschaftler den GAU in den vier Schweizer AKW mithilfe von realen Wetterdaten simuliert. Am 21. Mai werden die Ergebnisse vorgestellt.

weiterlesen:

  • Atomkraft macht krank
    30.04.2019 - Dass die Menschen unter den Folgen der Nuklear-Katastrophe von Fukushima leiden, ist zweifelsfrei. Doch nun hat auch ein an Krebs erkrankter, ehemaliger Schweizer AKW-Mitarbeiter gute Chancen darauf, dass seine Erkrankung offiziell auf seine Arbeit im AKW zurückgeführt wird.

  • Keine Wiederinbetriebnahme des AKW Leibstadt!
    08.02.2017 - Vor allem in Süddeutschland laufen Atomkraftgegner*innen zur Zeit Sturm gegen die Wiederinbetriebnahme des grenznahen Schweizer Atomkraftwerks Leibstadt. Trotz nicht geklärter Korrosionsprobleme im Reaktorkern soll es wieder in Betrieb genommen werden.

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    20.01.2016 - Ein Notkühlsystem im Atomkraftwerk Leibstadt war über einen Zeitraum von rund elf Tagen nicht betriebsbereit. Die Atomaufsichtsbehörde attestierte allen Atomanlagen kürzlich dennoch „ein gutes Sicherheitsniveau“.

  • Atomunfall – sicher ist nur das Risiko
    Ob technischer Defekt oder Flugzeugabsturz, Materialermüdung oder Unwetter, Naturkatastrophe oder menschliches Versagen – in jedem Atomkraftwerk kann es jeden Tag zu einem schweren Unfall kommen. Ein Super-GAU bedroht Leben und Gesundheit von Millionen.

Quellen (Auszug): ensi.ch, nzz.ch, greenpeace.de, nuclearwaste.info, kurier.at

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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