Ein Erbe für 30.000 Generationen

19.06.2023 | Anna Stender
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Drei Generationen haben Atomstrom genutzt, etwa 30.000 Generationen werden von dem strahlenden Erbe betroffen sein. Zum Umgang damit stehen wichtige Entscheidungen an. Ein Überblick.

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Standortsuche

Seit 2017 läuft die Standortsuche für ein tiefengeologisches Lager für hochradioaktiven Atommüll. Die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) hat mehr als die Hälfte des Bundesgebiets als potenziellen Standort für das Endlager ausgewiesen. Bis 2027 will sie eine Handvoll Regionen nennen, die näher erkundet werden. Diese Auswahl trifft sie ohne öffentliche Kontrolle, denn alle Befürchtungen der Anti-AKW-Bewegung zu den Beteiligungsformaten haben sich bestätigt: Bürger*innen dürfen nicht mitentscheiden, Beteiligung wird lediglich simuliert. Wo der Müll am Ende landen soll, wird erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts feststehen.

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Jahrhundert-Lager 

Dass die Endlagersuche länger dauert als ursprünglich geplant, wirkt sich auf die Zwischenlagerung des hochradioaktiven Mülls aus. Die Sicherheitsnachweise der Zwischenlager und der Castor-Behälter gelten für 40 Jahre. Da die Genehmigungen der 16 Zwischenlager zwischen 2034 und 2047 auslaufen, klafft eine große zeitliche Lücke zur geplanten tiefengeologischen Lagerung. Nach Einschätzung von Fachleuten kann es noch 100 Jahre dauern, bis die Zwischenlager vollständig geleert sind. Die Politik muss jetzt wichtige Fragen klären: Wie ist es um die Sicherheit der Zwischenlager und der Castorbehälter bei einer Dauerlagerung über weit mehr als 40 Jahre bestellt? Welche Standards sollen für sie gelten? Braucht es Neubauten? Wie kann man defekte Castor-Behälter reparieren? Stattdessen sitzt sie das Problem aus. Lediglich in Lubmin, wo das Lager selbst nach den aktuell geltenden Sicherheitsvorschriften nicht nachgerüstet werden kann, soll ein Neubau entstehen. Er wird richtungsweisend sein, sollte es auch an anderen Standorten dazu kommen.

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Freigemessen und vergessen

Bei mehr als 30 Atomkraftwerken steht der Rückbau noch aus. Beim Betrieb eines AKW wird auch das Kraftwerk selbst zu strahlendem Schrott. Insgesamt fallen beim Abriss eines einzigen AKW rund 300.000 bis 500.000 Tonnen Material an, von dem nur ein sehr kleiner Teil als Atommüll behandelt und gelagert wird. Der Großteil wird entweder direkt „freigemessen“ oder so weit bearbeitet, bis bei Stichproben der „Freigabewert“ von 10 Millisievert erreicht wird. Das suggeriert, es gäbe eine Dosisgrenze, unterhalb der Strahlung unschädlich ist. Dabei führt jede zusätzliche Strahlenbelastung statistisch zu einem Anstieg der Herz-, Kreislauf- und Krebserkrankungen. Das „freigemessene“, aber immer noch strahlende Material landet auf Bauschutt-Deponien, in Müllverbrennungsanlagen oder sogar im Wertstoffkreislauf. Es wird nicht überwacht und kann nicht mehr zurückgeholt werden. Viele Deponiestandorte in Deutschland wehren sich gegen die Lagerung von radioaktivem Müll.

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Schwach- und mittelradioaktive Abfälle

Auch für schwach- und mittelradioaktive Abfälle ist keine zufriedenstellende Lösung in Sicht. Der Müll aus dem Betrieb von AKW und Forschungsreaktoren, aus der Urananreicherung und der Brennelemente-Fertigung, aus der Wiederaufarbeitung und in kleinerem Umfang auch aus Medizin, Industrie und universitärer Forschung soll größtenteils in das ehemalige Eisenerzbergwerk Schacht Konrad bei Salzgitter gebracht werden. Das ist völlig ungeeignet für die sichere Lagerung von Atommüll und würde nach heutigen Sicherheitsstandards niemals eine Genehmigung bekommen. Nach aktueller Planung soll die Einlagerung dort 2027 starten. Ein Bündnis atomkritischer Organisationen hat den Widerruf der Genehmigung beantragt, das niedersächsische Umweltministerium will darüber noch 2023 entscheiden.
Mit Schacht Konrad verknüpft ist das in 100 Kilometer Entfernung geplante gigantische Atommüll-Logistikzentrum Würgassen, in dem der gesamte Müll vor der Einlagerung sortiert und bearbeitet werden soll.

Zwischen 1967 und 1978 kippten die Betreiber deutscher Atomanlagen ihren strahlenden Müll nahezu unkontrolliert in das Bergwerk Asse II bei Wolfenbüttel. Doch das einlaufende Wasser macht Asse II zu einer tickenden Zeitbombe – der Müll muss wieder raus. Die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) will die Fässer ab 2033 bergen und in ein noch zu errichtendes Zwischenlager bringen. Auch im alten DDR-Salzbergwerk Morsleben in Sachsen-Anhalt wurde ungeachtet aller Sicherheitsbedenken von 1971 bis 1998 Atommüll eingelagert. Derzeit wird es wegen Einsturzgefahr verfüllt.

An der Urananreicherungsanlage Gronau lagern Tausende Fässer mit radioaktiven Abfällen, vor allem Uranhexafluorid (UF6), unter freiem Himmel. UF6 ist radioaktiv und hochgiftig: Mit Wasser – es reicht schon Luftfeuchtigkeit – reagiert es zu extrem aggressiver Flusssäure. Kommen Menschen damit in Kontakt, zum Beispiel über die Atemluft, kann das schnell zum Tod führen.

Wo die Abfälle aus der Asse und aus Gronau am Ende bleiben, ist noch unklar. Weil in Schacht Konrad kein Platz für sie ist, will man sie aktuell möglichst in das tiefengeologische Endlager für hochradioaktiven Müll bringen, für das noch lange kein Standort feststeht. Insgesamt wird etwa doppelt so viel schwach- und mittelradioaktiver Atommüll anfallen wie ursprünglich geplant.

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Kreuz und quer durch Deutschland

Auch Atommülltransporte wird es noch sehr viele geben. Sowohl der hochradioaktive als auch der schwach- und mittelradioaktive Müll müssen irgendwann dorthin gebracht werden, wo sie langfristig lagern sollen. Und schon bald könnten wieder Castortransporte rollen:

  • In Jülich stehen 152 Castor-Behälter mit Brennelementkugeln aus dem Kugelhaufen-Reaktor AVR Jülich in einem genehmigungslosen Lager. Der Bund will einen erdbebensicheren Neubau nicht (mit‑)finanzieren und favorisiert den Transport der Behälter in das Zwischenlager Ahaus.
  • 18 Behälter mit Abfällen aus der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente sollen auf die Standortzwischenlager Philippsburg, Brokdorf und Isar verteilt werden, vier aus La Hague und 14 aus Sellafield. Die Aufbewahrungsgenehmigung für sieben Behälter aus Sellafield im Zwischenlager Isar hat das Atommüll-Bundesamt im April erteilt.
  • Seit 2017 laufen Vorbereitungen für einen Transport von bis zu 50 Brennelementen mit waffenfähigem Uran aus dem Forschungsreaktor FRM II in Garching bei München in das Zwischenlager Ahaus. Die Genehmigung dafür steht noch aus, die Stadt Ahaus wehrt sich.
Dieser Text erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 58 (Juni/Juli/Aug. 2023)

weiterlesen:

  • Endlich aus
    05.06.2023: Das Abschalten der AKW ist ein historischer Erfolg. Doch wir sollten uns nicht auf ihm ausruhen. Denn die Auseinandersetzung um Atomkraft und Energiewende ist noch nicht ausgestanden.
  • Niedersachsens Atommüll-Misere: "Lösung" wieder Gorleben?
    05.10.2022: Der Mietvertrag des niedersächsischen Zwischenlagers für schwach- und mittelaktiven Müll in Leese läuft aus. Was liegt da näher, als den Atommüll nach Gorleben zu bringen? Atomkraftgegner:innen kündigen an, einen „neuerlichen Atommülltourismus“ auf keinen Fall zu akzeptieren.
  • Schacht Konrad: Alles „unwesentliche Änderungen“?
    12.01.2022: Die Änderungsgenehmigungen für das geplante Atommülllager Schacht Konrad sind so umfassend, dass dort „ein ganz anderes Endlager als gedacht“ errichtet wird, beklagen Atomkraftgegner*innen. Die neue Umweltministerin darf die Fehler ihrer Amtsvorgänger*innen nicht wiederholen und ein zweites Gorleben entstehen lassen.
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Anna Stender

Anna Stender kommt aus Münster und hat bereits in den Neunzigerjahren gegen Castortransporte nach Ahaus und Gorleben demonstriert. Sie ist studierte Fachübersetzerin und hat sich nach Stationen in Berlin, Köln, Bangalore, Newcastle-upon-Tyne und Jülich entschieden, in Hamburg zu bleiben. Seit 2020 ist sie als Redakteurin bei .ausgestrahlt, wo sie vor allem für den Print-Bereich schreibt.

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