Falscher Alarm

14.02.2023 | Armin Simon
Wenn nur der Strom verkauft würde, der auch transportiert werden kann, wäre in der Netzleitwarte von TransnetBW weniger zu tun
Wenn nur der Strom verkauft würde, der auch transportiert werden kann, wäre in der Netzleitwarte von TransnetBW weniger zu tun
Foto: TransnetBW

Mit Aufforderungen, den Stromverbrauch zu reduzieren, wenn viel Wind weht, schüren Netzbetreiber Zweifel an der Energiewende. Hängen bleibt: die Stromversorgung ist in Gefahr, der Wind ist Schuld. Nichts davon ist richtig.

Das Handy summt, der Alarm kommt mit einem dreieckigen roten Warnzeichen daher. „Verbrauch reduzieren“, fordert die App: „Bitte hilf mit!“

Es ist ein später Sonntagnachmittag Mitte Januar, nicht gerade eine verbrauchsstarke Zeit. Und es windet seit Tagen, ziemlich ordentlich sogar. Bis zu 50.000 Megawatt Windstrom ernten die Rotoren. Rechnerisch decken die Erneuerbaren in manchen Momenten den kompletten Stromverbrauch Deutschlands. An diesem Sonntagabend zwischen 17 und 19 Uhr liegt ihr Anteil immerhin bei fast 90 Prozent. Und weil auch noch ein paar Kohle-, Gas- und Atomkraftwerke laufen, exportiert Deutschland an diesem Tag eine Rekordmenge an Strom.

In Baden-Württemberg aber ruft der Netzbetreiber TransnetBW via App und Pressemitteilung zum Stromsparen auf. Man müsse erhebliche Kraftwerkskapazitäten im Ausland aktivieren, es gelte, „hohe Kosten“ zu vermeiden, CO2-Emissionen zu reduzieren und das Stromnetz zu stabilisieren. Von einer „angespannten Situation“ und „möglichen Engpässen“ ist die Rede: „Es ist nicht genügend Strom dort, wo er gebraucht wird.“ TransnetBW rät deshalb, Laptops und Smartphones nur im Akkubetrieb und Herd und Backofen möglichst gar nicht zu nutzen.

Die Schlagzeilen lassen nicht lange auf sich warten. „Zwischen 17 und 19 Uhr droht Strom-engpass in Baden-Württemberg“, titelt welt.de. „Droht Baden-Württemberg jetzt der Blackout?“, fragt echo24.de. Die Bevölkerung solle Strom sparen, „um einen Engpass zu vermeiden“, meldet bild.de, und zwar „wegen zu viel Windstrom!“ Der SWR erklärt zwei Tage später: „Zu viel Windenergie in Norddeutschland sorgt für höheren Energiebedarf in BW.“ Man habe bis zu 740 Megawatt Kraftwerksleistung in der Schweiz aktivieren müssen, erläutert TransnetBW in dem Beitrag. „Im Südwesten ist es beinahe zu Stromabschaltungen gekommen“, resümiert agrarheute.com. Und die „FAZ“ schreibt Ende Januar, TransnetBW habe „Strom aus dem Ausland einkaufen“ müssen. Puh.

Windstrom verdrängt Dreckstrom?

Tatsächlich gab es nie auch nur den Hauch eines Versorgungsproblems. Der Stromverbrauch im TransnetBW-Gebiet, das in etwa Baden-Württemberg entspricht, liegt im fraglichen Zeitraum bei 7.000 Megawatt, deutlich niedriger als an Werktagen. Davon ist knapp die Hälfte erneuerbarer Strom aus Baden-Württemberg selbst: rund 1.000 Megawatt Windkraft, 600 Megawatt Biomasse und bis zu 1.500 Megawatt in Wasserkraft.

Besonders ist nur, dass das Windstromangebot in Norddeutschland so groß ist und deswegen die Börsenstrompreise so niedrig sind, dass das teurere Angebot konventioneller Kraftwerke kaum noch Abnehmer findet. Deswegen drosseln sie ihre (marktgetriebene) Stromerzeugung oder stellen sie gleich ganz ein. In Baden-Württemberg würden sie so an diesem Abend nur noch etwa 1.100 Megawatt erzeugen: Windstrom verdrängt Dreckstrom.

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Foto: energy-charts.de

Die Grafik zum großklicken

Die Strombörse berücksichtigt allerdings nicht, ob ausreichend Leitungen zur Verfügung stehen, um den verkauften Strom zum Kunden zu transportieren: Der Markt ignoriert die Physik. Und weil das Stromangebot so üppig und günstig ist an diesem Tag, greifen nicht nur Großverbraucher wie die Betreiber von Pumpspeicherkraftwerken kräftig zu, sondern auch Abnehmer aus dem Ausland.  Sie erstehen im fraglichen Zeitraum zwischen 13.000 und 15.000 Megawatt.

Sehr viel günstig erstandener norddeutscher Windstrom sucht nun einen Weg nach Süden: Nicht nur der Anteil, der den Kohlestrom in Baden-Württemberg ersetzen soll, sondern auch der für die Pumpspeicherkraftwerke und ein großer Teil des ins Ausland verkauften Stroms. In der Summe ist das mehr, als die Leitungen transportieren können.

Nach den geltenden Strommarktregeln sind nun die Netzbetreiber in der Pflicht, die Fehler des Marktes über einen sogenannten Redispatch zu korrigieren. Sie ordnen also an, dass Strom, der verkauft wurde, aber nicht transportiert werden kann, näher beim Kunden produziert werden muss. Indem etwa Windparks im Norden aus dem Wind drehen und im gleichen Umfang konventionelle Kraftwerke im Süden hochfahren. In der Regel sind das dieselben Kraftwerke, die an weniger windstarken Tagen marktgetrieben laufen würden. Der einzige Unterschied ist, dass ihr Betrieb nun nicht vom Stromabnehmer, sondern vom Netzbetreiber bezahlt wird. Der legt die Kosten dafür plus die Entschädigung für die Betreiber der abgeregelten Kraftwerke plus seine eigenen Kosten samt Gewinnaufschlag auf die Netzgebühren um.

An jenem Sonntagabend schaffen die Leitungen etwa 2.500 Megawatt nach Baden-Württemberg. Hinzu kommen die oben genannten lokal erzeugten 3.100 Megawatt Strom aus erneuerbaren Energien und 1.100 Megawatt aus fossilen Kraftwerken. Um den Stromverbrauch im TransnetBW-Gebiet zu decken, müssten demnach zusätzliche etwa 300 Megawatt ins Netz – etwa indem eines der gedrosselten Kohlekraftwerke auf Anweisung von TransnetBW kurzzeitig etwas mehr Strom produziert. Das passiert tagtäglich dutzendfach und wäre keine Meldung wert.

Weil aber auch für den ins südliche Ausland verkauften und für den von Pumpspeicherbetreibern erstandenen Windstrom Leitungskapazitäten fehlen, muss auch dieser Strom ersatzweise direkt im Süden produziert werden. Der Redispatch-Bedarf im TransnetBW-Gebiet steigt so von 300 auf 3.000 Megawatt an. Auch die ließen sich mit den vorhandenen Kraftwerken locker erzeugen. TransnetBW aber fordert für 740 Megawatt Schweizer Kraftwerke an – ein teurer „Redispatch im Ausland“, die App schlägt Alarm.

Anders als Netzbetreiber und Pressemeldungen suggerieren, ist der Strom, der auf Anforderung von TransnetBW in der Schweiz erzeugt wird, mitnichten für die Versorgung Deutschlands nötig. Im fraglichen Zeitraum, das zeigen Strommarktdaten, kauft die Schweiz vielmehr durchgängig 800 Megawatt Strom aus Deutschland ein. Physikalisch fließen sogar 2.000 bis 2.500 Megawatt aus Deutschland über die Schweizer Grenze, etwa um von dort nach Österreich weitergeleitet zu werden.  

Wasser den Berg hinauf pumpen

Für die hohen Redispatch-Kosten und den CO2-Ausstoß, die durch die Ersatzproduktion des Windstroms in fossilen Kraftwerken entstehen, sind also nicht der viele Wind, die Energiewende oder ein zu hoher Stromverbrauch in Baden-Württemberg verantwortlich. Schuld daran sind absurde Strommarktregeln, die darauf abzielen, möglichst viel Strom zu verkaufen – ganz egal, ob es dafür Leitungen gibt oder nicht. Die Kosten für die dann nötigen Ersatzmaßnahmen bürden sie den Stromverbraucher*innen in Deutschland auf – Speicherbetreiber und Stromkäufer im Ausland zahlen nichts.
 
So kommt es, dass Pumpspeicherkraftwerke im Schwarzwald am 15. Januar 200 bis 550 Megawatt billigen Windstrom an der Börse erstehen können, real aber teuren Kohlestrom aus mehreren eigens dafür laufenden Reservekraftwerken verbrauchen. Damit pumpen sie Wasser den Berg hinauf – finanziert von Verbraucher*innen, die der Netzbetreiber zur selben Zeit auffordert, ihr Handy nicht zu laden und den Sonntagsbraten kalt zu essen. Großkunden in der Schweiz und in Österreich versorgen sich an jenem Januarsonntag mit vielen Tausend Megawattstunden Strom quasi zum Nulltarif, der auf Kosten der hiesigen Stromverbraucher*innen in süddeutschen oder Schweizer Kraftwerken teuer ersatzproduziert werden muss, weil Leitungen für seinen Transport fehlen. Und TransnetBW, eine hundertprozentige Tochter des AKW-Betreibers EnBW, sät derweil per App-Alarm Misstrauen gegen die Energiewende und Windstrom.

Update

Aufgrund der Kritik an der App hat TransnetBW nach Fertigstellung des Artikels eine weitere Ampelfarbe eingeführt. In Situationen wie den im Artikel beschriebenen, in denen die App bisher wegen eines erhöhten Redispatch-Bedarfs auf "rot" sprang, zeigt sie künftig "orange" an. Dies soll den (falschen) Eindruck vermeiden, dass die Versorgungssicherheit in Gefahr sei. Am Problem, dass der Markt Strom z.B. ins Ausland verkaufen darf, für den es keine Leitungen gibt, und die Netzbetreiber diesen dann auf Kosten der deutschen Stromkund*innen noch einmal erzeugen, ändert sich dadurch nichts.

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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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