Schwenkt die neue Bundesregierung in der EU auf Pro-Atom-Linie um? Der SPD-Umweltminister widerspricht. Aber der Streit ist noch nicht ausgefochten.
Was die deutschen AKW angeht, so räumen CDU und CSU ziemlich schnell nach Wahl und Regierungsbildung das Feld. In einer ganzen Serie von öffentlichen Statements stellen sie klar, dass es weder einen „Rückbaustopp“ noch ein Wiederinbetriebnahme der Reaktoren geben wird – eine Anerkennung der Realität. 1 Wie aber positioniert sich die neue Bundesregierung unter Friedrich Merz auf EU-Ebene zur Atomkraft?
Länder wie Frankreich, die noch immer auf Atomkraft setzen, versuchen seit Jahren, Unterstützung für diese herauszuschlagen. Es geht um finanzielle Förderungen, günstige Kredite, staatliche Bürgschaften und garantierte Mindestvergütungen, die an sich unwirtschaftliche Atomprojekte rentabel machen sollen. Es geht darum, ob Atomstrom und Atomkraftwerke auf die von der EU vorgegebenen Ziele zum Ausbau der erneuerbaren Energien angerechnet werden, ob Atomstrom als „nachhaltig“ eingestuft und ob mit Hilfe von Atomstrom erzeugter „roter“ Wasserstoff als „grüner“ Wasserstoff gelabelt werden darf. Und es geht um regulatorische Privilegien wie einen Einspeisevorrang für Atomstrom – auch zulasten von Strom aus erneuerbaren Energien – und Erleichterungen bei der Genehmigung von Atomprojekten.
Deutschland hat sich diesen Bestrebungen in den vergangenen Jahren meist erfolgreich widersetzt. Mitte Mai aber berichtet die Financial Times unter Berufung auf deutsche und französische Regierungskreise, die neue Bundesregierung habe diesen Widerstand gegen Atomkraft nun aufgegeben. 2 In einem internen Papier, auf das sich Merz und Macron Anfang Mai geeinigt haben, heißt es, man wolle „die Diskriminierung von Atomenergie auf EU-Ebene beenden“. 3
CDU-Wirtschaftsministerin Katharina Reiche schließt Ende Mai auf Nachfrage sogar eine Förderung französischer Atomprojekte mit EU-Mitteln nicht aus, die zu einem Viertel aus deutschen Steuergeldern stammen. Umweltminister Carsten Schneider (SPD) widerspricht postwendend. „Äußerungen von einzelnen Mitgliedern der Bundesregierung, es gäbe hier eine neue Offenheit, sind Privatmeinungen“, unterstreicht er und stellt klar: Eine entsprechende Positionierung der Bundesregierung „gibt es nicht und wird es mit der SPD auch künftig nicht geben“.
Ein Regierungssprecher räumt kurz darauf ein, dass es keine neue Position zur Finanzierung von Atomprojekten aus dem EU-Haushalt gebe. Das Wirtschaftsministerium spricht in Bezug auf Reiches Äußerungen von einem „Missverständnis“. 4
Ist das Thema damit vom Tisch? Nein. Der Regierungssprecher hat deutlich gemacht, dass Gespräche zum Thema sowohl auf EU-Ebene als auch innerhalb der Koalition laufen. 5 Und die von Reiche und Merz verfolgte Linie, alle als „emissionsarm“ eingestuften Technologien – in ihren Augen auch Atomkraft – gleich zu behandeln („Technologieoffenheit“), läuft unterm Strich auf eine Gleichsetzung von Atomkraft und erneuerbaren Energien hinaus.
Atomkraft = erneuerbare Energien?
Eine solche Gleichsetzung ist mehr als absurd. Ein schwerer Unfall in einem Atomkraftwerk bedroht Leben und Gesundheit von Millionen Menschen, macht ganze Regionen auf Jahrzehnte hinaus unbewohnbar, raubt Wohnung, Heimat, Arbeitsplätze, verseucht das Trinkwasser, vernichtet Ernten und Existenzgrundlagen. Kein AKW der Welt ist gegen solche Unfälle gefeit, ganz zu schweigen von der (steigenden) Gefahr, die von einem gezielten Angriff auf ein AKW ausgeht. Der Katastrophenschutz wäre in jedem Fall heillos überfordert. Für die Schäden und Folgeschäden einer Atom-Katastrophe kommt keine Versicherung auf: Das Atom-Risiko tragen wir.
Zahlreiche Beinahe-Unfälle auch in Deutschland und Europa haben gezeigt, dass dieses Risiko real ist. Schon kleine Ereignisse in oder außerhalb eines AKW können in eine Katastrophe münden. In Biblis, in Brunsbüttel, in Forsmark, in Blayais und vermutlich an etlichen anderen Standorten auch war es bloßes Glück, dass es so weit nicht kam.
Schon der Uranabbau verseucht ganze Landstriche, hinterlässt radioaktive Abraumhalden und strahlende Giftbrühe, die größten Opfer sind oft indigene Völker. Die Strahlung aus dem AKW lässt schon im Normalbetrieb die Krebsraten rings um die Anlagen steigen. Die enorme Abwärme der Reaktoren heizt Atmosphäre und Flüsse auf, zwei Drittel der erzeugten Energie geht dabei verloren. Und für den Atommüll, der für Hunderttausende von Jahren strahlt, gibt es bis heute nirgends einen wirklich sicheren Platz.
Solaranlagen und Windräder verursachen keinen Super-GAU und hinterlassen keinen Strahlenmüll. Erneuerbare Energien sind zudem die günstigste Art, Strom zu erzeugen. Sie demokratisieren die Energieerzeugung. Und sie können Europa und die ganze Welt zuverlässig mit sauberer Energie versorgen.
Konkurrenten, nicht Partner
Vor allem aber sind erneuerbare Energien und Atomkraft Konkurrenten: wirtschaftlich, technisch und politisch. Geld, das in teure Atomprojekte fließt, fehlt für Investitionen in erneuerbare Energien und Energieinfrastruktur. Atomstrom verstopft die Leitungen für erneuerbaren Strom. Das Festhalten an Atomkraft behindert und verlangsamt den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Energiewende. Bestes Beispiel dafür ist der Verzicht auf weitere Ausbauziele für erneuerbare Energien (EU-Richtlinie „RED IV“), den Macron und Merz laut ihrem internen Papier offenbar anstreben. 6
Diese Widersprüche lassen sich nicht durch Gerede von „Technologieoffenheit“ ausräumen. Spätestens wenn im Sommer über den mehrjährigen EU-Finanzrahmen verhandelt wird, dürfte allen klar werden: Auch EU-Geld kann nur einmal ausgegeben werden. 7 Entweder für erneuerbare Energien und eine Energiewende, die Europa unabhängig und klimaneutral macht und den die EU technologisch in der Boom-Branche des Jahrtausends nach vorne bringt. Oder in hochgefährliche und teure Atomtechnik, die Abhängigkeiten zementiert und unter Klimaschutzaspekten zu ineffektiv ist und viel zu spät kommt.
Quellen
1 Welt, "Söder gibt bei Atomkraft auf", 2025.
2 Financial Times, "Germany drops opposition to nuclear power in rapprochement with France", 2025.
3 Spiegel, "Berlin findet Frankreichs Atomstrom jetzt klimafreundlich", 2025.
4 Table Media, "EU-Geld für Atom: Warum das Wirtschaftsministerium zurückrudert", 2025.
5 NTV, "Schneider und Reiche uneins über Atomkraft-Einstufung", 2025
6 Spiegel, "Berlin findet Frankreichs Atomstrom jetzt klimafreundlich", 2025.
7 NZZ, "Radikaler Kurswechsel – oder doch nicht? Die deutsche Atompolitik sorgt in Brüssel für Verwirrung", 2025.
weiterlesen:
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